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Die Wissenschaft von ABA

Dieser Artikel vertieft einem Teil meiner Recherchen für den Text „Schau mir in die Augen, Kleines“, der sich weitgehender mit der Thematik ABA befasst und in der ersten Ausgabe des Magazins N#mmer erschienen ist.


Eines der hartnäckigsten und schlagkräftigsten Argumente, denen man in der Diskussion um ABA immer wieder begegnet, ist die Behauptung, dass die Applied Behavior Analysis die einzige wissenschaftlich fundierte und bewiesene Therapieform gegen Autismus sei.
Meist bleibt diese Behauptung unbelegt im Raum stehen, manchmal folgt die weitere Behauptung, dass dutzende Studien die Wirksamkeit von ABA belegen, in den seltensten Fällen werden konkrete Studien angeführt.

Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Die meisten Leute akzeptieren das, denn wenn eine Studie etwas behauptet, dann ist es ja schließlich wissenschaftlich bewiesen. Doch ganz so ist das eben nicht. Eine Studie macht noch keine Fakten, sondern ist zunächst erst mal die Dokumentation einer Untersuchung. Darin wird zunächst dargelegt, welche Fragestellung untersucht wurde, mit welchen Methoden diese Fragestellung untersucht werden sollte, wie die Untersuchung durchgeführt wurde, welche Ergebnisse dabei erzielt wurden und abschließend erfolgt eine Interpretation dieser Ergebnisse. Anschließend wird die Studie in Form eines wissenschaftlichen Papers veröffentlicht. Im Rahmen der Veröffentlichung werden von anderen Wissenschaftlern die Methodik, der Versuchsaufbau und die Ergebnisse der Studie analysiert und auf Fehler geprüft. Dabei wird aber lediglich überprüft, ob die Methoden der Studie geeignet sind, die Fragestellung zu beantworten, oder ob im Rahmen der Studie grobe fachliche Fehler gemacht wurden. Eine Überprüfung des wissenschaftlichen Inhalts findet dabei nicht statt.

Dies bedeutet, dass eine veröffentlichte Studie zunächst einmal keinen wissenschaftlichen Beweis für egal welche Behauptung liefern kann. Der Grund hierfür ist der Fehler 1. Art, der sogenannte Alpha-Fehler. Dieser besagt, dass man sich bei der Übertragung der stichprobenartigen Versuchsergebnisse auf die Allgemeinheit immer irren kann, da es keine Garantien gibt, dass die Stichprobe auch repräsentativ für die Allgemeinheit ist.1 Um diesen Alpha-Fehler ausschließen zu können, benötigt man also naheliegenderweise mehrere voneinander unabhängige(!) Studien, die zum gleichen Schluss kommen, um das Ergebnis als wissenschaftlich belastbar einzustufen. Somit muss jede wissenschaftliche Studie alle Daten zu den Versuchsbedingungen beinhalten, die benötigt werden, um den Versuch zu wiederholen. Diese Replizierbarkeit ist einer der Eckpfeiler wissenschaftlichen Arbeitens.

Damit ein Ergebnis belastbar ist, braucht es jedoch mehr als nur zwei Studien, die zum gleichen Schluss kommen. Denn dem Alpha-Fehler zufolge muss man nur genug Studien durchführen, um an irgendeinem Zeitpunkt zwei Studienergebnisse mit dem gleichen, falschen, Ergebnis zu erreichen. Die Anzahl der Studien mit diesem Ergebnis muss daher auch in den Bezug zu den insgesamt durchgeführten Studien gesetzt werden. Diesen Zweck erfüllen sogenannte Meta-Studien. Sie analysieren die Ergebnisse einer größeren Anzahl von Studien, bewerten die Methoden und Ergebnisse dieser Studien kritisch und treffen auf Grundlage dieser wesentlich größeren Datenbasis Schlussfolgerungen.2

Der wissenschaftliche Beweis für ABA

Um sinnvoll beurteilen zu können, ob ABA nun tatsächlich bewiesen ist, benötigt man also sinnvollerweise eine Meta-Studie, die die immer wieder angeführten Studien kritisch hinterfragt. Im Rahmen meiner Recherchen hatte ich das Glück, eine Meta-Studie zu finden, die sich mit genau dieser Fragestellung beschäftigt, ob eine Art der frühen Verhaltenstherapie für Autismus als wissenschaftlich bewiesen gilt.3

Dabei stellt Gernsbacher zunächst fest, dass die Behauptung von ABA als wissenschaftlich bewiesene Behandlungsmethode weit verbreitet ist. Dies geht soweit, dass 1999 in einer durch die Stadt New York unterstützen Publikation vor anderen Therapieformen gewarnt wurde, die wissenschaftlich bewiesenen Formen Zeit stehlen. Als Beleg für die Wissenschaftlichkeit führen die Autoren ein Rechercheergebnis aus 232 Artikeln an. Von diesen 232 Artikeln waren jedoch nur fünf Artikel in der Lage, die Kriterien der Autoren für einen ausreichenden Beweis zu erfüllen. Diese fünf Artikel basierten dabei auf vier Studien. 4 Diese vier Studien wurden veröffentlicht von:

  • Loovas (1987)
  • Birnbrauer & Leach (1993)
  • Smith et al. (1997)
  • Sheinkopf & Siegel (1989)

Im weiteren wird festgestellt, dass nur die Studien von Loovas und Birnbrauer & Leach überhaupt einen Experimentalaufbau mit Kontrollgruppen 5 durchgeführt hatten. Jedoch war auch in diesen beiden Studien die Zuweisung zu den Kontroll- und Testgruppen nicht zufällig6 und somit anfällig für eine (unbewusste) Manipulation der Ergebnisse durch die Mitarbeiter. Diese methodische Schwäche im Versuchsaufbau schwächt die Aussagekraft aller Ergebnisse, die aus diesen Studien gewonnen werden können.7

Die Ergebnisse der ersten wirklich belastbaren Studie mit zufallsbasierten Kontrollgruppen wurden im Jahr 2000 von Smith Groen und Wynn veröffentlicht. Diese Studie basierte auf 28 Kindern, im Alter von 41 Monaten bis 117 Monaten. Davon erhielten 15 Kinder eine ABA-Behandlung nach Loovas mit 25h/Woche und 13 Kinder wurden nach den Wünschen ihrer Eltern behandelt. Die Beurteilung der Kinder erfolgte in den Kategorien Intelligenz, schulische Leistungen, Sprache, sozioemotionale Fähigkeiten sowie angepasste Fähigkeiten.8

Das Ergebnis kann als ernüchternd bezeichnet werden. Nur zwei der intensiv trainierten Kinder erreichten einen Zustand, in dem sie einen IQ über 85 und eine Regelbeschulung ohne weitere Unterstützung erreichten. Dies liegt deutlich unter den 47 % der Kinder, die laut Loovas dieses Ziel erreichen sollten. Von allen Faktoren, die beobachtet wurden, konnten nur im Rahmen der Intelligenztests und der schulischen Leistungen überhaupt signifikante Unterschiede beobachtet werden.9 Die Macher dieser Studie kommen zum Schluss, dass die Bezeichnung von ABA als Heilung „misleading and irresponsible“10 also irreführend und unverantwortlich ist. Gernsbacher selbst kommt zur Schlussfolgerung, dass es an uns allen liegt, die Wege zu dem zu finden, was Eltern als Wunder bezeichnen, dabei sollten wir vorsichtig sein, einen Weg als wissenschaftlich erwiesen zu bezeichnen.11

Nach einer Betrachtung der Ergebnisse der Meta-Studie wird deutlich, warum eine Studie allein noch keinen Beleg für irgendetwas liefern kann. Von  fünf Studien erfüllte letzten Endes nur eine einzige überhaupt wissenschaftliche Kriterien und wich dabei deutlich von dem ab, was bis dahin als Fakt benannt wurde. Somit ist ABA, mit einer methodisch korrekten Studie, weit entfernt davon, als unumstößlich wissenschaftlich erwiesen dazustehen. Dafür bräuchte es noch viele weitere, wissenschaftlich korrekte, Studien, welche die Ergebnisse belegen. Die Richtung, in welche die Ergebnisse von Smith et. al. dabei jedoch weisen, lassen zudem erhebliche Zweifel an den Heilungsversprechen von ABA aufkommen.

Und neuere Studien?

Die zuvor zitierte Studie entstammt aus dem Jahr 2003. So hat sich seitdem sicherlich einiges in der wissenschaftlichen Landschaft rund um ABA geändert. So fand ich im Rahmen meiner Recherche eine weitere Meta-Studie von Nienke Peters-Scheffer aus dem Jahr 2007,12 die zu einem wesentlich positiveren Ergebnis in Bezug auf ABA-basiertes Training kommt und sich dabei auf viele neuere Studien beruft.13 Auch die zuvor betrachteten Studien von Smith und Sheinkopf werden in diesem Rahmen erneut betrachtet. Im Rahmen dieser Studie bescheinigt Peters-Scheffer ABA-basierten Trainings moderate bis große Auswirkungen auf IQ und angepasste Fähigkeiten.14 Diese Schlussfolgerungen stellt sie jedoch in den Kontext eines einschränkenden Faktors. So stellt sie fest, dass auch 2007 die Studie von Smith als einzige Studie aus vollkommen zufällig ausgewählten Studiengruppen besteht.15 Darüber hinaus führt sie eine ganze Liste von beispielhaften methodischen Problemen an, die Studien in diesem Bereich zeigen: „small sample sizes, non-randomized assignments to groups, non-uniform assessments protocols, use of quasi-experimental designs, lack of equivalent groups, lack of adequate fidelity measures, unknown characteristics of comparison conditions, and selection bias“16

Mit dieser langen Liste an methodischen Schwachstellen ist es fragwürdig, warum überhaupt irgendeine dieser Studien für eine Meta-Studie in Betracht gezogen wurde, da zum Beispiel

  • die kleine Stichprobengröße („small sample size“) eine Verallgemeinerung der Ergebnisse nur schwer möglich macht,
  • die fehlende Zufälligkeit in der Verteilung („non-randomized assignments to groups“), sowie die voreingenommene Auswahl („selection bias“) das große Risiko von (unbewussten) Manipulationen birgt, sowie
  • Unbekannte Vergleichskriterien („unknown characteristics of comparison conditions“) eine Reproduzierbarkeit der Studie unmöglich machen.

Diese lange Liste von Kritikpunkten wird von der Autorin jedoch nicht weiter kommentiert, sondern sie geht zu der Schlussfolgerung über, dass ABA-basierte Therapien trotzdem funktionieren,17 unter der vollkommenen Ignoranz der Tatsache, dass die Datenbasis, auf der sie das schlussfolgert, als wissenschaftlich höchst zweifelhaft bezeichnet werden muss.

Da auch die neuere Meta-Studie als einzige tatsächlich belastbare Studie Smith et al. von 2000 anführt, bleibt trotz der neueren Datenbasis der bereits gezogene Schluss übrig, dass für ein fundiertes Urteil über die wissenschaftliche Belegbarkeit von ABA weitere wissenschaftlich korrekte Studien benötigt werden und bis dahin viel dafür spricht, dass die Wirksamkeit von ABA deutlich hinter dem zurück bleibt, was in der Vermarktung versprochen wird.


Anmerkung: Die zitierten Meta-Studien können in englischer Sprache unter dem Link in den Quellen im Volltext heruntergeladen werden. Dort finden sich auch weitere Informationen zu den einzelnen Studien sowie die Originalquellen hierfür. Die den Studien entnommenen Informationen wurden mit der entsprechenden Seitenzahl gekennzeichnet.

MMS – das bedenkliche „Wundermittel“

Dieser Text ist ein Gastbeitrag von outerspace_girl und ist ursprünglich in ihrem Blog erschienen:

 

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stufte heute zwei „Miracle Mineral Supplement“-Produkte, kurz MMS genannt, als zulassungspflichtig und bedenklich ein. Das bedeutet, sie dürfen nicht mehr verkauft werden, bis ein Zulassungsverfahren Unbedenklichkeit und Wirksamkeit bestätigt.

MMS ist ein Gemisch aus Natriumchlorit und Zitronensäure. Bei der Kombination beider Komponenten entsteht Chlordioxid, ein giftiges Gas, das unter anderem als Bleichmittel von Papier und zur Desinfektion eingesetzt wird. Gelangt dieses Gemisch in den Körper, kommt es zu Verätzungen, Erbrechen, Durchfall, starken Schmerzen und Atemproblemen. 
Trotzdem wird MMS von manchen Menschen als „Wundermittel“ gegen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Multiple Sklerose, aber auch gegen Behinderungen wie Autismus eingesetzt. Die Anhänger dieses Mittels berufen sich dabei auf das Buch „Der Durchbruch“ von Jim Humble, seines Zeichens amerikanischer Erfinder. Seine Anhänger gehen beim Verbreiten dieser frohen Kunde äußerst aggressiv vor und sind mehr als überzeugt von diesem chemischen Cocktail.
MMS ist jedoch kein zugelassenes Arzneimittel, es wird nicht von Ärzten verschrieben und es gibt keine Studien zu den vermeintlich positiven Wirkungen. Gesundheitsbehörden warnen schon länger davor. MMS wurde daher als bedenkliches Präsentationsarzneimittel eingestuft, was bedeutet, dass der Hersteller Heilversprechen macht, die jedoch nicht bewiesen sind.

Autisten wehren sich schon sehr lang gegen die Versprechungen dieses vermeindlichen Wundermittels, das nicht selten auch Kindern verabreicht wird, in der Hoffnung, man könne ihren Autismus „wegätzen“. Die betroffenen Kinder leiden schwer unter den Nebenwirkungen, die laut Humble die Wirkung erst bestätigen.
Die Entscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, bleibt jedoch nur ein Schritt. Das BfArM hat mit seiner Entscheidung MMS als chemisches Gemisch nicht verboten, sondern lediglich zwei fertig gemischte Präparate des Herstellers Luxusline. Andere MMS-Mischungen dürfen weiterhin frei verkauft werden, auch ohne Bescheinigung ihrer Unbedenklichkeit. Die Anwendung von MMS wird von dieser Entscheidung nicht beeinflusst und die Mischung kann mit überschaubarem Aufwand selbst produziert werden.
Somit bleibt die Entscheidung alles in allem lediglich ein richtungsweisender erster Schritt, auf den noch viele weitere Schritte folgen müssen. Ein Grund, die Anstrengungen gegen MMS einzustellen, ist es jedoch in keinem Fall.

Ist das noch Pavlov?

Während es Spiegel Online geschafft hat, eine DPA-Meldung aus dem Autismus-Kontext so aufzuhübschen, dass ich sie lesen konnte ohne Schmerzen zu haben, kommen die Schmerzen anderswo umso mehr.

Hinweis: Der nun folgende Text benutzt die Stilmittel Sarkasmus und Ironie, ich habe mich jedoch bemüht, diese entsprechend zu kennzeichnen.

Bei Zeit Online ist heute ein Artikel mit dem aussagekräftigen Titel “Bloß nicht zu nett sein!” erschienen. In diesem Artikel wird auf zwei Seiten ein Loblied auf ABA gesungen, bis irgendwann auf Seite drei auch mal eine kritischere Stimme zu Wort kommt. Zumindest wenn irgendein Leser soweit aushält. (Wer zum Teufel kommt eigentlich auf die Idee, Websites zum Blättern zu bauen?) Aber nun gut, ich habe solange ausgehalten und mir die Werbebroschüre den Artikel durchgelesen und möchte, entgegen meinem Grundsatz, nichts zu einzelnen Therapieformen zu sagen, an dieser Stelle mal meinen Senf dazu geben:

Beginnen wir mit dem klassischen Einstieg, ein armes Kind, das vollkommen von seiner Außenwelt abgeschlossen ist und dann innerhalb nur weniger Wochen in der Lage ist, die Kommandos seiner Eltern zu befolgen, wenn er denn mit einem Smartie dafür belohnt wird. (Die Hundehalter unter den Lesern dürften das Prinzip wiedererkennen.) Es sind Geschichten wie diese, mit denen ABA oft verkauft wird. Einzelne anekdotisch erzählte Erfolgsgeschichten. Der nächste Schritt besteht dann darin, dass man den staunenden Leuten erzählt, wie auch sie das erreichen können, nämlich:

„Sprechen, jemanden ansehen, allein auf die Toilette gehen, Gefühle auf einem Gesicht erkennen: Was andere Kinder nebenbei lernen, muss Johan mühsam beigebracht werden. Das geschieht nach einer neuartigen Methode, die fast wie ein Hochleistungstraining aufgebaut ist: 30 Stunden pro Woche sitzt Johan auf seinem Kinderstuhl still, während die Erwachsenen sein Verhalten steuern, als sei er ein willenloses Wesen.“

Klingt schon irgendwie grausam. [Sarkasmus]Aber ist ja alles für einen guten Zweck, denn schließlich soll mein Kind ja anderen in die Augen sehen, und es ist ja auch nicht so, dass Autisten leichter zu überfordern sind als andere Menschen, von daher können diese fünf Stunden täglich ja nur gut sein und auf keinen Fall eine Belastung, und außerdem: Sagte ich schon, dass es ja für einen guten Zweck ist?[/Sarkasmus]

Erst mal stimmt es, dass Autisten alle oder einige dieser Dinge unter Kraftaufwand lernen müssen, aber das im Kontext dieser Dinge immer wieder der Blickkontakt genannt wird, ist schon ein wenig irritierend. Ich schaue Menschen bis heute kaum in die Augen und habe dadurch keinerlei Einschränkungen in der Lebensqualität. Im Gegenteil, wenn ich Menschen immer in die Augen schauen müsste, würde mich das jedes Mal so nachhaltig verwirren, dass ich immer wieder aus dem Gespräch geworfen werde. Aber vielleicht ist das bei Johann ja nicht so, weil sonst hätte er wohl das Problem, dass er das ankonditionierte Verhalten  wieder los werden müsste, wenn er nicht dauerüberfordert in Gesprächen mit anderen Menschen sein will.

Der andere Punkt dabei ist, dass ABA nicht der einzige Weg ist, all diese Dinge zu erlernen. Ich habe sie schließlich auch gelernt, ohne dass meine Eltern mich fünf Stunden täglich trainierten. Der Unterschied ist, dass ich verstanden habe, warum das was ich tun soll Sinn  macht, das heißt ich verstehe da was ich tue. Weil das menschliche Verhalten  dummerweise mehr als ein einfaches Reiz-Reaktions-Muster ist. Was in den meisten  Situationen richtig ist, kann einen in anderen Situationen in Teufels Küche bringen. Die gleiche Ausgangssituation kann auf einer Beerdigung eine komplett andere Reaktion erfordern als sagen wir mal auf einem Kegel-Abend. Ist das einem Menschen, der diese Sachen über Konditionierung gelernt hat, genau so klar wie mir, der ich die Hintergründe verstanden habe? Allein diese Überlegung sollte eigentlich nahelegen, dass ABA nicht der alleinige Weg zum Erfolg sein kann.

„Bei Autisten ist das Erkennen von Ursache und Wirkung gestört. Das behandeln wir durch Verstärkung.“

Das hier ist einer dieser typischen „Bei Autisten …“-Sätze, die eigentlich immer für Aufregung gut sind. [Sarkasmus] Oh, scheinbar habe ich eben Verstanden, dass dieser Satz die Ursache ist dafür, dass ich mich aufrege. Das würde ja bedeuten, dass ich Ursache und Wirkung erkannt habe. Aber das würde dann ja bedeuten, dass ich kein Autist bin. ICH BIN GEHEILT! [/Sarkasmus]
Ok und jetzt mal ernsthaft. Es mag sein, dass bei einigen Autisten dieser Zusammenhang, insbesondere in sozialen Situationen, nicht erkannt wird. Das hat aber wohl eher damit zu tun, dass Autisten meist nur die Wirkung mitbekommen. Sie bekommen mit, dass sie gerade Ärger kriegen, aber dass das daran liegen könnte, dass sie gerade Witze auf einer Beerdigung erzählt haben, bemerken sie nicht zwingend, wenn ihnen das Gefühl dafür fehlt, dass andere Menschen grade traurig sind, obwohl sie auf einer „Feier“ sind und dass man traurige Menschen nicht immer mit Witzeerzählen aufheitern kann. Soziale Situationen bestehen eben nicht nur aus einer einfachen Ursache-Wirkungs-Kette.
Leider.

Dann wäre da noch ein grundsätzliches Problem. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es garnicht das Ziel sein sollte, immer komplett normal zu wirken und allen Leuten freundlich lächelnd in die Augen zu schauen. Ich wäre vermutlich dazu in der Lage, das zu tun, aber was hätte ich davon? Ich würde so viel meiner Energie darauf verwenden, die mir dann an anderen Stellen fehlt. Man kann durchaus auch mit anderen Menschen interagieren, ohne ihnen konstant in die Augen zu schauen. Einige Menschen stört das nicht mal. Die Menschen, die es stört, sind meist zufrieden damit, wenn man irgendwo in die Nähe ihrer Augen schaut, den Unterschied bemerken sie in der Regel nicht. Obwohl ich Menschen nicht in die Augen schaue, habe ich einen Freundeskreis. Es geht nicht immer darum, 100% nach außen hin normal zu wirken, es reicht, sich da auf die Bereiche zu konzentrieren, die negative Konsequenzen nach sich ziehen und unbeliebt machen. Ich bezweifle irgendwie, dass es so gut wäre, wenn ich aufhören würde darauf zu achten, niemanden zu unterbrechen beim Reden, aber dafür allen in die Augen zu schauen. Sicherlich könnte ich auch auf beides achten, aber das hätte dann zur Folge, dass ich entweder nur noch an einem Tag in der Woche unter Menschen gehe oder mir schon mal einen Platz in der Burnout-Reha suche.

Das ist eines der ganz großen Probleme, die ich sehe, wenn nur ABA ohne irgendwas anderes angewendet wird. Kein Mensch hat endlose Reserven an Konzentration, die er aufbringen kann, und von der Fähigkeit damit zu haushalten, habe ich noch keinen ABA-Verfechter sprechen hören, wenn er davon erzählte, dass die Kinder (fast) ganz normal wirken werden am Ende.

tl;dr: Es gibt keine Autismus-Therapie, die alle glücklich macht, ideologische Grabenkämpfe führen zu nichts und ABA – insbesondere allein angewendet – sollte kritisch betrachtet werden. Es wäre allen viel mehr geholfen, wenn man da mit einer gesunden Mischung im Einzelfall arbeitet.

Therapie

Viele Autisten haben ein Problem mit Therapien. Wenn ich die Aussagen von den Autisten, die sich öffentlich äußern, verallgemeinere, könnte man sagen dass es die Mehrheit ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber wie Rainer in einem Gespräch mit mir (rf005) anmerkte, dürfte der Hauptgrund dafür negative Erfahrungen mit  Psychologen sein, die so weit gehen, dass man in einigen Fällen schon von Traumatisierung sprechen kann.
Ich brauche kaum zu erklären, dass ich  vollstes Verständnis dafür  habe, wenn Menschen mit diesen Erfahrungen Therapien für sich grundsätzlich ablehnen, sofern sie daraus keine grundsätzliche Haltung konstruieren, dass alle Therapie immer böse ist.

Genau diese Haltung wird aber im Moment wieder zunehmend salonfähig. Auch bei Autisten die keine negativen Erfahrungen im Kontext mit Therapien machten. Dies wird im Regelfall damit begründet, dass man die Autisten ja nur akzeptieren müsste, statt zu versuchen, den Autismus wegzutherapieren.

Menschen die “Therapie ist …” kauften, kauften auch “Alle Autisten sind  …”

Ich kann diese Argumentation selten ohne Zusammenbeißen der Zähne ertragen, sehr zur Freude des Autohändlers meines Zahnarztes. Das Problem, das ich mit dieser Argumentation habe, ist nicht, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Das Problem ist, dass sie per se schon eine Verallgemeinerung ins Absurde darstellt.
Natürlich gibt es Therapien, die das strikte Ziel haben, am Ende eine Armee von unauffälligen Otto-Normal-Bürgern zu schaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt am Ende davon ein Mensch raus, der einige Therapie bräuchte, um die Therapie zu verarbeiten, und selbst wenn es am Ende funktioniert, dass der Mensch nach außen hin normal wirkt, dürfte das, was von ihm übrig ist, nicht mehr viel mit dem zu tun haben, was zu Beginn da war. Ich bin der Letzte,  der leugnet, dass es da draußen eine Heerschar von Leuten gibt, die sich daran gemacht haben, Autisten reihenweise zum Blickkontakt, Lächeln und Hand geben zu zwingen, indem sie der Konditionierung einen coolen neuen Namen gegeben haben.
Das ist das Bild, das vorherrscht, wenn man versucht, über Therapie zu diskutieren. Allerdings ohne jede Differenzierung, dass es hierbei lediglich eine Teilmenge des weiten Feldes unterschiedlicher Therapieansätze abdeckt.

Es gibt da nämlich noch andere Herangehensweisen, die ich ganz gerne als  problemorientierte Herangehensweisen bezeichne. Diese Ansätze gehen nicht davon aus, dass Autismus per se etwas ist, das therapiert werden müsste. Genau so wenig stürzen sie sich auf die Symptome. Die Fragestellung hierbei ist eher: An welcher Stelle hat der Mensch eigentlich Probleme, die durch den Autismus bedingt sind und kann man da etwas dran machen?
Wie das konkret aussieht, kommt dann natürlich auf die Probleme an, die im Alltag vorhanden sind. So kann ein soziales oder ein Kommunikationstraining in Einzelfällen zum Beispiel durchaus Sinn machen. Sie werden aber kaum helfen, wenn jemand Probleme damit hat, seinen Tagesablauf zu organisieren.
Überhaupt haben alle Therapien, insbesondere im Autismus-Bereich, die Gemeinsamkeit, dass keine von ihnen der alleinige Weg zur Erlösung ist. Kein seriöser Ansatz ist in der Lage, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die Autismus so mitbringen kann.

Die Diskussion, ob eine Therapie Sinn ergibt, und wenn ja welche Therapie, wird fast immer mit ideologischem Beigeschmack geführt. Es gibt die Menschen, die Therapie pauschal als das Einfallstor allen Bösen betrachten, es gibt die Therapeuten die meinen, sie haben DEN Weg gefunden, alles gut zu machen, genau so wie es Leute gibt, die glauben, man könnte und müsste Autismus grundsätzlich therapieren.
Die Lösung liegt wie so oft in der Mitte:

Therapie kann sinnvoll sein, sie muss es aber nicht. Und wenn eine Therapie sinnvoll ist, sollte sie auf den Bereich zugeschnitten sein, in dem das Problem besteht, und nicht auf Basis eines alleinigen Heilsversprechen gewählt werden.

Disclaimer: Ich wurde selbst mehrere Jahre in einer Praxis therapiert, die sich auf Autismus spezialisiert hat und wäre ohne diese Unterstützung aktuell vermutlich nicht in der Lage meine Bachelorarbeit zu schreiben, daher ist eine gewisse Befangenheit nicht vollständig auszuschließen.

Autism starts affecting babies’ brains as early as 4 months old

Man spielte mir heute morgen einen ziemlich interessanten (englischen) Artikel zu Forschung der Ursachen von Autismus zu. Ich las im ganzen Artikel nicht nicht einmal das Wort “cure”, was allein durchaus schon Potenzial hat mich zu begeistern. Ansonsten scheint sich zu bestätigen, dass es nicht eine Ursache, sondern eine Kombination aus vielen Faktoren ist. Spannend ist noch der folgende Abschnitt:

David Amaral of U.C. Davis says that changes in brain growth associated with regressive autism are observable as early as 4-6 months of age, long before any behavior changes show up. "Precocious" brain growth and larger head diameters in those early months are associated with regression.

(Wenn mir irgendwer das deutsche Pendant zu “regressive autism” mitteilen könnte wäre ich übrigens echt dankbar. Wiki hat dazu zwar einen englischen Artikel, aber der hilft mir nicht wirklich weiter.)

Schaut jedenfalls so aus, als wird es eng für unsere Impfgegner, da laut dem Artikel die Impfung die Autismus auslösen soll erst mit 12 Monaten verabreicht wird.
Außerdem ist noch zu erwähnen, dass das Alter in dem Autismus erkannt werden kann zunehmend nach unten geht.
Ist natürlich immer die frage was steckt wirklich hinter den Studien, aber alles in allem stimmt mich dieser Artikel vorsichtig optimistisch, was die Richtung angeht in die geforscht wird.

Nachtrag: Eine hier nicht näher zu nennende Fachkraft hat mir folgende Erklärung zu “regressive autism” zur Verfügung gestellt:

Regressive Autism bezeichnet Formen von Autismus, die mit einer Entwicklungsregression einhergehen, d.h., bei denen Kinder (scheinbar) Fähigkeiten, die  zunächst entwickelt wurden, dann wieder verlieren.

Endlich

Sie sind zur Vernunft gekommen. Die jahrelang weit verbreitete wie auch gefürchtete Meinung Autismus würde durch Impfungen ausgelöst wurde nun endgültig ad absurdum geführt:

BBC

Vielleicht kommen nun endlich all die Eltern zur Vernunft die ihr Kind aus Angst vor Autismus nicht impfen lassen.