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Was ist Autismus?

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Manchmal, wenn ich mit anderen Menschen unterwegs bin, kommt das Thema Autismus auf. Häufig fallen dann Aussagen wie „Das sind doch die, die diese tollen Fähigkeiten haben. Die man mit dem Hubschrauber über eine Stadt fliegt und dann können Sie alles komplett aus dem Gedächtnis zeichnen.“
Leider ist das keine Erklärung dafür, was Autismus ist, sondern hat viel mehr mit dem Savant-Syndrom zu tun. (Savants sind Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügen, die man auch Inselbegabungen nennt, aber in vielen anderen Bereichen nur durchschnittlich, bis unterdurchschnittlich begabt sind.) Es gibt zwar viele Savants die auch Autist*innen sind, aber nur sehr wenige Autist*innen, die auch Savants sind.

Was Autismus ist, lässt sich leider nicht in einige Sätzen zusammenfassen. Autismus funktioniert nicht wie ein IKEA-Möbel, bei dem man die einzelnen Teile gemäß der Anleitung zusammensetzt und wenn kein Teil fehlt und die Anleitung stimmt, kommt am Ende die Schrankwand „Autist*in“ dabei raus. Stattdessen ist Autismus ein Sammelbegriff für verschiedene Beeinträchtigungen und Besonderheiten, die alle über gewisse Gemeinsamkeiten verfügen. Aus diesem Grund wird der Begriff des Autismus zunehmend von der Bezeichnung „autistisches Spektrum“ oder „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) abgelöst.

Die Gemeinsamkeiten der Besonderheiten innerhalb des Autismus-Spektrums lassen sich im Wesentlichen in zwei große Bereiche unterteilen. Einer dieser Bereiche ist die Wahrnehmung, welche sich bei Autist*innen von Nicht-Autist*innen unterscheidet. Bei den meisten Menschen funktioniert Wahrnehmung so, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was das Gehirn an Informationen/Reizen aufnimmt wird, und dem, was davon bewusst wahrgenommen wird. Bevor das was wahrgenommen wird, auch bewusst wahrgenommen wird, führt das Gehirn eine Vorauswahl durch um die Komplexität zu reduzieren. Dabei werden viele Dinge von vornherein aussortiert. Dies betrifft vor allem Details, Situationen die in bekannte Muster fallen und Wahrnehmungen die für die aktuelle Situation scheinbar irrelevant sind. Das ist eine ziemlich nützliche Funktion da sie ermöglicht, dass die meisten Menschen in der Lage sind, ihre Ziele zu erreichen ohne auf dem Weg vom Muster des Straßenbelags oder von dem was die Müllabfuhr am Straßenrand macht abgelenkt zu werden. Und zwar, ohne sich dafür stark konzentrieren zu müssen. Bei Autist*innen funktioniert diese Vorauswahl oft nicht, oder nur mit Einschränkungen. Sie nehmen häufig zum Beispiel das Muster des Straßenbelags, die Müllabfuhr, die Schaufensterauslage, das vorbeifahrende Auto, die laufenden Motoren und/oder die Angebote des Discounters bewusst wahr. Um trotzdem ihr Ziel genauso zu erreichen, müssen sie es schaffen aus dieser Vielzahl von Informationen das auszufiltern, was für das Erreichen ihres Zieles nicht benötigt wird. In einigen Fällen kann das soweit gehen, dass Autist*innen ihre Wege nicht ohne Unterstützung zurücklegen können. In den anderen Fällen erreichen sowohl Autist*in, als auch Nicht-Autist*in am Ende ihr Ziel. Der Unterschied ist, dass die eine Person einen entspannten Nachmittagsspaziergang hatte, während die andere sehr viel Konzentration und Energie aufwenden musste um das Ziel zu erreichen. Zum Themenbereich der Energie habe ich an anderer Stelle noch eine ausführlichere Erklärung geschrieben. Da das Konzentrieren auf die wichtigen Reize Energie kostet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wenn Autist*innen nicht mehr genügend Energie zum konzentrieren haben, alle Reize gleichzeitig und ungefiltert da sind. Dieser Zustand der Reizüberflutung kann bis hin zur totalen Überforderung führen. In diesem Fall spricht man auch von einem „Overload“.

Der zweite Bereich der Gemeinsamkeiten ist alles was sich unter dem Begriff soziale Interaktion zusammenfassen lässt. Eines der bekanntesten Klischees über Autist*innen ist, dass Sie immer alles wörtlich nehmen. Tatsächlich stimmt das oft. Das liegt daran, dass Autist*innen häufig ein Problem damit haben Informationen wahrzunehmen, welche sich nicht auf der Sachebene befinden, wie zum Beispiel Mimik, Gestik oder Tonfall. Am deutlichsten wird das bei Scherzen, Ironie oder Sarkasmus, bei denen Menschen das Gegenteil von dem sagen was Sie meinen, die komplette Umkehr der Bedeutung aber nur durch ihren Tonfall oder durch ihre Mimik deutlich machen. Diese Probleme beschränken sich aber nicht nur auf Sarkasmus. Problematisch können beispielsweise auch Redewendungen sein. Redenwendungen basieren in der Regel auf einer Metapher und die eigentliche Aussage steckt in dem dahinterstehenden Bild. Bei Menschen die sich hauptsächlich auf die Sachebene einer Nachricht konzentrieren kann die Frage, ob einem „etwas unter den Nägeln brennt?“ zu sehr irritierten Blicken auf die eigenen Fingernägel führen. Genauso ist die Frage, warum jemand einen Storch braten sollte, insbesondere da viele Störche auf der Liste bedrohter Tierarten stehen, bis heute ungeklärt. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Beispiele für Aussagen, die etwas anderes meinen, als die Sachebene vermuten lässt. Beispielsweise beinhaltet „Isst du das noch?“ oft die versteckte Frage „Darf ich das haben?“. „Ich geh jetzt ins Bett“ kann je nach Gesichtsausdruck, Tonfall, Situation und Vorgeschichte neben der Sachebene noch jede weitere Bedeutung zwischen „Komm mit mir ins Bett.“ bis hin zu „Du schläfst heute auf der Couch!“ haben.

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Trennung ob ein Problem von der Reizwahrnehmung oder der sozialen Interaktion kommt, selten exakt möglich ist. Eines der häufigsten Merkmale, mit denen Autist*innen beschrieben werden ist der fehlende oder seltsam wirkende Blickkontakt. Intuitiv ein Problem in der sozialen Interaktion. Tatsächlich beschreiben aber sehr viele Autist*innen, dass sie nicht in die Augen schauen, weil sich dort so viel Mimik abspielt, dass sie die vielen Informationen nicht alle Verarbeiten und sich zeitgleich auf das Gespräch konzentrieren könnten. Letzten Endes ist es in der Praxis aber wohl egal ob ich die Aussage „Ich gehe jetzt ins Bett.“ nun falsch verstanden habe, weil mir die Details der Mimik entgangen sind, oder weil mir die Bedeutungsebene entgangen ist. Für den Umstand, dass ich grundlos auf der Couch geschlafen habe, ist das letzten Endes wohl auch egal.

Wie genau sich die Symptome innerhalb dieser Themenbereiche konkret ergeben kann sehr unterschiedlich sein. Dies bedeutet, dass es innerhalb des autistischen Spektrums sehr große Unterschiede gibt, wie sich Autismus individuell äußert. Viele Menschen sprechen hier von „leichtem“ und „schwerem“ Autismus, da man aber nicht immer alle Probleme von außen sehen kann, dürfte eine Unterscheidung zwischen „auffälligem“ und „unauffälligerem“ Autismus wohl näher an der Lebensrealität vieler Autist*innen sein. Häufig werden auch einzelne Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums mit einer bestimmten Beeinträchtigung gleichgesetzt. Diese Diagnosen sind nach aktueller Definition das Asperger-Syndrom, der Kanner/frühkindlicher-Autismus und der atypische Autismus.

Dabei wird das Asperger-Syndrom in der Regel als leichter Autismus oder manchmal sogar als „nicht richtiger“ Autismus bezeichnet, bei dem die Symptome nicht so sehr auffallen. Dabei sollen Asperger-Autist*innen manchmal etwas sonderlich sein und keinen Humor haben, im Wesentlichen aber ohne weitere Unterstützung durch den Alltag kommen.
Kanner-Autismus ist dabei das genaue Gegenteil, bei dem die Menschen nicht-sprechende, kognitiv beeinträchtigte Menschen vor Augen haben. Oft auch in Abgrenzung zu Asperger „richtiger Autismus“, genannt. Kanner-Autist*innen sind in der Wahrnehmung der meisten Menschen allein zu nicht viel in der Lage und auf ständige Betreuung angewiesen.

Tatsächlich erfolgt die Unterscheidung der einzelnen Diagnosen im Autismus-Spektrum nicht nach dem Maß der Alltagskompetenz, das die Autist*innen aufbringen, sondern hauptsächlich danach in welchem Alter sich die ersten Symptome gezeigt haben und wann bzw. wie die Sprachentwicklung erfolgt. Dabei besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wenn sich die ersten Symptome früher zeigen, wie es oft bei Kanner-Autismus der Fall ist, sich auch mehr sichtbare Auswirkungen auf die Alltagskompetenz ergeben. Eine Garantie hierfür gibt es nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es die beiden zuvor beschriebenen Ausprägungen von Autismus, wie die meisten Menschen sie mit Kanner und Asperger assoziieren, nicht gibt. Es gibt Autist*innen, die ohne Unterstützung ihren Alltag nicht bewältigen könnten, genauso wie Autist*innen, die in den allermeisten Situationen keiner besonderen Unterstützung bedürfen. Und es gibt auch jede einzelne Ausprägung zwischen diesen beiden Extremen. Wie viele Probleme eine Autist*in tatsächlich hat und wie es ihr geht lässt sich dabei aber nicht an der Diagnose oder einem Eindruck von außen festmachen. Autist*innen, die eine eigene Wohnung, eine Arbeitsstelle und ein geregeltes Leben haben wirken in der Regel so, als hätten sie überhaupt keine Probleme. Was man als Außenstehende*r jedoch nicht sehen kann ist, ob diese Person so viele Sozialkontakte hat, wie sie sich wünschen würde, oder wie sehr es sie stresst, Arbeit und Wohnung aufrecht zu erhalten.

Neben den Vorurteilen zu den Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums und den angeblichen Spezialfähigkeiten von Autist*innen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Vorurteile gegenüber Autist*innen, welche immer wieder auftauchen. Eines ist zum Beispiel, dass alle Autist*innen introvertiert und zurückhaltend auftreten. Dies stimmt für viele auch, jedoch gibt es genug Autist*innen, bei denen das genaue Gegenteil der Fall ist. Es kann durchaus vorkommen, dass sich diese eine Person, die eine soziale Situation komplett an sich reißt und allen Anwesenden von seinem Hobby erzählt ohne irgendwen auch nur Ansatzweise zu Wort kommen zu lassen, ebenfalls im Autismus-Spektrum befindet.
Ein anderes Vorurteil ist, dass Autist*innen alles immer auf die genau gleiche Weise erledigen müssen. Dieses Vorurteil stimmt häufig tatsächlich, auch wenn es in der Regel stark übertrieben dargestellt wird. Tatsächlich gibt es viele Autist*innen, die einzelne Tätigkeiten immer auf die gleiche Weise erledigen. Einfach, weil es so deutlich weniger Konzentration erfordert und so mehr Energiereserven für die restlichen anstehenden Aufgaben übrig sind. Wenn so eine Routine in einer Situation fehlschlägt, ist dies in der Regel aber kein Untergang, bei der sich alle Autist*innen immer auf den Boden setzen und apathisch vor und zurück wippen. Viele Autist*innen können dann umplanen, es kostet nur deutlich mehr Energie. Auffällig problematisch wird es dann, wenn diese Fähigkeit aufgrund der konkreten Ausprägung des Autismus oder aufgrund der fehlenden Energiereserven fehlt, oder sehr viele Routinen auf einmal wegbrechen. Manchmal kann man auch Routinen für den Wegfall von Routinen entwickeln. Beispielsweise kann man eine Routine für den Fall, dass der regelmäßig genommene Zug ausfällt oder verpasst wurde, entwickeln. Es gibt aber ebenso Situationen oder Ausprägungen des autistischen Spektrums, in denen das Bedürfnis nach Sicherheit durch Routinen so groß ist, dass eine andere Cornflakes-Marke zum Frühstück bereits eine schwere Störung des Tagesablaufs bedeuten kann, deren Überwindung zu viel Konzentration und Energie kosten kann, oder für manche Autist*innen sogar unmöglich ist.

Diese „kurze Erklärung“ was Autismus eigentlich ist, kann nur noch mit viel wohlwollen als kurz betrachtet werden. Trotzdem ist sie nicht mehr als nur ein Überblick, bei dem ich mit Sicherheit Dinge ausgespart habe, welche andere Menschen als wichtig empfinden würden. Das Autismus-Spektrum ist ein weites Feld, bei dem es innerhalb von einer Reihe von Grundgemeinsamkeiten sehr viele verschiedene Ausprägungen gibt, wie sich diese nun konkret äußern können. Das führt dazu, das jede Ausprägung innerhalb des Spektrums so individuell ist, wie die Autist*in selbst. Statt den vorgefertigten Bauteilen für eine Regalwand hat man es hier eher mit einem Lego-Set zu tun. Mit Steinen in verschiedenen Formen und Farben, bei denen sich aus den gleichen Steinen vollkommen unterschiedliche Dinge bauen lassen. Und egal ob nun ein Auto oder ein Raumschiff daraus gebaut wurde, die einzelnen Steine für sich betrachtet sind immer wieder die, die man schon kennt.


Dieser Text ist ursprünglich als Gastbeitrag für Indianermädchen & Wildfang erschienen.

Energiemanagement

Auch nach 131 Beiträgen und über 6 Jahren schreibe ich immer noch gerne in dieses Blog. Doch in letzter Zeit sind die Beiträge seltener geworden und aus meiner Routine, jeden Morgen die Kommentare zu moderieren, den Spam auszusortieren und die Blogstatistik zu überfliegen, ist zunehmend ein verschämtes Schließen des Browsertabs geworden.

Das liegt nicht daran, dass ich nicht mehr gerne schreibe. Im Gegenteil: Die Liste der Themen, über die ich gerne schreiben will, ist mit jedem Monat ohne Blogtext stetig gewachsen.

An der Zeit liegt es auch nicht. Mit dem Abschluss meines Studiums habe ich mit einem 8-Stunden-Tag auf einmal so viel Freizeit, dass ich gute zwei Monate brauchte, um zu lernen, wie ich damit umgehen soll.

Leider sind Zeit und Motivation nicht das einzige, was gebraucht wird um Dinge geschafft zu bekommen. Zusätzlich braucht es auch Energie und mit dieser Energie ist das bei Autisten so eine Sache. Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, alle Menschen haben einen gleich großen Akku. Dieser steht am Morgen auf 100%. Man steht auf, fährt mit der Bahn zur Arbeit, arbeitet, isst mit den Kollegen zu Mittag, arbeitet noch mehr, fährt mit der Bahn zurück nach Hause, zieht sich um, geht zum Fußballverein mit den Freunden.
Jede dieser Tätigkeiten wirkt sich auf den Akkustand aus.
In der Bahn liest man ein Buch und die Zeit fliegt: 99% Ladezustand. Man arbeitet: 70% Ladezustand, entspanntes Mittagessen mit den Kollegen, die Energiereserven werden aufgefüllt: 75% Ladezustand, man arbeitet weiter: 45% Ladezustand, die Fahrt nach Hause, Rush-Hour: 40% Ladezustand, zum Schluss noch der Fußballverein, und man fällt mit 10% Ladezustand müde ins Bett.

So weit der Normalfall. Für einen Autisten kann sich dieser Tag jedoch ganz anders darstellen:
Man versucht in der Bahn sein Buch zu lesen, mit all den Menschen um einen herum kann man sich aber nur schwer auf den Inhalt konzentrieren: 90% Ladezustand. Man arbeitet: 61% Ladezustand, Mittagessen mit den Kollegen, Smalltalk in der vollen Kantine: 55% Ladezustand, man arbeitet weiter: 25% Ladezustand, die Fahrt nach Hause, Rush-Hour: 15% Ladezustand, zum Schluss noch der Fußballverein, und man fällt mit -20% Ladezustand müde ins Bett.1

Das Problem ist, es gibt keine negativen Akkustände. Irgendwann während des Fußballspiels wäre zwangsläufig der Punkt erreicht, an dem unser hypothetischer Autist nicht mehr könnte und überstürzt das Spielfeld verlassen und nach Hause fliehen müsste. Dabei hatte er genau den gleichen Tag wie sein nichtautistisches Gegenstück. Trotzdem hat er am Ende des Tages nicht das gleiche geschafft. Der Unterschied ist, dass viele Dinge, die für einen Nicht-Autisten selbstverständlich und ohne nachdenken erfolgen (das Lesen in der Bahn, das Mittagessen mit Kollegen), für Autisten ein aktiver Vorgang sind, über den sie nachdenken müssen. Dieses Nachdenken erfordert Konzentration und Energie, so dass die selben Tätigkeiten viel mehr von der Energie des Akkus verbrauchen als bei anderen Menschen.

Die Vorstellung von der Energiereserve ist kein theoretisches Gedankenspiel, sondern ein normaler Bestandteil des Alltags von mir und vielen Autisten, mit denen ich darüber bisher sprach. Wann immer ich Termine mache, achte ich nicht nur darauf, dass ich zu dem Zeitpunkt keine anderen Termine habe, sondern auch darauf, was für Termine ich davor und danach habe und wie viel meines Akkus mich diese Termine kosten werden. Ohne viel darüber nachzudenken, ist die Planung meiner Energiereserven schon vor sehr langer Zeit ein normaler Bestandteil meines Tagesplanung geworden. Genau so habe ich mich daran gewöhnt, Termine zu verschieben, oder abzusagen, die ich gerne wahrnehmen würde, weil absehbar ist, dass ich nicht die Energie übrig haben werde, die ich dafür brauche.

Diese Überlegung basiert auch sehr viel auf Erfahrungswerten; so habe ich das erste Semester dafür gebraucht, zu merken, dass nach einem 12 Stunden-Uni-Tag anschließende 8 Stunden Schlaf einfach nicht reichen, um die Akkus wieder auf 100% zu bekommen. Für den darauffolgenden Tag habe ich dann nur 80% der Energie zur Verfügung, die ich normalerweise gehabt hätte. Genau so ist nicht jeder Termin gleich anstrengend. Während ich nach 8h-Home-Office relativ entspannt meinen Tag fortsetze, darf ich nach 8h-Großraumbüro für mindestens 2h keine weiteren Termine einplanen. Diese Dinge habe ich mit der Zeit gelernt. Wenn ich in neue Situationen komme, habe ich diese Erfahrungswerte nicht. Dann muss ich versuchen zu schätzen, was in der Situation von mir erwartet wird und wie viel Energie mich das vermutlich kosten wird. Sofern es möglich ist, versuche ich in der Regel jedoch kein Risiko einzugehen und plane mir im Anschluss Freizeit ein.

Leider sind alle Überlegungen und Erfahrungswerte kein Garant dafür, dass meine Schätzungen richtig liegen. Nicht alle Ereignisse lassen sich von vorneherein einplanen und wenn ich mit falschen Erwartungen an eine Situation herangehe, kann es schnell passieren, dass meine Planung von einer realistischen Schätzung zu einem Wunschgedanken wird. Dabei hab ich leider keine Akkustandsanzeige, die mir sagt, dass ich nur noch 20% Restenergie habe. Ich merke nur die Auswirkungen davon und habe mit der Zeit gelernt, mein eigenes Verhalten zu beobachten, um zu merken, wann meine Energie zur Neige geht. Während ich am Anfang nur Probleme habe mich zu konzentrieren, bekomme ich mit sinkender Energiemenge Kopfschmerzen, oder werde unruhig, wippe schnell mit dem Fuß, oder entwickle andere Stimming-Verhaltensweisen. Am Ende der Energie habe ich nur noch das Bedürfnis, so schnell wie möglich wegzukommen und allein zu sein. Ohne Rücksicht auf soziale Konventionen.
Ist die Energiemenge einmal so weit unten, ist es nahezu unmöglich, sie schnell wieder aufzufüllen. Praktisch bedeutet das, dass ich nicht nur den nächsten Tag, sondern einige darauffolgende Tage mit weniger Energie auskommen muss, bis die Reserven langsam wieder aufgefüllt sind.

Lange Zeit habe ich nicht bemerkt, wie groß und raumgreifend das Energiemanagement in meinem Leben ist. In der Regel denke ich nicht weiter darüber nach, sondern plane meine Tage einfach so, dass es keine Probleme gibt und denke nicht weiter darüber nach, in wie vielen Situationen ich das eigentlich tue und merke daher nicht, dass ich es in so gut wie jeder Situation, bei jedem Termin, bei jeder Planung mache. Erst als mir auffiel, dass ich auch Dinge absage, die ich gerne mache und die Liste der Dinge, die erledigt werden müssen, nicht mehr kürzer wurde, fing ich an darüber nachzudenken, in welchen Situationen ich über mein Energiemanagement nachdenke und wie viel Raum es tatsächlich in meinem Leben einnimmt.

Dabei sind mir die Auswirkungen erst langsam klar geworden. Denn über die Jahre haben sich bei mir viele Projekte angesammelt, die mir Spaß machen und die ich gerne mache, doch ich merke, dass ich nicht mehr die Energie dafür habe, da es zu viele andere Dinge gibt, die meine Energie aufbrauchen. An Teilen dieser Dinge kann ich nichts ändern; zum Beispiel wird sich Arbeit nicht vermeiden lassen, wenn ich auch weiterhin wohnen und essen möchte, aber an anderen Dingen kann ich etwas ändern. Das bedeutet allerdings, dass ich abwägen muss, welches meiner Projekte ich mehr mag und welches andere Projekt ich zugunsten von beispielsweise diesem Blog oder meinem Podcast aufgebe. Die Entscheidung etwas aufzugeben, was einem am Herzen liegt, obwohl eigentlich genug Zeit dafür wäre, ist keine einfache. Und so habe ich, je mehr ich in der vergangenen Zeit darüber nachdenke zunehmend das Gefühl, dass die Notwendigkeit ständig die eigene Energie im Auge zu behalten eine der großen Einschränkungen meines Autismus ist.

Von Chancen und Grenzen der Selbst-Diagnosen

Selbstdiagnostiziert. Ein Wort das nahezu als Garantie dafür taugt, dass Heerscharen von Psychologen und Psychiatern tief einatmen und in Augenrollen verfallen. Menschen maßen sich an, ohne gesicherte Vorkenntnis medizinische Labels zu vergeben. Dabei vergeben sie diese Labels sogar bei sich selbst, was selbst entsprechend ausgebildete Menschen mit Jahren der Erfahrung nicht tun würden, weil es vollkommen unmöglich ist eine ausreichend professionelle Distanz zu sich selbst zu entwickeln. An dieser Stelle könnte dieser Text enden und wir könnten uns alle wieder Katzenvideos oder anderen Dingen zuwenden. Doch so leicht ist es nicht.

Die Geschichte von diagnostischer Abklärung und Autismus war von Anfang an eine zwiespältige. In den frühen Zeiten der Diagnose konnte man deutschlandweit die Anzahl der qualifizierten Diagnostiker an den Fingern seiner Hände abzählen und hatte immer noch einige Finger in Reserve. Dementsprechend hatte überhaupt nur ein Bruchteil der Menschen, bei denen ein Autismus-Verdacht im Raum stand, eine realistische Chance, diesen Verdacht diagnostisch bestätigen zu lassen. Dazu kam, dass auf jeden dieser qualifizierten Diagnostiker, mindestens 20 Diagnostiker kamen, die Autismus nach einem entspannten Plausch und ein paar Teeblättern ausschlossen oder bestätigten. Dabei reichte in der Regel schon der Umstand sprechen zu können um Autismus auszuschließen.
Diese Situation führte zwangsläufig dazu, dass viele Menschen, die sich selbst als Autisten sahen, dies nie bestätigen lassen konnte. Daher setzten sich die frühe Autismus-Communities zu großen Teilen aus diesen „Verdachts-Autisten“ zusammen. Vermutlich würden sie ohne die Offenheit gegenüber Verdachts-Autisten heute nicht existieren.

Mittlerweile gibt es mehr qualifizierte Diagnostiker. Trotzdem sind es immer noch so wenige, dass zwischen dem Anrufen bei einer Diagnosestelle und der ersten Begegnung mit einem Diagnostiker in der Regel mehr als ein Jahr vergeht. Das bedeutet, dass zwischen dem Verdacht und der Gewissheit in der Regel mindestens ein Jahr liegt, in dem derjenige Mensch kein anderes Label hat, als seinen Verdacht auf Autismus. Zusätzlich zur angespannten Fachkräftesituation kommt, dass es Menschen gibt, für die eine offizielle Diagnose ein großes Problem sein kann, wie zum Beispiel Anwärter auf eine Verbeamtung.

Alles in allem war und ist die Integration von Verdachts-Autisten in die Autisten-Communities bis heute unerlässlich und wesentlich. Doch diesen Verdacht als gleichwertige Selbstdiagnose zu betrachten bringt für alle Beteiligten Probleme mit sich. Eines dieser Probleme ist zunächst die Verlässlichkeit von Selbstdiagnosen. Der große Mangel an qualifizierten Diagnostikern liegt nicht daran, dass so wenige sich für diesen Bereich interessieren, sondern daran, das man diese Qualifikation nicht ohne weiteres erlangen kann. Autismus ist keine leicht zu stellende Diagnose. Das liegt im wesentlichen daran, dass die Symptome, die bei Autismus beobachtet werden, auch bei anderen psychischen Besonderheiten auftreten. Dies bedeutet, dass auch zu diesen Störungsbildern Wissen vorliegen muss, um eine Abgrenzung zu ermöglichen. Dazu kommt die Notwendigkeit nach entsprechenden Fortbildungen, in der Anwendung der entsprechenden diagnostischen Verfahren. In dieser Komplexität liegt auch der Grund dafür, dass eine Diagnostik über mehrere Termine und Stunden stattfindet.
Beim Versuch ihn als Diagnose zu betrachten findet der, grundsätzlich wichtige, eigene Verdachts seine Grenzen. So wichtig der Verdacht für die Zeit bis zur Durchführung einer qualifizierten Diagnose ist, so kann er eine Diagnose definitiv nicht ersetzen. Es ist ohne ein entsprechendes Studium und die entsprechenden Weiterbildungen nahezu unmöglich das nötige Wissen zu erlangen um eine qualifizierte Diagnose zu stellen. Und selbst wenn man selbst über Jahre dieses Wissen angesammelt hat, gibt es dennoch gute Gründe, dass niemand sich selbst (offizielle) Diagnosen stellen darf, denn eine Grundobjektivität und eine persönliche Distanz ist für die Beurteilung unerlässlich und kann auch nicht durch den Vorteil kompensiert werden, sich selbst am besten zu kennen.

Dabei birgt die Umdeutung vom Autismus-Verdacht zur dauerhafte Selbstdiagnose eine Reihe von Problemen, sowohl für den Eigen-Diagnostizierten, als auch für alle anderen Autisten.
Für die Einzelperson ist das größte Risiko vermutlich, dass der eigene Zustand kein Autismus ist, sondern etwas anderes, dass im Rahmen der Diagnostik erkannt würde. Viele dieser anderen Diagnosen mit Überschneidungen zu Autismus, können mit den richtigen Werkzeugen gut bewältigt werden. Außerdem kann es gut passieren, dass viele der Lösungen die für Autisten funktionieren, für diese Menschen dann auch nicht funktionieren. Somit hätte man durch die Verdachts-Diagnose zwar eine Community gefunden. Es wäre jedoch eine Community, die keine Lösungen bieten kann, für Probleme, die mit der richtigen Diagnose eigentlich zu bewältigen wären.

Das große Problem für die Autisten-Communities ist ein Anderes. Hier kann es leicht passieren, dass Autisten sich auf Lösungen einlassen und verlassen, die für sie nicht funktionieren können, da ihre Probleme komplett andere Ursachen haben. Genau so droht die Gefahr, dass Probleme die eigentlich in einen komplett anderen Bereich gehören, so umdefiniert werden, dass sie plötzlich Bestandteil des Autismus werden. Durch den Umstand, dass viele Menschen nach wie vor denken, sie müssten alle Symptome zeigen, würde das definitiv Menschen davon abhalten, für sich überhaupt Autismus in betracht zu ziehen. Darüber hinaus wäre es für die Glaubwürdigkeit einer jeden Gemeinschaft ein harter Schlag, wenn eine Person die mit ihnen eng assoziiert wird, nie eine Diagnose hatte und zu irgendeinem Zeitpunkt eine andere Diagnose gestellt bekommt, die alle Autismus-Symptome perfekt erklärt. Beispielsweise entkräften schon heute ABA-Befürworter alle Argumente von autistischen Aktivisten, mit der Behauptung, es seien „Selbstdiagnostizierte Spinner.“

Dies könnte erneut die Stelle sein, an der dieser Text mit der einfachen Schlussfolgerung endet: Aktivismus nur mit Diagnose. Doch das wäre zu einfach, zu kurzfristig und falsch. Communities mit Autisten leben auch von Menschen die mit Verdacht zu ihnen stoßen und sich einbringen. Doch der umgekehrte Schluss, jeden Verdacht wie eine Diagnose zu behandeln löst die Probleme auch nicht. Weder für die Communities, noch für die Menschen mit dem Verdacht. An dieser Stelle kann es somit keine einfachen Schwarz-Weiß-Lösungen geben, egal wie verlockend sie erscheinen. Stattdessen müssen Lösungen gefunden werden, die es Menschen ohne offizielle Diagnose ermöglichen sich zu beteiligen, aber zeitgleich die Risiken für diese Personen und die Communities so begrenzen, dass sowohl die Personen, als auch die Sache an sich keinen Schaden nehmen kann. Diese Lösungen können nur im Austausch entstehen, denn alle einseitigen Lösungen schaffen auf der anderen Seite mindestens genau so viele Probleme, wie sie lösen.

Von Vulkaniern und Autisten

„Autisten haben keine Gefühle“, „Kalte, gefühllose Autisten“, „Genies, unfähig Gefühle zu empfinden“. So oder so ähnlich liest und hört man immer wieder in Medienberichten aller Art. Auch nach Jahren ist dieses Bild der gefühllosen Autisten nicht aus den Köpfen vieler Menschen zu bekommen. Dabei könnte es von der Realität kaum weiter entfernt sein. Natürlich haben Autisten Gefühle. Ich würde an dieser Stelle sogar so weit gehen, dass sich diese Gefühle nicht von den Gefühlen unterscheiden, die Nicht-Autisten auch haben. Mit all ihren Vor- und Nachteilen. Wie kommt es also, dass sich dieses Bild so hartnäckig hält?

Einer der wahrscheinlichsten Gründe ist wohl in der Historie von Autismus zu sehen. In einer Zeit, als das Bild des Autismus auf nicht-sprechende pflegebedürftige Menschen reduziert war, die augenscheinlich nicht mit ihrer Umwelt interagierten. Hier fand auch das Bild des Lebens in einer eigenen Welt seinen Ursprung. Unter dieser Ausgangssituation und der weit verbreiteten Annahme, dass etwas dass man nicht sieht, auch nicht da ist, war die Schlussfolgerung, dass Autisten keine Gefühle haben unvermeidlich.

Das Bild von Autismus hat sich seitdem gewandelt. Mittlerweile sind sich die meisten Menschen bewusst, dass es auch Autisten gibt, die sprechen können. Nichtsdestotrotz bleibt die Aussage, dass Autisten keine Gefühle hätten, hartnäckig bestehen. Das Bild in den Köpfen hat sich dabei von Menschen, die „in ihrer eigenen Welt gefangen sind“ zu einem Bild von hochintelligenten und rein rational handelnden Vulkaniern1 gewandelt. Einer vermeintlich emotionslosen, hochintelligenten Spezies aus dem Star Trek-Universum. Dabei zeigen Autisten durchaus Gefühle. Die Art mit der sie das tun ist dabei jedoch nicht zwingend die gleiche, wie bei Nicht-Autisten, die ihre Gefühle in der Regel durch Gestik/Mimik, Tonlage oder verbale Kommunikation zum Ausdruck bringen. Genau wie Autisten Probleme damit haben, diese Signale bei anderen Menschen zu interpretieren, senden sie diese Signale nicht, oder zumindest anders, aus. Einige der auffälligsten Merkmale bei vielen Autisten sind ungewöhnliche Betonung in der Sprache und auffällige Mimik. Dies bedeutet, dass für Nicht-Autisten, die herausfinden wollen, wie ein Autist sich fühlt bereits zwei von drei Mechanismen ausfallen. Viele der Signale, an denen man im Regelfall festmachen könnte, wie ein Mensch sich grade fühlt bleiben in der Kommunikation aus.
Der für Nicht-Autisten verbleibende Weg ist die verbale Kommunikation. Dieser Weg ist jedoch der vergleichbar unüblichste. Es gibt nicht viele Situationen, in denen Menschen ausgedehnte Diskussionen über ihr aktuelles Gefühlsleben anstrengen. Und selbst wenn sich eine solche Möglichkeit ergibt, besteht zusätzlich das Problem, dass man seine eigenen Gefühle zunächst verstehen muss. Da diese jedoch nicht immer festen Regeln und Mustern unterliegen kann dies ein großes Hindernis sein. Aber selbst wenn man seine eigenen Gefühle identifiziert und verstanden hat, heißt das nicht, dass man diese auch adäquat verbalisieren kann. Die Sprache in der Emotionen kommuniziert wird ist weit weg davon sauber definiert und einheitlich zu sein, so dass es an vielen Stellen einfach keine Sicherheit dafür gibt, auch das passende Wort für die passende Emotion zu finden.

Dabei zeigen auch Autisten Gefühle. Sie tun es nur anders. So anders, dass es nicht auffällt. In meinem Fall ist meine Bereitschaft jemandem eines meiner Bücher zu leihen, nichts anderes, als ein Ausdruck großen Vertrauens. Genau so, wie ich nur Menschen, die ich wirklich mag, freiwillig in meine Wohnung (und damit meinen Rückzugsraum) lassen würde. Handlungen, bei denen sich die meisten Menschen nicht viel denken, da sie für sie keine besondere Bedeutung haben. Diese Beispiele betreffen jedoch nur mich. Die Mittel Emotionen zu kommunizieren sind so unterschiedlich wie die Autisten selbst und lassen sich nicht allgemeingültig beschreiben. Man kann sie jedoch herausfinden, wenn man sich die Zeit nimmt, einen Autisten kennen lernt und der eigenen Neigung, von sich selbst auf andere zu schließen, aktiv entgegen wirkt. Das mag anstrengend sein, kann sich aber im Umgang mit Autisten sehr lohnen.

Du kannst kein Autist sein …

Hinweis: Dieser Artikel betont die negativen Seiten von Autismus sehr stark. Dies sind jedoch bei weitem nicht die einzigen Aspekte, die Autismus ausmachen.


Du kannst kein Autist sein, du schaffst es ja zu studieren.
Du siehst, dass ich es schaffe zu studieren. Vielleicht siehst du sogar meine relativ guten Noten.
Was du nicht siehst sind die Wochenenden, die ich durcharbeiten muss. Um die Vorlesungen nachzuholen, die ich verpasst habe, weil ich zu überfordert war. Wie ich abends ins Bett falle, nachdem ich mir einen gesamten Tag lang nicht habe anmerken lassen, wie sehr meine Kommilitonen mich gestresst haben. Du siehst auch nicht, wie ich nach einer Woche solcher Tage aufgelöst unter meinem Schreibtisch liege.

Du kannst kein Autist sein, du hast eine Beziehung.
Du siehst, dass ich eine Beziehung habe. Was du nicht siehst ist wie viel Arbeit ich darin investiere, die Beziehung nicht an den Problemen scheitern zu lassen, die mein Autismus mit sich bringt. Du siehst nicht, wie lange ich im Nachhinein darüber nachdenken muss, was ich in einer Situation gesagt habe und wie die Antwort darauf gemeint sein könnte. Du siehst nicht wie anstrengend es für meinen Partner ist, dass ich nicht immer in der Lage zu körperlicher Nähe bin. Du siehst auch nicht, dass ich nicht immer in der Lage bin zu kommunizieren wie ich sollte und auch gerne würde.

Du kannst kein Autist sein, du hast Freunde.
Du siehst, dass ich Freunde habe. Was du nicht siehst ist der Aufwand, den es mich neben der Uni kostet, sie zu behalten. Die Tatsache, dass ich mehrere Kalender führe, um es zu schaffen mich regelmäßig zu melden. Wie viel Gedanken ich darin investiere, ihnen nicht versehentlich vor den Kopf zu stoßen. Wie ich aller Mühe zum Trotz manchmal dennoch scheitere. Du siehst auch nicht. wenn manche sich einfach nie wieder melden, ohne dass ich jemals erfahre warum.

Du kannst kein Autist sein, du bloggst/podcastest ja.
Du siehst, dass ich ein Projekt habe, mit dem ich in der Öffentlichkeit stehe, und demnach kein Autist sein kann. Du hörst eine halbe Stunde lang meine Episode und stellst fest, dass ich vollkommen normal bin. Du hast keine Ahnung von den zwei Tagen, an denen ich im Vorfeld das Gespräch vorbereitet habe. Oder dem weiteren Tag Nachbereitung, den es kostet, bis es so klingt als wäre mir das leicht gefallen, so dass die Leute es sich gerne anhören und im Endeffekt vielleicht ein paar Vorurteile weniger über Autisten haben. Davon profitieren am Ende alle Autisten.

Du kannst kein Autist sein, du leidest ja gar nicht.
Du siehst nicht wie ich leide. Das ist richtig. Unabhängig davon, wie viel ich von mir im Internet teile, liegt die Entscheidung darüber was ich teile einzig und allein bei mir. Und auch wenn ich mich über Autismus äußere, liegt es nicht in meiner Pflicht, dir darzulegen, warum ich leide, damit du entscheiden kannst, ob ich genug leide, um Autist zu sein. Zu diesem Schluss kam bereits eine Person, welche mich im Rahmen einer Diagnostik besser beurteilen konnte als du es im Rahmen meiner verkürzten Tweets, meiner dreifach korrekturgelesenen Blogbeiträge und meiner geschnittenen Podcasts jemals können wirst. Wenn ich entscheiden kann was ich über mich teile, dann sollen das nicht ausschließlich die negativen Aspekte von Autismus sein. Die kann man überall nachlesen. Aber nur weil ich sie dir nicht zeige, heißt das nicht, dass sie nicht da sind. Und nur weil ich für deine Maßstäbe nicht öffentlichkeitswirksam genug leide, heißt das nicht, dass ich keine Probleme habe. Geschweige denn, dass dich das etwas angehen würde.

Die Geburt einer Routine

Warum Routinen für mich sinnvoll sind und mir den den Alltag erleichtern, habe ich vor einiger Zeit bereits in einem anderen Text geschrieben. Darauf, wie diese Routinen entstehen, ging ich damals nicht näher ein, sondern stellte lediglich fest, dass sich diese Routinen einfach so ergaben.
Seitdem ist einige Zeit vergangen und das Thema flammte in meinen Gedanken immer mal wieder auf. Insbesondere dann, wenn ich die Bereiche meiner bestehenden Routinen verließ. Dabei kam ich zunehmend zum Schluss, dass diese Routinen durch mehr als Zufall so entstehen, sondern dass ich tatsächlich viel darüber nachdenke. Dabei ist mir jedoch nicht bewusst, dass ich gerade eine Routine plane.

Die Grundvoraussetzung für eine Routine ist naheliegendenderweise eine neue Situation, in der ich mich vorher noch nicht befand und mit der ich keine direkten Erfahrungen habe. Natürlich mache ich mir, sofern die Situation absehbar war, vorher Gedanken über mögliche Probleme und wie ich sie löse, aber im Vorfeld kann man da nie alle Eventualitäten absehen, so dass ab einem gewissen Punkt in der Planung weitere Planung einfach keinen Sinn ergibt.

In der Situation selbst handle ich dann mit einer Mischung aus meinen vorherigen Planungen (sofern der seltene Fall eintritt, dass diese mal mit der Realität kompatibel sind) und Erfahrungen aus ähnlichen Situationen. Dabei hilft es, dass ich nie ganze Ereignisse durchplane, sondern immer nur Teilsituationen. Häufig klappt das ziemlich gut, so ist es zum Beispiel relativ egal, ob ich meine Reisetasche nun am Ende des Besuchs bei meinen Eltern oder in einem Hotelzimmer packe. Manchmal muss ich jedoch auch leichte Anpassungen vornehmen, die aber unter dem Strich immer noch stressärmer sind, als die Herangehensweise an eine komplexe Begebenheit von Grund auf neu zu planen. Ich puzzle mir also aus den vielen kleinen Routinen eine neue Herangehensweise für eine bis dahin unbekannte Situation zusammen.

War es eine einmalige Ausgangslage, war es das an dieser Stelle. Im Idealfall habe ich das Ganze ohne größere Probleme bewältigt und kann mich wieder anderen Problemen zuwenden. In der Praxis ist so etwas jedoch selten einmalig und ich werde sicherlich noch in vergleichbare Gegebenheiten kommen. Durch diesen Aspekt und eine leicht selbstkritische Grundhaltung, gepaart mit Perfektionismus, ergibt es sich, dass ich im Nachhinein oft, ohne es mir vorzunehmen, über das Geschehene nachdenke. Dabei schaue ich, was nicht so gut klappte und was ich in Zukunft anders machen müsste, damit es besser läuft, wenn ich noch einmal in die Situation komme. Dabei muss nicht zwingend etwas schief gelaufen sein, häufig reicht schon der Umstand, dass etwas hätte besser laufen können, um den Ausgangspunkt für eine solche Überlegung zu liefern.

Komme ich erneut in eine solche oder eine vergleichbare Begebenheit, wende ich meine verbesserten Herangehensweisen darauf an und schaue, wie sie funktionieren. Anschließend suche ich erneut nach Verbesserungen. Auf diese Weise entsteht, je häufiger die Situation vorkommt, immer mehr das, was sich als Routine bezeichnen lässt. Dabei habe ich mich zu keinem Zeitpunkt entschlossen jetzt eine Routine zu planen, geschweige denn dieses Vorgehensschema zu entwickeln. Es hat sich über die Zeit entwickelt, ohne dass ich mir seiner Existenz bewusst war, so wie es auch mit vielen meiner Routinen ist. Jetzt stelle ich in der Rückschau fest, dass es mir über Jahre gute Dienste geleistet hat, indem es den Stress in vielen Situationen wesentlich abgemildert hat und ich sehr dankbar dafür bin.

Was bedeutet eigentlich NT?

Eine wesentliche Eigenschaft von Gruppen ist, dass sich mit der Zeit ein eigenes Vokabular bildet, das von Außenstehenden nicht ohne weiteres verstanden werden kann. Ein klassisches Beispiel hierfür sind wissenschaftliche Fachbegriffe, die häufig nicht einmal mehr von Wissenschaftlern aus anderen Fachgebieten verstanden werden.
Im Bereich des Autismus ist dies beispielsweise die Abkürzung NT. Dabei steht NT für Neurotypisch und dient dazu, Menschen zu kategorisieren, die keine neurologische Besonderheit, wie zum Beispiel Autismus, AD(H)S oder Depressionen aufweisen.

Historisch ist dieser Begriff aus einer Parodie der Autism-Rights-Bewegung entstanden, die versucht eine Selbstvertretung von Autisten für Autisten zu sein und sich für bessere Bedingungen in allen Bereichen des Lebens einsetzt.  Er diente den Autisten als Kategorie, in der Nicht-Autisten zusammengefasst werden konnten. Dabei wurde der Begriff der Neurotypischen Störung geprägt und mit Kriterien, ähnlich der Kriterien für eine Autismus-Diagnose, versehen. Aus dieser Parodie erwuchs im Laufe der Zeit ein feststehender Begriff, der von vielen Autisten benutzt wurde, um Nicht-Autisten zu bezeichnen. Dabei geriet der Ursprung in Vergessenheit und die Verwendung wandelte sich zu einer ernstzunehmenden Bezeichnung. Insbesondere, da sie eine Alternative zu dem ziemlich problematischen und doch häufig verwendeten „normale Menschen“ bot.
Dieser Aspekt war es vermutlich, der dafür sorgte, dass diese Bezeichnung auch in anderen Bevölkerungsgruppen zunehmend Verbreitung fand. Insbesondere unter Menschen mit AD(H)S etablierte sich dieser Begriff schnell, aber auch Gruppen mit anderen psychischen Auffälligkeiten gebrauchten ihn zunehmend zur Abgrenzung. Durch seine Verwendung außerhalb des Autismus-Kontexts manifestierte sich notwendigerweise auch ein Bedeutungswandel dieses Begriffs. Neurotypisch war und ist nun nicht mehr eine Bezeichnung für Nicht-Autisten, sondern für Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit waren.

Das Problem mit diesem Bedeutungswechsel hatten nun die Autisten, da ihnen erneut ein Begriff (und eine prägnante Abkürzung) fehlte, mit dem sie Personen ohne Autismus zusammenfassend benennen konnten. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich im Verlauf der letzten Jahre zunehmend die Abkürzung NA, für Nicht-Autist. Dabei umfasst die Personengruppe der NA sowohl NT’s, als auch andere Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die jedoch keine Autisten sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT. Eine Person mit ADHS gehört zum Beispiel zur Gruppe der Nicht-Autisten, nicht jedoch zur Gruppe der Neurotypischen.

tl;dr:
Neurotypisch (NT) bezeichnet alle Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit sind.
Nicht-Autist (NA) bezeichnet alle Menschen die frei von Autismus sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT.

Von anderen Overloads

Es gibt Tage, an denen prasselt die gesamte Umwelt so lange erbarmungslos auf die eigene Wahrnehmung ein, bis sämtliche Kompensationsmechanismen und Tricks an irgendeinem Punkt versagen und man keine andere Wahl mehr hat, als sich schleunigst eine ruhige Ecke zu suchen und dem Overload1 seinen Lauf zu lassen.

So oder so ähnlich ist die klassische Entstehung eines Overloads. Doch dann gibt es noch die wesentlich seltenere Variante, die quasi unbemerkt kommt und deren Entstehungsgeschichte Tage oder sogar Wochen vorher beginnt.So zum Beispiel Klausurenphasen eines Studiums und ihre Vorbereitung. In diesen Phasen gibt es kein einprasseln von Reizen oder keine direkte einzelne Situation, die die Reizfilterung ausschaltet und einen dringenden Rückzug erfordert. Es gibt nur Tage mit sehr viel konzentrierter Arbeit und Treffen von Lerngruppen, an deren Ende viel zu wenig Freizeit steht. Nicht angenehm, aber auch nichts, was einen Overload auslöst.
Problematisch wird es dadurch, dass so eine Klausurenphase dazu neigt, dass eine ganze Reihe dieser Tage aufeinander folgt, ohne dass es dazwischen Tage gibt, an denen man Schlaf aufholen könnte oder Dinge tun kann, die weniger Konzentration erfordern. Man macht einfach weiter und hat auch gar nicht die Zeit darüber nachzudenken, wie es einem gerade eigentlich geht.

Das funktioniert nicht ewig. Jeder dieser Tage, an denen man mehr Energie aufwendet als man gewinnt, geht auf Kosten von Reserven. Je nach der persönlichen Belastungsgrenze sind diese Reserven an irgendeinem Zeitpunkt aufgebraucht. Dass dieser Zeitpunkt erreicht ist, merke ich nur schleichend. Beispielsweise daran, dass ich egal wie sehr ich es versuche nicht schaffe, den Sinn von Texten die ich grade lese aufzunehmen. Oder daran, dass mich selbst Kleinigkeiten, die mich sonst nicht einmal ansatzweise stressen würden, wahnsinnig auf die Palme bringen. Oft braucht es sehr viele dieser Kleinigkeiten bis ich erkenne, dass ich grade scheinbar grundlos in einen Overload rutsche, und dann irgendetwas dagegen unternehmen kann, damit es nicht noch schlimmer wird.

Häufig passiert dies an Tagen, an denen gerade weniger los ist. Wenn ich Glück habe, sind das die Tage, an denen die Stressphase ohnehin endet und ich habe einige Tage Zeit, die Energiereserven wieder aufzufüllen. Habe ich weniger Glück, bleibt an dieser Stelle nur schnellstmöglich eine Ruhepause einzulegen, um die Energie soweit auffüllen zu können, dass ich irgendwie bis zum Ende der Phase weitermachen kann.

Das Phänomen, dass Autisten Dinge tun, die sie eigentlich nicht schaffen sollten, ist dabei kein seltenes. Gerade Autisten die „funktionaler“ erscheinen und denen man ihren Autismus nicht unbedingt anmerkt, sind in der Lage in Situationen, die an ihre Grenzen gehen, weiterzumachen. Dabei verschwinden der Stress und die Überforderung jedoch nicht. Sie werden nur aufgeschoben, bis an irgendeinem Zeitpunkt, an dem kein Auslöser erkennbar ist, der Overload, oder im Extremfall der Meltdown, eintritt.