Was ist Autismus?

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Manchmal, wenn ich mit anderen Menschen unterwegs bin, kommt das Thema Autismus auf. Häufig fallen dann Aussagen wie „Das sind doch die, die diese tollen Fähigkeiten haben. Die man mit dem Hubschrauber über eine Stadt fliegt und dann können Sie alles komplett aus dem Gedächtnis zeichnen.“
Leider ist das keine Erklärung dafür, was Autismus ist, sondern hat viel mehr mit dem Savant-Syndrom zu tun. (Savants sind Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügen, die man auch Inselbegabungen nennt, aber in vielen anderen Bereichen nur durchschnittlich, bis unterdurchschnittlich begabt sind.) Es gibt zwar viele Savants die auch Autist*innen sind, aber nur sehr wenige Autist*innen, die auch Savants sind.

Was Autismus ist, lässt sich leider nicht in einige Sätzen zusammenfassen. Autismus funktioniert nicht wie ein IKEA-Möbel, bei dem man die einzelnen Teile gemäß der Anleitung zusammensetzt und wenn kein Teil fehlt und die Anleitung stimmt, kommt am Ende die Schrankwand „Autist*in“ dabei raus. Stattdessen ist Autismus ein Sammelbegriff für verschiedene Beeinträchtigungen und Besonderheiten, die alle über gewisse Gemeinsamkeiten verfügen. Aus diesem Grund wird der Begriff des Autismus zunehmend von der Bezeichnung „autistisches Spektrum“ oder „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) abgelöst.

Die Gemeinsamkeiten der Besonderheiten innerhalb des Autismus-Spektrums lassen sich im Wesentlichen in zwei große Bereiche unterteilen. Einer dieser Bereiche ist die Wahrnehmung, welche sich bei Autist*innen von Nicht-Autist*innen unterscheidet. Bei den meisten Menschen funktioniert Wahrnehmung so, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was das Gehirn an Informationen/Reizen aufnimmt wird, und dem, was davon bewusst wahrgenommen wird. Bevor das was wahrgenommen wird, auch bewusst wahrgenommen wird, führt das Gehirn eine Vorauswahl durch um die Komplexität zu reduzieren. Dabei werden viele Dinge von vornherein aussortiert. Dies betrifft vor allem Details, Situationen die in bekannte Muster fallen und Wahrnehmungen die für die aktuelle Situation scheinbar irrelevant sind. Das ist eine ziemlich nützliche Funktion da sie ermöglicht, dass die meisten Menschen in der Lage sind, ihre Ziele zu erreichen ohne auf dem Weg vom Muster des Straßenbelags oder von dem was die Müllabfuhr am Straßenrand macht abgelenkt zu werden. Und zwar, ohne sich dafür stark konzentrieren zu müssen. Bei Autist*innen funktioniert diese Vorauswahl oft nicht, oder nur mit Einschränkungen. Sie nehmen häufig zum Beispiel das Muster des Straßenbelags, die Müllabfuhr, die Schaufensterauslage, das vorbeifahrende Auto, die laufenden Motoren und/oder die Angebote des Discounters bewusst wahr. Um trotzdem ihr Ziel genauso zu erreichen, müssen sie es schaffen aus dieser Vielzahl von Informationen das auszufiltern, was für das Erreichen ihres Zieles nicht benötigt wird. In einigen Fällen kann das soweit gehen, dass Autist*innen ihre Wege nicht ohne Unterstützung zurücklegen können. In den anderen Fällen erreichen sowohl Autist*in, als auch Nicht-Autist*in am Ende ihr Ziel. Der Unterschied ist, dass die eine Person einen entspannten Nachmittagsspaziergang hatte, während die andere sehr viel Konzentration und Energie aufwenden musste um das Ziel zu erreichen. Zum Themenbereich der Energie habe ich an anderer Stelle noch eine ausführlichere Erklärung geschrieben. Da das Konzentrieren auf die wichtigen Reize Energie kostet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wenn Autist*innen nicht mehr genügend Energie zum konzentrieren haben, alle Reize gleichzeitig und ungefiltert da sind. Dieser Zustand der Reizüberflutung kann bis hin zur totalen Überforderung führen. In diesem Fall spricht man auch von einem „Overload“.

Der zweite Bereich der Gemeinsamkeiten ist alles was sich unter dem Begriff soziale Interaktion zusammenfassen lässt. Eines der bekanntesten Klischees über Autist*innen ist, dass Sie immer alles wörtlich nehmen. Tatsächlich stimmt das oft. Das liegt daran, dass Autist*innen häufig ein Problem damit haben Informationen wahrzunehmen, welche sich nicht auf der Sachebene befinden, wie zum Beispiel Mimik, Gestik oder Tonfall. Am deutlichsten wird das bei Scherzen, Ironie oder Sarkasmus, bei denen Menschen das Gegenteil von dem sagen was Sie meinen, die komplette Umkehr der Bedeutung aber nur durch ihren Tonfall oder durch ihre Mimik deutlich machen. Diese Probleme beschränken sich aber nicht nur auf Sarkasmus. Problematisch können beispielsweise auch Redewendungen sein. Redenwendungen basieren in der Regel auf einer Metapher und die eigentliche Aussage steckt in dem dahinterstehenden Bild. Bei Menschen die sich hauptsächlich auf die Sachebene einer Nachricht konzentrieren kann die Frage, ob einem „etwas unter den Nägeln brennt?“ zu sehr irritierten Blicken auf die eigenen Fingernägel führen. Genauso ist die Frage, warum jemand einen Storch braten sollte, insbesondere da viele Störche auf der Liste bedrohter Tierarten stehen, bis heute ungeklärt. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Beispiele für Aussagen, die etwas anderes meinen, als die Sachebene vermuten lässt. Beispielsweise beinhaltet „Isst du das noch?“ oft die versteckte Frage „Darf ich das haben?“. „Ich geh jetzt ins Bett“ kann je nach Gesichtsausdruck, Tonfall, Situation und Vorgeschichte neben der Sachebene noch jede weitere Bedeutung zwischen „Komm mit mir ins Bett.“ bis hin zu „Du schläfst heute auf der Couch!“ haben.

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Trennung ob ein Problem von der Reizwahrnehmung oder der sozialen Interaktion kommt, selten exakt möglich ist. Eines der häufigsten Merkmale, mit denen Autist*innen beschrieben werden ist der fehlende oder seltsam wirkende Blickkontakt. Intuitiv ein Problem in der sozialen Interaktion. Tatsächlich beschreiben aber sehr viele Autist*innen, dass sie nicht in die Augen schauen, weil sich dort so viel Mimik abspielt, dass sie die vielen Informationen nicht alle Verarbeiten und sich zeitgleich auf das Gespräch konzentrieren könnten. Letzten Endes ist es in der Praxis aber wohl egal ob ich die Aussage „Ich gehe jetzt ins Bett.“ nun falsch verstanden habe, weil mir die Details der Mimik entgangen sind, oder weil mir die Bedeutungsebene entgangen ist. Für den Umstand, dass ich grundlos auf der Couch geschlafen habe, ist das letzten Endes wohl auch egal.

Wie genau sich die Symptome innerhalb dieser Themenbereiche konkret ergeben kann sehr unterschiedlich sein. Dies bedeutet, dass es innerhalb des autistischen Spektrums sehr große Unterschiede gibt, wie sich Autismus individuell äußert. Viele Menschen sprechen hier von „leichtem“ und „schwerem“ Autismus, da man aber nicht immer alle Probleme von außen sehen kann, dürfte eine Unterscheidung zwischen „auffälligem“ und „unauffälligerem“ Autismus wohl näher an der Lebensrealität vieler Autist*innen sein. Häufig werden auch einzelne Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums mit einer bestimmten Beeinträchtigung gleichgesetzt. Diese Diagnosen sind nach aktueller Definition das Asperger-Syndrom, der Kanner/frühkindlicher-Autismus und der atypische Autismus.

Dabei wird das Asperger-Syndrom in der Regel als leichter Autismus oder manchmal sogar als „nicht richtiger“ Autismus bezeichnet, bei dem die Symptome nicht so sehr auffallen. Dabei sollen Asperger-Autist*innen manchmal etwas sonderlich sein und keinen Humor haben, im Wesentlichen aber ohne weitere Unterstützung durch den Alltag kommen.
Kanner-Autismus ist dabei das genaue Gegenteil, bei dem die Menschen nicht-sprechende, kognitiv beeinträchtigte Menschen vor Augen haben. Oft auch in Abgrenzung zu Asperger „richtiger Autismus“, genannt. Kanner-Autist*innen sind in der Wahrnehmung der meisten Menschen allein zu nicht viel in der Lage und auf ständige Betreuung angewiesen.

Tatsächlich erfolgt die Unterscheidung der einzelnen Diagnosen im Autismus-Spektrum nicht nach dem Maß der Alltagskompetenz, das die Autist*innen aufbringen, sondern hauptsächlich danach in welchem Alter sich die ersten Symptome gezeigt haben und wann bzw. wie die Sprachentwicklung erfolgt. Dabei besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wenn sich die ersten Symptome früher zeigen, wie es oft bei Kanner-Autismus der Fall ist, sich auch mehr sichtbare Auswirkungen auf die Alltagskompetenz ergeben. Eine Garantie hierfür gibt es nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es die beiden zuvor beschriebenen Ausprägungen von Autismus, wie die meisten Menschen sie mit Kanner und Asperger assoziieren, nicht gibt. Es gibt Autist*innen, die ohne Unterstützung ihren Alltag nicht bewältigen könnten, genauso wie Autist*innen, die in den allermeisten Situationen keiner besonderen Unterstützung bedürfen. Und es gibt auch jede einzelne Ausprägung zwischen diesen beiden Extremen. Wie viele Probleme eine Autist*in tatsächlich hat und wie es ihr geht lässt sich dabei aber nicht an der Diagnose oder einem Eindruck von außen festmachen. Autist*innen, die eine eigene Wohnung, eine Arbeitsstelle und ein geregeltes Leben haben wirken in der Regel so, als hätten sie überhaupt keine Probleme. Was man als Außenstehende*r jedoch nicht sehen kann ist, ob diese Person so viele Sozialkontakte hat, wie sie sich wünschen würde, oder wie sehr es sie stresst, Arbeit und Wohnung aufrecht zu erhalten.

Neben den Vorurteilen zu den Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums und den angeblichen Spezialfähigkeiten von Autist*innen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Vorurteile gegenüber Autist*innen, welche immer wieder auftauchen. Eines ist zum Beispiel, dass alle Autist*innen introvertiert und zurückhaltend auftreten. Dies stimmt für viele auch, jedoch gibt es genug Autist*innen, bei denen das genaue Gegenteil der Fall ist. Es kann durchaus vorkommen, dass sich diese eine Person, die eine soziale Situation komplett an sich reißt und allen Anwesenden von seinem Hobby erzählt ohne irgendwen auch nur Ansatzweise zu Wort kommen zu lassen, ebenfalls im Autismus-Spektrum befindet.
Ein anderes Vorurteil ist, dass Autist*innen alles immer auf die genau gleiche Weise erledigen müssen. Dieses Vorurteil stimmt häufig tatsächlich, auch wenn es in der Regel stark übertrieben dargestellt wird. Tatsächlich gibt es viele Autist*innen, die einzelne Tätigkeiten immer auf die gleiche Weise erledigen. Einfach, weil es so deutlich weniger Konzentration erfordert und so mehr Energiereserven für die restlichen anstehenden Aufgaben übrig sind. Wenn so eine Routine in einer Situation fehlschlägt, ist dies in der Regel aber kein Untergang, bei der sich alle Autist*innen immer auf den Boden setzen und apathisch vor und zurück wippen. Viele Autist*innen können dann umplanen, es kostet nur deutlich mehr Energie. Auffällig problematisch wird es dann, wenn diese Fähigkeit aufgrund der konkreten Ausprägung des Autismus oder aufgrund der fehlenden Energiereserven fehlt, oder sehr viele Routinen auf einmal wegbrechen. Manchmal kann man auch Routinen für den Wegfall von Routinen entwickeln. Beispielsweise kann man eine Routine für den Fall, dass der regelmäßig genommene Zug ausfällt oder verpasst wurde, entwickeln. Es gibt aber ebenso Situationen oder Ausprägungen des autistischen Spektrums, in denen das Bedürfnis nach Sicherheit durch Routinen so groß ist, dass eine andere Cornflakes-Marke zum Frühstück bereits eine schwere Störung des Tagesablaufs bedeuten kann, deren Überwindung zu viel Konzentration und Energie kosten kann, oder für manche Autist*innen sogar unmöglich ist.

Diese „kurze Erklärung“ was Autismus eigentlich ist, kann nur noch mit viel wohlwollen als kurz betrachtet werden. Trotzdem ist sie nicht mehr als nur ein Überblick, bei dem ich mit Sicherheit Dinge ausgespart habe, welche andere Menschen als wichtig empfinden würden. Das Autismus-Spektrum ist ein weites Feld, bei dem es innerhalb von einer Reihe von Grundgemeinsamkeiten sehr viele verschiedene Ausprägungen gibt, wie sich diese nun konkret äußern können. Das führt dazu, das jede Ausprägung innerhalb des Spektrums so individuell ist, wie die Autist*in selbst. Statt den vorgefertigten Bauteilen für eine Regalwand hat man es hier eher mit einem Lego-Set zu tun. Mit Steinen in verschiedenen Formen und Farben, bei denen sich aus den gleichen Steinen vollkommen unterschiedliche Dinge bauen lassen. Und egal ob nun ein Auto oder ein Raumschiff daraus gebaut wurde, die einzelnen Steine für sich betrachtet sind immer wieder die, die man schon kennt.


Dieser Text ist ursprünglich als Gastbeitrag für Indianermädchen & Wildfang erschienen.

5 thoughts on “Was ist Autismus?”

  1. mo jour

    Vielen Dank, das ist super beschrieben, wie Kino im Kopf.
    Die Metapher mit den Legosteinen finde ich erstaunlich schön, und sehr sehr zutreffend.
    Würdest du dem zugrunde legen, dass NTs einen anderen Lego-Bausatz haben? Oder könnte man das Bild ausweiten und sagen:
    Ganz egal ob das Zusammengebaute am Ende aussieht wie ein Ferrari oder wie eine Apollo12 – die einzelnen Steine sind doch am Ende die wie bei jedem Menschen??
    Alles Gute!

    1. mo jour

      Ach, übrigens, ganz vergessen:
      Deine reizarme Lesevariante halte ich für eine absolut gelungene Idee und Ausführung.
      Danke dafür!

  2. Sandor Friederich

    Sehr gut und schön geschrieben. Ich selber wurde 1976 diagnostiziert und bin immer noch auf der Suche wie ich funktioniere. Ich habe was den Autismus anbelangt eine sehr lange Odyssee hinter mir. Auch ich bin heute der Meinung, dass es keine „leichte“ Form des Autismus gibt. Obwohl mir das 1976 so kommuniziert wurde. Aus meiner heutigen Sicht war diese Aussage sogar ein klarer Fehler. Hätten die Ärzte dies damals kommuniziert währe mir in meinem Leben wahrscheinlich vieles erspart worden. Heute kommt es mir manchmal so vor, es wäre besser ich würde nicht reden, denn im allgemeinen lautet die Aussage: „Du redest ja , du kannst kein Autist sein“ oder zumindest in diese Richtung! Grüsse Sandor Friederich

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