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Die Wissenschaft von ABA

Dieser Artikel vertieft einem Teil meiner Recherchen für den Text „Schau mir in die Augen, Kleines“, der sich weitgehender mit der Thematik ABA befasst und in der ersten Ausgabe des Magazins N#mmer erschienen ist.


Eines der hartnäckigsten und schlagkräftigsten Argumente, denen man in der Diskussion um ABA immer wieder begegnet, ist die Behauptung, dass die Applied Behavior Analysis die einzige wissenschaftlich fundierte und bewiesene Therapieform gegen Autismus sei.
Meist bleibt diese Behauptung unbelegt im Raum stehen, manchmal folgt die weitere Behauptung, dass dutzende Studien die Wirksamkeit von ABA belegen, in den seltensten Fällen werden konkrete Studien angeführt.

Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Die meisten Leute akzeptieren das, denn wenn eine Studie etwas behauptet, dann ist es ja schließlich wissenschaftlich bewiesen. Doch ganz so ist das eben nicht. Eine Studie macht noch keine Fakten, sondern ist zunächst erst mal die Dokumentation einer Untersuchung. Darin wird zunächst dargelegt, welche Fragestellung untersucht wurde, mit welchen Methoden diese Fragestellung untersucht werden sollte, wie die Untersuchung durchgeführt wurde, welche Ergebnisse dabei erzielt wurden und abschließend erfolgt eine Interpretation dieser Ergebnisse. Anschließend wird die Studie in Form eines wissenschaftlichen Papers veröffentlicht. Im Rahmen der Veröffentlichung werden von anderen Wissenschaftlern die Methodik, der Versuchsaufbau und die Ergebnisse der Studie analysiert und auf Fehler geprüft. Dabei wird aber lediglich überprüft, ob die Methoden der Studie geeignet sind, die Fragestellung zu beantworten, oder ob im Rahmen der Studie grobe fachliche Fehler gemacht wurden. Eine Überprüfung des wissenschaftlichen Inhalts findet dabei nicht statt.

Dies bedeutet, dass eine veröffentlichte Studie zunächst einmal keinen wissenschaftlichen Beweis für egal welche Behauptung liefern kann. Der Grund hierfür ist der Fehler 1. Art, der sogenannte Alpha-Fehler. Dieser besagt, dass man sich bei der Übertragung der stichprobenartigen Versuchsergebnisse auf die Allgemeinheit immer irren kann, da es keine Garantien gibt, dass die Stichprobe auch repräsentativ für die Allgemeinheit ist.1 Um diesen Alpha-Fehler ausschließen zu können, benötigt man also naheliegenderweise mehrere voneinander unabhängige(!) Studien, die zum gleichen Schluss kommen, um das Ergebnis als wissenschaftlich belastbar einzustufen. Somit muss jede wissenschaftliche Studie alle Daten zu den Versuchsbedingungen beinhalten, die benötigt werden, um den Versuch zu wiederholen. Diese Replizierbarkeit ist einer der Eckpfeiler wissenschaftlichen Arbeitens.

Damit ein Ergebnis belastbar ist, braucht es jedoch mehr als nur zwei Studien, die zum gleichen Schluss kommen. Denn dem Alpha-Fehler zufolge muss man nur genug Studien durchführen, um an irgendeinem Zeitpunkt zwei Studienergebnisse mit dem gleichen, falschen, Ergebnis zu erreichen. Die Anzahl der Studien mit diesem Ergebnis muss daher auch in den Bezug zu den insgesamt durchgeführten Studien gesetzt werden. Diesen Zweck erfüllen sogenannte Meta-Studien. Sie analysieren die Ergebnisse einer größeren Anzahl von Studien, bewerten die Methoden und Ergebnisse dieser Studien kritisch und treffen auf Grundlage dieser wesentlich größeren Datenbasis Schlussfolgerungen.2

Der wissenschaftliche Beweis für ABA

Um sinnvoll beurteilen zu können, ob ABA nun tatsächlich bewiesen ist, benötigt man also sinnvollerweise eine Meta-Studie, die die immer wieder angeführten Studien kritisch hinterfragt. Im Rahmen meiner Recherchen hatte ich das Glück, eine Meta-Studie zu finden, die sich mit genau dieser Fragestellung beschäftigt, ob eine Art der frühen Verhaltenstherapie für Autismus als wissenschaftlich bewiesen gilt.3

Dabei stellt Gernsbacher zunächst fest, dass die Behauptung von ABA als wissenschaftlich bewiesene Behandlungsmethode weit verbreitet ist. Dies geht soweit, dass 1999 in einer durch die Stadt New York unterstützen Publikation vor anderen Therapieformen gewarnt wurde, die wissenschaftlich bewiesenen Formen Zeit stehlen. Als Beleg für die Wissenschaftlichkeit führen die Autoren ein Rechercheergebnis aus 232 Artikeln an. Von diesen 232 Artikeln waren jedoch nur fünf Artikel in der Lage, die Kriterien der Autoren für einen ausreichenden Beweis zu erfüllen. Diese fünf Artikel basierten dabei auf vier Studien. 4 Diese vier Studien wurden veröffentlicht von:

  • Loovas (1987)
  • Birnbrauer & Leach (1993)
  • Smith et al. (1997)
  • Sheinkopf & Siegel (1989)

Im weiteren wird festgestellt, dass nur die Studien von Loovas und Birnbrauer & Leach überhaupt einen Experimentalaufbau mit Kontrollgruppen 5 durchgeführt hatten. Jedoch war auch in diesen beiden Studien die Zuweisung zu den Kontroll- und Testgruppen nicht zufällig6 und somit anfällig für eine (unbewusste) Manipulation der Ergebnisse durch die Mitarbeiter. Diese methodische Schwäche im Versuchsaufbau schwächt die Aussagekraft aller Ergebnisse, die aus diesen Studien gewonnen werden können.7

Die Ergebnisse der ersten wirklich belastbaren Studie mit zufallsbasierten Kontrollgruppen wurden im Jahr 2000 von Smith Groen und Wynn veröffentlicht. Diese Studie basierte auf 28 Kindern, im Alter von 41 Monaten bis 117 Monaten. Davon erhielten 15 Kinder eine ABA-Behandlung nach Loovas mit 25h/Woche und 13 Kinder wurden nach den Wünschen ihrer Eltern behandelt. Die Beurteilung der Kinder erfolgte in den Kategorien Intelligenz, schulische Leistungen, Sprache, sozioemotionale Fähigkeiten sowie angepasste Fähigkeiten.8

Das Ergebnis kann als ernüchternd bezeichnet werden. Nur zwei der intensiv trainierten Kinder erreichten einen Zustand, in dem sie einen IQ über 85 und eine Regelbeschulung ohne weitere Unterstützung erreichten. Dies liegt deutlich unter den 47 % der Kinder, die laut Loovas dieses Ziel erreichen sollten. Von allen Faktoren, die beobachtet wurden, konnten nur im Rahmen der Intelligenztests und der schulischen Leistungen überhaupt signifikante Unterschiede beobachtet werden.9 Die Macher dieser Studie kommen zum Schluss, dass die Bezeichnung von ABA als Heilung „misleading and irresponsible“10 also irreführend und unverantwortlich ist. Gernsbacher selbst kommt zur Schlussfolgerung, dass es an uns allen liegt, die Wege zu dem zu finden, was Eltern als Wunder bezeichnen, dabei sollten wir vorsichtig sein, einen Weg als wissenschaftlich erwiesen zu bezeichnen.11

Nach einer Betrachtung der Ergebnisse der Meta-Studie wird deutlich, warum eine Studie allein noch keinen Beleg für irgendetwas liefern kann. Von  fünf Studien erfüllte letzten Endes nur eine einzige überhaupt wissenschaftliche Kriterien und wich dabei deutlich von dem ab, was bis dahin als Fakt benannt wurde. Somit ist ABA, mit einer methodisch korrekten Studie, weit entfernt davon, als unumstößlich wissenschaftlich erwiesen dazustehen. Dafür bräuchte es noch viele weitere, wissenschaftlich korrekte, Studien, welche die Ergebnisse belegen. Die Richtung, in welche die Ergebnisse von Smith et. al. dabei jedoch weisen, lassen zudem erhebliche Zweifel an den Heilungsversprechen von ABA aufkommen.

Und neuere Studien?

Die zuvor zitierte Studie entstammt aus dem Jahr 2003. So hat sich seitdem sicherlich einiges in der wissenschaftlichen Landschaft rund um ABA geändert. So fand ich im Rahmen meiner Recherche eine weitere Meta-Studie von Nienke Peters-Scheffer aus dem Jahr 2007,12 die zu einem wesentlich positiveren Ergebnis in Bezug auf ABA-basiertes Training kommt und sich dabei auf viele neuere Studien beruft.13 Auch die zuvor betrachteten Studien von Smith und Sheinkopf werden in diesem Rahmen erneut betrachtet. Im Rahmen dieser Studie bescheinigt Peters-Scheffer ABA-basierten Trainings moderate bis große Auswirkungen auf IQ und angepasste Fähigkeiten.14 Diese Schlussfolgerungen stellt sie jedoch in den Kontext eines einschränkenden Faktors. So stellt sie fest, dass auch 2007 die Studie von Smith als einzige Studie aus vollkommen zufällig ausgewählten Studiengruppen besteht.15 Darüber hinaus führt sie eine ganze Liste von beispielhaften methodischen Problemen an, die Studien in diesem Bereich zeigen: „small sample sizes, non-randomized assignments to groups, non-uniform assessments protocols, use of quasi-experimental designs, lack of equivalent groups, lack of adequate fidelity measures, unknown characteristics of comparison conditions, and selection bias“16

Mit dieser langen Liste an methodischen Schwachstellen ist es fragwürdig, warum überhaupt irgendeine dieser Studien für eine Meta-Studie in Betracht gezogen wurde, da zum Beispiel

  • die kleine Stichprobengröße („small sample size“) eine Verallgemeinerung der Ergebnisse nur schwer möglich macht,
  • die fehlende Zufälligkeit in der Verteilung („non-randomized assignments to groups“), sowie die voreingenommene Auswahl („selection bias“) das große Risiko von (unbewussten) Manipulationen birgt, sowie
  • Unbekannte Vergleichskriterien („unknown characteristics of comparison conditions“) eine Reproduzierbarkeit der Studie unmöglich machen.

Diese lange Liste von Kritikpunkten wird von der Autorin jedoch nicht weiter kommentiert, sondern sie geht zu der Schlussfolgerung über, dass ABA-basierte Therapien trotzdem funktionieren,17 unter der vollkommenen Ignoranz der Tatsache, dass die Datenbasis, auf der sie das schlussfolgert, als wissenschaftlich höchst zweifelhaft bezeichnet werden muss.

Da auch die neuere Meta-Studie als einzige tatsächlich belastbare Studie Smith et al. von 2000 anführt, bleibt trotz der neueren Datenbasis der bereits gezogene Schluss übrig, dass für ein fundiertes Urteil über die wissenschaftliche Belegbarkeit von ABA weitere wissenschaftlich korrekte Studien benötigt werden und bis dahin viel dafür spricht, dass die Wirksamkeit von ABA deutlich hinter dem zurück bleibt, was in der Vermarktung versprochen wird.


Anmerkung: Die zitierten Meta-Studien können in englischer Sprache unter dem Link in den Quellen im Volltext heruntergeladen werden. Dort finden sich auch weitere Informationen zu den einzelnen Studien sowie die Originalquellen hierfür. Die den Studien entnommenen Informationen wurden mit der entsprechenden Seitenzahl gekennzeichnet.

Ein Tag in meinem Leben

Der Text, der unter dieser Einleitung steht ist für ein Projekt des Blogs dasfotobus entstanden, bei dem möglichst viele Autisten einen normalen Tag in ihrem Leben beschreiben sollen. Die Posts die bereits veröffentlicht wurden könnten unterschiedlicher nicht sein. Wer mitmachen möchte findet alle Informationen die er dazu braucht hier.

Der Text im Orginal auf dasfotobus.


Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss, dass die Uhr es ernst meint und es tatsächlich erst fünf Uhr morgens ist. Erfahrungsgemäß ist das nicht die beste Zeit, um wieder einschlafen zu können. Ich verlasse also das Bett, um aus meinem Schaukelstuhl heraus die Liste der Mails abzuarbeiten, die sich in der letzten Woche im Postfach des Blogs angesammelt hat, und dabei eine Menge Kaffee zu konsumieren. Währenddessen werden vor meinem Fenster die Asche und die Gäste der gestrigen Grillparty zusammengefegt. Die nächsten anderthalb Stunden sind geprägt von Empfehlungen für Diagnostiker und dem Ausräumen von Missverständnissen zu meinen Texten.

Gemeinsam mit meinem MP3-Player und meiner Sonnenbrille bin ich auf dem Weg in die 9-Uhr-Vorlesung. Leute, bei denen ich schwöre, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, grüßen mich. Ich grüße zurück. Als mir die ersten bekannten Gesichter begegnen, nehme ich die Kopfhörer heraus und ersetze meinen Standard-Gesichtsausdruck durch so etwas Ähnliches wie ein Lächeln, um mir die Frage zu ersparen, warum ich so mies drauf bin.

Zusammen mit einigen Kommilitonen bin ich auf dem Weg, den überfüllten Seminarraum gegen die überfüllte Mensa einzutauschen. Während irgendein Kommilitone von seinem Partywochenende erzählt, verarbeite ich noch die Aussicht auf eine gerade angekündigte mündliche Prüfung, die aber “nur ganz kurz und ganz entspannt sein wird”. Nachdem ich noch eine halbe Stunde unter einer brummenden Lampe in der Mensa verbrachte, komme ich zu dem Entschluss, vor der nächsten Vorlesung besser noch eine Weile den Kopf auf einer Tischplatte abzulegen. Dazu Beethoven und es bestehen realistische Chancen, dass ich nach der nächsten Vorlesung mehr als meinen eigenen Namen weiß. Die Frage, wie egal es mir sein sollte, wie das auf meine Kommilitonen wirkt, habe ich bis heute nicht abschließend für mich geklärt.

Nach zwei weiteren Stunden Vorlesungsnachbereitung und dem Nachlesen meiner Twittertimeline, lasse ich den Abend gegen Mitternacht mit ein paar Folgen M*A*S*H ausklingen. Dass ich die Folgen mitsprechen kann, spricht eher für als gegen die Serie. Während die Vorspannmusik in meinem Zimmer anklingt, wird der Grill vor meinem Fenster wieder aufgebaut.

Hawkeye ist Blogger und Podcaster, der seit einigen Jahren (meistens) rund um Autismus bloggt und podcastet. Was sonst noch in seinem Leben stattfindet, kann man auch auf Twitter lesen.

Interview: Wir können reden!

Mein Verhältnis zu Medien im Allgemeinen ist ein recht spezielles. Medienkontakte auf Augenhöhe sind selten und Journalisten, unabhängig ihrer Mediengattung, die bereit sind Vorurteile abzubauen, noch seltener. In der letzten Woche hatte ich das Glück, im Rahmen eines Berichts über den Schattenspringer von Fuchskind, mit einem dieser seltenen Journalisten ein Interview zu führen. Ich sprach mit Florian Christner vom Bayernkurier darüber, was es eigentlich mit diesem ominösen Autismus auf sich hat und was an diesen ganzen Vorurteilen dran ist. Das Interview ist am 7. Juni 2014 im Bayernkurier erschienen, aber für alle die den Bayernkurier nicht abonniert haben, darf ich das Interview hier in voller Länge veröffentlichen.
Die (leicht gekürzte) Online-Version des Interviews ist vier Wochen lang auf der Seite des Bayernkuriers zu finden.

Das Interview lesen

Podcast!

Diejenigen unter euch, die mir in den diversen sozialen Netzwerken folgen, werden es vermutlich schon mitbekommen haben; für alle anderen gibt es nun eine kleine Werbeunterbrechung:

Zusätzlich zum Realitaetsfilter gibt es jetzt noch eine Podcast-Auskopplung, bei der sich trotz studienbedingter Startschwierigkeiten mittlerweile einige Folgen angesammelt haben.  Diese besteht aus mehreren Formaten. Zum einen eine Reihe, bei der Cris und ich uns mehr oder minder regelmäßig zu verschiedenen Themen aus dem Autismus-Spektrum austauschen, zum anderen interviewe ich verschiedene Personen, die mit Autismus zu tun haben.

Zu allen Folgen

Zu allen Folgen „Cris & Hawk

Zu allen Folgen „Hawk spricht mit …

P.S.:

Besonders ans Herz legen möchte ich euch die aktuell letzte Folge „rf007 – Hawk spricht mit Jörn de Haen„, bei der ich mich mit Jörn über Therapie, Forschung, Diagnostik und einige weitere Themen unterhalte. Wem der Name bekannt vorkommt: Jörn schrieb bereits vor einiger Zeit einen Gastartikel.

Angriff der Killerautisten

Mit einem Timing, das nicht besser hätte sein können, waren Wendelherz und ich gestern eingeladen worden, gemeinsam mit @ennomane und @astefanowitsch einen Podcast aufzunehmen.

Ausgehend vom Spiegel-Artikel sprechen wir über diverse Themen rund um Autismus, versuchen so etwas wie einen Überblick zu geben und erzählen dazu aus unserer Perspektive.
Irgendwann dazwischen demontiert @astefanowitsch noch die „Entschuldigung“, die der Spiegel mittlerweile veröffentlicht hat, sehr ausgbiebig.

Das Ganze kann man hier anhören:

Themen und Köpfe 2: Angriff der Killerautisten

 

[Edit: Formulierungen glatt gebügelt]

dasfotobus: „Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid“

dasfotobus hat ein paar Gedanken zum Mitleid mit Behinderten und Autisten im Speziellen gebloggt. Dringend mal notwendig gewesen und absolut lesenswert.

Manchmal lese ich solche Sätze: “Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid.”, wenn es um Behinderungen allgemein oder um Autismus speziell geht. Wie fühle ich mich damit?
Egal wie gut es gemeint sein mag:

Mitleid entwertet mein Leben.

Weiterlesen: Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid.

Das Chaos da draußen

Literatur rund um Autismus ist ein Dauerproblem, vor dem jeder, der versucht hat eine Literaturliste zu erstellen, schon gestanden hat.
Es ist schwer, Bücher über Autismus zu finden, die wirklich aktuell sind und nicht nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums betrachten, aber so tun als wäre es das ganze.
Noch schwerer ist es Literatur für Autisten zu finden. Es gibt nur sehr wenige Bücher die speziell für Autisten geschrieben wurden, und dann leiden diese oft an den typischen Symptomen von Selbsthilfebüchern: Sie haben den einzig wahren Weg für die Lösung aller Probleme gefunden. Dazu kommt noch eine gewisse “Alles ist möglich wenn du nur genug willst”-Mentalität, die diesen Büchern oftmals einen Wert deutlich unterhalb der Druckkosten beschert.

Aus diesem Grund lese ich recht wenig Bücher über Autismus und für Autisten. Ich suche den Austausch mit anderen Autisten, lese Blogs und gelegentlich auch Foren. Nun ergab es sich, dass Lasse, mit dem ich seit längerem in der Selbsthilfearbeit zu tun habe, ein Buch schrieb was mich neugierig machte.

Lasse von Dingens – Das Chaos da draußen

Aufgrund meiner oben geschilderten Erfahrungen mit Literatur war ich etwas skeptisch bevor ich begann das Buch zu lesen.
Der Autor ist Asperger-Autist, diagnostiziert wurde er mit 32.  In diesem Buch sammelte er seine und andere Erfahrungen aus einem Leben mit Autismus. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Sammlung von Situationen in denen man als Autist in Probleme geraten kann und Lösungsansätze und Tipps, wie man diese bewältigen könnte. Er gibt Hinweise, worauf es wichtig sein kann zu achten, z.B. bei Vorstellungsgesprächen, oder am Arbeitsplatz.

Dieses Buch soll nicht als Anleitung zum “Nichtautistwerden” verstanden werden. Hier soll kein Druck im Sinne von “Zwang zur Veränderung” erzeugt werden. Jede Veränderung ist nur dann möglich, wenn man selber zu dem inneren Entschluss gelangt ist, diese Änderung auch wirklich selber zu wollen.
(…)
Seine eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um sich einfacher in der Welt der Nichtautisten zurecht zu finden, ist noch lange kein “Verrat seiner selbst”, oder ein “Verbiegen zum Wohle der anderen”. Vielmehr ist es als eine zusätzliche Qualifikation zu sehen, sich in zwei unterschiedlichen Welten zu bewegen. Die wenigsten Nichtautisten können dies, da ihnen eine Welt weniger zur Verfügung steht.

Was dieses Buch meiner Meinung nach sehr auszeichnet, ist die Tatsache, dass der Autor gar nicht versucht, eine “Gebrauchsanleitung” für ein Leben mit Autismus zu schreiben, wohl weil ihm klar ist, dass es so etwas nicht geben kann. Anders als viele Bücher, die wie oben erwähnt eine Universallösung verkaufen, betrachtet der Autor die Möglichkeiten die sich ergeben, gibt Hinweise dazu, aber sagt nicht, welche Lösung die richtige ist, weil es keine richtige Lösung gibt.
Das fordert auf der anderen Seite aber auch einiges Nachdenken vom Leser. Es ist nicht immer möglich hier einen kompletten “Fahrplan” aus einem Kapitel zu ziehen, der einen durch die entsprechenden Situationen und Knackpunkte führt. Hier muss der Leser selbst reflektieren und sich einen eigenen Weg erarbeiten. Wobei ich persönlich die Erfahrung gemacht habe, dass ich auf selbst ausgearbeiteten Wegen immer weiter kam, als mit bereits fertig von anderen präsentierten.
Man muss dieses Buch nicht in einem Stück durchlesen. Die Art in der es geschrieben wurde ermöglicht ebenso, es als Nachschlagewerk für einzelne Situationen zu benutzen. Die einzelnen Kapitel sind losgelöst voneinander geschrieben und wo Bezüge zu anderen Kapiteln hergestellt wurden, sind diese direkt mit angegeben.

Alles in allem ist dieses Buch eine nützliche Sammlung von Hinweisen und guten Ratschlägen, einige der Ratschläge in diesem Buch wende ich, teilweise ohne drüber nachzudenken, selbst schon länger an und mache damit ziemlich gute Erfahrungen. Ich fand viele Dinge, über die ich so in der Form bisher noch nicht nachgedacht habe, sodass ich dieses Buch für Menschen, die selbst das Bedürfnis haben, mit ihrem Autismus umgehen zu lernen nur empfehlen kann.

Das Chaos da draußen ist bei Books on Demand erschienen, hat in der Printausgabe 196 Seiten und ist für 14,99€ zu haben. Außerdem ist es für 11,99 als eBook bei den Buchhändlern des Vertrauens erhältlich.