Autismus ist für mich die Summe meiner neurologischen Auffälligkeiten. Ein Sammelsurium von Neigungen, die nur auffallen, weil sie nicht der überwältigenden Mehrheit entsprechen.
Früher bedeutete das vor allem Rückzug und Gefahrenvermeidung. Imitation und Anpassung. Die Diagnose „Asperger-Syndrom“ erhielt ich erst, nachdem ich von der Uni geschmissen wurde. Zuvor fehlte mir ein Oberbegriff. In meiner Selbstwahrnehmung war ich einfach nur anders. Das bedeutete von Anderen auf Dinge aufmerksam gemacht zu werden, die mir selbst nie aufgefallen wären.
In der Grundschule fragten mich meine Mitschüler einmal während einer Theaterprobe, warum ich immer so schaukelte. Ich konnte ihnen die Frage nicht beantworten. Genauso wenig, wie meine Mitschüler nicht beantworten konnten, warum sie nicht schaukelten. Aber diese Frage stellte ich ihnen nicht. Niemand hinterfragt das Gewöhnliche.
Heute weiß ich, es war eine typisch autistische Stereotypie. Eine kontrollierbare Form von Stressabbau. Die unterschwellige Botschaft meiner Mitschüler verstand ich allerdings schon damals: „Bitte bewege nur Körperteile, die auch wir bewegen. Drehe Däumchen, kratze dich am Hals, aber unterlasse diese Schaukelei oder wir zeigen mit dem Finger auf dich“. Später sollte es dann ein „… oder wir machen dein Leben zur Hölle!“ werden.
Doch ein flacher Affekt lässt sich nicht stundenlang überspielen. Meine Interessen vernachlässige ich auch nicht um jeden Preis. Leider drangen mich meine Eltern zu ihrer Vorstellung eines perfekten Bürgers.
Er spricht komisch? Der Logopäde soll ihn reparieren. Er läuft komisch? Der Orthopäde soll ihn reparieren. Er verhält sich komisch? Der Schulpsychologe soll ihn… Nein, sollte er nicht.
Meine Mitschüler erkannten, dass ich Dinge machte, ohne sie zu hinterfragen, um nicht ausgegrenzt zu werden. Ich ging von einer guten Gesinnung in jedem Menschen aus und meine Gutgläubigkeit wurde gnadenlos ausgenutzt. Ein schizoid-paranoides Verhalten folgte.
Heute haben sich die sozialen Probleme verringert. Erwachsene sind weit weniger grausam. Ich komme ohne psychiatrische Medikation aus. Nicht zuletzt dank eines pro-autistischen Internets.
So kann ich häufiger meine Stärken auszuspielen. Mir springen beispielsweise in Online-Artikeln Buchstabendreher sofort ins Auge. Über die schlampige Arbeit der Redakteure rege ich mich dann so sehr auf, dass für den eigentlichen Inhalt keine Konzentration mehr bleibt und ich einen wahrscheinlich miesen Artikel verpasse, über den ich mich sonst noch mehr aufgeregt hätte.
Ernst beiseite, durch die Folgen des Zusammenpralls meines kleinen autistischen X-Wings mit den großen neurotypischen Sternenzerstörern verlor ich meinen Studienplatz, bin erwerbslos und auf Hilfe angewiesen. Die in meiner Schulzeit ausgelösten Reaktionen und Schutzmechanismen tun ihr Übriges.
Allerdings ist mein Autismus selbst weder eine zermürbende Krankheit, die medikamentös behandelt oder vernichtet werden müsste, noch eine überlegene Superkraft vom Planeten Melmac, mit der mein Verdauungsfortschritt durch die Tonlage eines Rülpsers ersichtlich wäre. Nein, meine autistischen Interessen, Routinen, Wahrnehmungen und Zwänge basieren auf Dingen, die jeder Mensch besitzt. Bei mir variiert lediglich die Art oder Intensität dieser Dinge. Wie eine große Spachtel, die vor meiner Geburt über das frische Bild meines Bauplans kratzte und Teile davon in eine bestimmte Richtung verzerrte.
Das Resultat ist keine binäre Welt mit krassen Schwarz-Weiß-Gegensätzen, sondern ein weites Feld mit viel grau. Manchmal heller, manchmal dunkler. Leider neigen viele Menschen dazu ein dunkelgrau als schwarz zu sehen, während ihr eigenes hellgrau ihnen weiß erscheint.
Das ist ein Problem, denn ich werde als inhomogenes Teilchen wahrgenommen. Als ein kleiner Öltropfen, der in einem sauberen Meer nichts zu suchen hat. Und ich kann die Anderen nicht so ignorieren, wie sie es könnten. In einer NT-Welt bin ich von eNTen umzingelt und abhängig. Die Mehrheit scheut den Aufwand mir eine kommunikative Extrawurst zu braten. Oder würdest du als Gewitterblitz deine wertvolle Zeit mit artistischen Pirouetten am Himmel vergeuden, wenn es keinen deutlichen Mehrwert für dich hätte?
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus“.
Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du in diesem Artikel.
Maskenwald twittert und betreibt ganz frisch einen Blog.