Charlotte – Irgendwie schmerzlich schön

Bis zu meinem 8. Lebensjahr glaubte ich der Mond und die Sonne seien eins. Quasi ein Himmelskörper mit gespaltener Persönlichkeit. Am Tage fordernd, aber motivierend und am Abend allein unter diesen Sternen, unverstanden, aber zuversichtlich.

Natürlich waren in meiner Vorstellung der Mond und die Sonne schon zwei vollkommen verschiedene Dinge. Jedoch teilten sie sich den Platz. Auch die Tatsache, dass der Mond im Laufe des Monats immer kleiner wurde, lies mich nicht an meiner Vermutung zweifeln.

Ich weiß nicht, warum ich solange glaubte, der Mond und die Sonne seien ein und die selben astronomische Elemente, da ich mir sicher bin darüber aufgeklärt wurden zu sein. Vermutlich hatte ich mir diese naive Vorstellung in meinem Kopf sorgfältig zusammen gebastelt und konnte mich von ihr einfach nicht trennen.

Immerhin steckten hinter solchen Fantasien unheimlich viel Detail. Man durchdachte und baute und wünschte und gewöhnte sich so an diese Idee, dass einem die Realität immer ziemlich hart traf.

Ich fragte meine Mutter mit fünf Jahren, ob ich Blindenschrift erlernen könne, da ich die Raufasertapete so gerne einmal verstehen würde, denn Raufasertapeten seien doch übergroße Bücher in Blindenschrift.

Das ist ein Ausschnitt meiner Wahrnehmung in Kindertagen.

Nach wie vor gleichen meine Sinne keinem Nicht-Autisten, aber das finde ich gut. Mein Autismus gibt mir die Möglichkeit auf ungewöhnliche Details zu achten, was mich zu einer guten Fotografin macht und mich von Zeit zu Zeit nette Texte schreiben lässt. Und ich einige Menschen immer wieder mit Detailwissen beeindrucken kann und von selbigen heute auch nicht mehr als schräg und sonderbar sondern, als besonders eingestuft werde. Dazu sei gesagt, Ausnahmen bestätigen die Regel. Mensch ist nicht gleich Mensch. So wie Autist nicht gleich Autist ist.

Hallo, mein Name ist Charlotte, bin 22 Jahren alt und seit fast einem Jahr diagnostizierte Asperger- Autistin. Ich mag es, ich zu sein. Aber es bedeutet auch starke Nerven zu haben und nicht darauf zu hoffen, von allen Menschen irgendwann verstanden zu werden.

Vielleicht, wenn ich groß bin, führe ich ein „normales“ Leben. So mit Haus am See und weniger Chaos. Vielleicht. Aber bis dahin, mach ich all das durch, was fast jeder junge Mensch durchmacht. Denn so anders bin ich nicht.


Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus“.

Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du in diesem Artikel.

Charlotte ist 22 Jahre alt und wurde ungefähr ein Jahr vor der Veröffentlichung dieses Beitrags diagnostiziert.

2 thoughts on “Charlotte – Irgendwie schmerzlich schön”

  1. Nils

    … Raufasertapeten seien doch übergroße Bücher …
    Stellt euch vor, wie viele Geschichten nur darauf warten, entdeckt zu werden! Da könnte ein ganz neuer Zweig der Archäologie entstehen; an Universitäten gäbe es Rauhfasertapetenexegese; neugierig würden Leute auf jeder Rolle geheime Botschaften suchen und sie nur ganz ganz vorsichtig ausrollen. Fantastisch!

  2. Petra

    Zitat: „Aber bis dahin, mach ich all das durch, was fast jeder junge Mensch durchmacht. Denn so anders bin ich nicht.“

    Ich finde diese Worte SO wichtig, denn irgendwie scheinen das ganz viele Leute einfach nicht zu kapieren. Autisten (genau genommen alle Menschen, die in irgendeiner Weise behinder sind / werden) darf man nicht nur darauf reduzieren, anders zu sein. In erster Linie sind sie erst einmal Menschen. Das andere ist nur ein besonderes Merkmal dieses Menschen.

    Letzte Woche war meine Tochter trotzig, weil sie ihren Willen nicht bekam (wir hatten vorher schon mehrfach besprochen, dass ihr Wunsch diese Woche erfüllt wird). Ihre Therapeutin versuchte diesen Dickkopf irgendwie mit Autismus zu begründen, wofür ich absolut kein Verständnis hatte, denn das Verhalten hatte in diesem Fall absolut nichts mit Autismus zu tun. Dafür kenne ich meine Tochter inzwischen gut genug.

    Mag sein, dass ein Mensch mit Autismus einige Lebensphasen zeitverzögert durch macht. Mag sein, dass er eine andere Wahrnehmung hat. Aber ein Mensch mit Autismus ist kein „Autismus-Roboter“. Nicht alles was dieser Mensch tut oder sagt, hat einen Bezug zum Autismus. Ein Mensch mit Autismus kann auch mal ganz einfach Bauchschmerzen haben, OHNE dass es einen „autismusspezifischen Grund“ dafür gibt.

    Es ist schade, dass der Autismus von der Umwelt meistens entweder über- oder unterbewertet wird. Am wichtigsten ist nach wie vor, das generalisierende Schubladendenken abzuschaffen. Für alle Menschen.

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