Menschwerdung – Das Konzept von Normalität ist nur eine Kollektivneurose

Als ich meiner Mutter erklärte, dass ich Autismus habe und was das ist, da fragte sie ganz schockiert:

Meine Güte, Kind, wie willst Du nur damit leben?!

Sehr gute Frage. Ich hab noch eine: „Wie habe ich es denn bis hierhin geschafft?“ Ich habe einfach immer weitergemacht. Irgendwie, auch wenn ich längst kaum noch Kraft hatte. Auch wenn die Menschen mich am laufenden Band immer wieder falsch verstanden. Auch wenn ich immer wieder selbst nicht begriff, wieso ich die einfachsten Dinge andauernd nicht auf die Reihe bekam. Ich schreibe in der Vergangenheitsform, denn es hat sich etwas grundlegendes verändert. Ich habe herausgefunden, dass ich Autistin bin. Ohne diese so essentielle Information wäre ich auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung verschwunden. Ich wäre untergegangen, hätte mich selbst endgültig aufgegeben.

So hilfreich das Wissen um Autismus ist, ist es doch manchmal frustrierend, dass ich die Frage meiner Mutter noch nicht klar beantworten kann. Und dann frage ich mich selbst: Meine Güte, wie will ich damit weiterleben? Wie viele Jahre muss ich MICH noch ertragen? „Ein ganzes Leben mit Autismus“ wäre ein netter Buchtitel, aber ist nicht unbedingt immer eine angenehme Realität. Wie ich damit in Zukunft leben will? Ich werde es besser machen als mein Leben zuvor lief. Natürlich bleiben Schwierigkeiten. Es gibt immer noch Missverständnisse, ich verstehe nicht alles, ich bin schnell überfordert, ich habe ständig Reizüberflutungen und brauche Stereotypien.

Aber: Ich verstehe jetzt, was mit mir ist. Ich stelle mich darauf ein. Ich kann den Menschen erklären, warum ich so bin, und wieso ich so handle wie ich es tue. Und gemeinsam lassen sich Lösungen finden, wenn wir alle aufeinander zugehen. Und manchmal ist es hilfreich, einen Autisten zu haben, der blanke Freude an einer Aufgabe hat, die für die Kollegen rasend langweilig ist.

Ich versuche, das Beste aus meinem Leben zu machen, so gut ich eben kann. Und irgendwann werde ich zurückschauen und froh darüber sein, dass ich aus meinem Leben mehr gemacht habe, als ich es mir hätte träumen lassen. Weil ich nachgedacht habe darüber, wer ich bin, vor allem warum ich so bin wie ich bin, und wohin ich gehen möchte. Weil ich mich entschieden habe, vorwärts zu gehen, auch wenn ich manches erst nach der vierten Erklärung verstanden habe, auch wenn ich ständig irgendwelche Gegenstände geraderücken muss, und Muskelkrämpfe im Gesicht habe von der vielen Mimik, die ich im Alltag benutzen muss. Auch wenn ich für manches dreimal so lange brauche wie „normale“ Leute.

Und ich bin mir sicher: Das Konzept von Normalität ist nur eine Kollektivneurose. Jeder hat Stärken und Schwächen. Jeder hat Abneigungen und Vorlieben. Jeder hat Dinge, die er gut kann, und solche, die er nicht kann. Zufällig gibt es für manches eben Überbegriffe, die bestimmte Eigenschaften zusammenfassen. Wir alle haben unseren Platz in dieser Welt. Wir müssen nur herausfinden, wie wir das erreichen, was wir erreichen wollen. Ob man Autist ist oder nicht, ist diesbezüglich nebensächlich. Wir sind alle Menschen. Und es sind die festgefahrenen Vorurteile in unseren Köpfen, die wir durchbrechen müssen.


Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus“.

Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du in diesem Artikel.

Menschwerdung bloggt und twittert als @Menschwerdung.

3 thoughts on “Menschwerdung – Das Konzept von Normalität ist nur eine Kollektivneurose”

  1. Petra

    Ich habe ein Problem. Ich möchte einen Kommentar hinterlassen. Ich finde den Text super. Gerade der letzte Absatz gefällt mir sehr gut. Nur wie schreibe ich das? Ich habe den Text jetzt mehrfach geschrieben, wieder umformuliert und neu geschrieben. Warum ist das so schwer? Ich möchte doch nur Menschwerdung schreiben, dass ich alles was da steht richtig gut finde. Letztendlich also die Entscheidung, es so zu schreiben, wie es jetzt hier steht. Auch wenn es etwas seltsam erscheinen mag. Aber ich denke wie mir geht es vielen anderen auch. Komplimente sind irgendwie immer schwieriger zu formulieren finde ich…

    1. Mensch

      Ich kenn das aber auch sehr gut… Ich hab auch immer das Gefühl, es genau so, wie ichs geschrieben habe, falsch gemacht zu haben. Ist gar nicht so einfach, da etwas zu sagen/schreiben, was nicht wie eine auswendig gelernte Phrase klingt.
      Vielen Dank! <3

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