Author: Benjamin Falk

Ein paar Worte zu Modediagnosen

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In den letzten Jahren war eine wachsende Anzahl an Diagnosen innerhalb des autistischen Spektrums zu beobachten. Diesen Fakt kann man auf verschiedene Arten betrachten.

Eine Möglichkeit ist, in hoffnungslose Panik zu verfallen und eine Autismus-Epidemie heraufzubeschwören und das Ganze zur nationalen Krise im Gesundheitssystem zu stilisieren. Diese Betrachtungsweise empfiehlt sich besonders, wenn man in den USA beheimatet ist und dringend Geld sammeln muss, um Autismus bekämpfen zu können.

Eine etwas weniger panische Möglichkeit, die überall aus dem Nichts hervorspringenden Autisten zu erklären, ist es, das Ganze zu einer Modediagnose zu machen. Das sind ja ohnehin alles keine richtigen Autisten sondern nur diese weichgespülten. Da man das ja auch immer im Fernsehen sieht, ist Autismus ja gerade besonders cool. Jeder will doch Autist sein.

Vor kurzem über einem Jahr durfte ich hier einen Leserbrief veröffentlichen, der den von den Medien propagierten Mythos der Modediagnose demontierte. In den letzten Monaten stieß ich im Austausch mit anderen Autisten zunehmend häufiger in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf diesen Begriff.

So scheint es zum Beispiel so, dass irgendwo in Deutschland Diagnostiker sitzen, die Patienten erst einmal mit dem pauschalen Verdacht begrüßen, sie wollen nur Autisten sein, weil das grade “In” sei.
Ich erlebe Autisten, die zu ihrer Diagnose sagen, dass sie gestellt wurde, bevor Autismus modern war.
Gestern hörte ich zum zweiten Mal davon, dass die Reaktion des Umfelds auf die Diagnose ein “Ach, das wollen doch jetzt alle sein.” war.

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Mein Autismus (in 500 Worten) Teil 2

„Der Autismus“ ist etwas, das es nicht gibt. Das erkläre ich immer wieder, doch was das wirklich heißt, wird kaum deutlicher, als wenn viele Autisten beschreiben was Autismus für sie eigentlich wirklich bedeutet.
Das ist etwas, was ich ganz naturgemäß nicht alleine schaffen kann. Vor etwas über einem Jahr startete ich hier eine Reihe, in der Autisten schilderten, was ihr Autismus für sie bedeutet. Viele fanden den Mut und die Kreativität, sich zu beteiligen, so dass über mehrere Monate ein breites Spektrum an Beiträgen von vielen verschiedenen Menschen entstand.
An diesen Beiträgen möchte ich anknüpfen und zu einer Fortsetzung dieser Reihe einladen.
Die Grundlage für die Fortsetzung wird die gleiche Frage wie auch schon im ersten Teil sein.

Was bedeutet dein Autismus für dich?

Das Ergebnis soll ein Text sein, der maximal aus 500 Worten besteht und einen konkreten Einblick darin liefert, was Autismus ganz konkret für dich bedeutet, sowohl für dich persönlich als auch im Umgang mit anderen. Ansonsten sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Einen konkreten Termin für den Start der Reihe möchte ich noch nicht festlegen, da ich das von der Menge und der Zeit der Einsendungen abhängig machen werde.
Für Fragen oder Einsendungen steht die folgende E-Mail-Adresse zur Verfügung:

500worte@realitaetsfilter.com

Mit dem Einsenden eines Gastbeitrags erklärst du, dass der Text von dir verfasst wurde und du die Rechte an diesem Text hast. Außerdem gestattest du die unbefristete Veröffentlichung des Beitrags in diesem Blog, jedoch keine Verwendung darüber hinaus.

 
UPDATE: Einsendungen sind jetzt dauerhaft möglich: Link

dasfotobus: „Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid“

dasfotobus hat ein paar Gedanken zum Mitleid mit Behinderten und Autisten im Speziellen gebloggt. Dringend mal notwendig gewesen und absolut lesenswert.

Manchmal lese ich solche Sätze: “Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid.”, wenn es um Behinderungen allgemein oder um Autismus speziell geht. Wie fühle ich mich damit?
Egal wie gut es gemeint sein mag:

Mitleid entwertet mein Leben.

Weiterlesen: Mit solchen Menschen hab ich eh voll Mitleid.

„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“ (Suchtreffer Teil 3)

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Hinweis: Die Auswahl der Suchen, die ich hier behandeln werde, ist rein subjektiv, nicht zwingend repräsentativ und in keinem Fall vollständig! Die Reihenfolge der hier behandelten Ergebnisse lässt übrigens keinerlei Rückschluss auf die Häufigkeit der Suchtreffer zu.

„Ihr seid doch alle Individuen.“
„Ja, wir sind alle Individuen.“
„Und ihr seid alle völlig verschieden.“
„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“
„Ich nicht!“

Das Leben des Brian (1979), Monty Python
(Video im englischen Original)

Einer der Punkte, an denen ich mich in Diskussionen über Autismus immer wieder stoße, ist die Frage, wie man bei Autisten denn Sache X erreichen kann. Es gibt mehrere Sachen, die mich daran stören, erst einmal hat diese Fragestellung ganz oft so einen leichten Anklang von der Frage nach einer Bedienungs- und Manipulationsanleitung. Ich persönlich beantworte diese Frage für mich selbst meist mit einem “Einfach mal nachfragen”.

Das Hauptproblem bei dieser Frage ist aber, dass es eine Gemeinsamkeit schafft wo keine ist. Ein Mensch lässt sich nicht auf seinen Autismus reduzieren.
Wenn man mich fragen würde, wie man bei Menschen Sache X erreichen kann, würde ich wohl eine ganze Reihe von Ideen haben, wie ich bei einzelnen Menschen da Erfolg erziele. (Also jetzt mal abgesehen von Nachfragen …) Aber ich hätte keine einzige Idee, wie das allgemeingültig funktionieren würde. Bei Autisten ist das nicht anders. Sicherlich haben Autisten gewisse Gemeinsamkeiten, aber es gibt eben keine allgemeingültig autistischen Charaktereigenschaften.

“autisten öffnen”

Symbolfoto DosenöffnerSymbolbild

(Ich gehe im nun Folgenden davon aus, dass “Autisten öffnen” im Sinne von “an Autisten herankommen” gemeint ist, für chirurgische Eingriffe bin ich der falsche Ansprechpartner.)
Menschen zu erreichen ist, auch ohne Autismus, eine Sache, die nicht so ganz einfach ist. Wenn man nun einen Autisten vor sich hat, der eher introvertiert ist, macht es die ganze Sache sicherlich nicht einfacher.
Im Grunde unterscheidet sich die Herangehensweise gar nicht so sehr bei Autisten und Nicht-Autisten. Wenn man Menschen erreichen will, wird man das nicht, indem man versucht sie gegen ihren Willen irgendwo herauszureißen.
Die erste Frage sollte ohnehin sein, was will ich von der Person, warum will ich, dass sie sich öffnet, und ist das eigentlich so gut für sie, wenn sie sich jetzt öffnet, oder zwinge ich ihr etwas auf.
Wenn ich einen Menschen erreichen will, betrachte ich wofür sich dieser Mensch interessiert und versuche hierüber eine Verbindung aufzubauen. Es ist für Menschen immer einfacher, sich auf andere einzulassen, wenn das über die eigenen Interessen funktioniert.

„kann ein autist alleine leben“

Ja, Autismus allein ist nicht zwingend ein Grund, kein eigenständiges Leben zu führen. Viele Autisten erhalten ihre Diagnose erst in einem verhältnismäßig fortgeschrittenen Alter. Die allermeisten von ihnen lebten vorher nicht betreut.
Praktisch hängt die Frage nach dem allein Leben hauptsächlich davon ab, wo man sich im Spektrum befindet und wo die Probleme da ganz konkret liegen. So haben Autisten, die nicht in der Lage sind sich selbstständig zu artikulieren, sicherlich mehr Probleme und Herausforderungen, die sie beim alleine Leben meistern müssen, als Autisten mit unauffälligeren Ausprägungen. Wobei auch diese kein Garant sind, dass das mit dem alleine Wohnen problemlos ablaufen wird.
Genauso, wie die Probleme hier sehr stark variieren können, gibt es auch viele Abstufungen der Hilfen, zwischen alleine und betreut wohnen, wie zum Beispiel ambulant betreutes Wohnen oder Haushaltshilfen. Das sollte sich aber nach den wirklichen Problemen im Alltag richten, allein eine Autismus-Diagnose ist noch kein Grund, sich um betreutes Wohnen zu bemühen.

“sprechen autisten über politik?”

Ich bin ein bisschen irritiert darüber, dass es doch einige Menschen gibt, die diese Frage so sehr beschäftigt, dass sie sie googlen. Der böse Teil meiner Selbst würde dazu sagen, dass so oft wie ich “politischer Autismus” in der letzten Zeit als Vorwurf höre, sie nicht nur drüber reden, sondern sie auch machen. Aber das ist ein anderes Thema, dem ich mich hier jetzt nicht unbedingt widmen werde. Das taten schon Andere.

Es gibt eigentlich nichts, über das Autisten nicht sprechen. Auch wenn scheinbar der Eindruck entsteht, dass die Interessen von Autisten sich auf Computer und das Zählen von Zahnstochern beschränken, ist das in der Praxis nicht so. Unerwarteterweise sind die Interessen von Autisten so breit gestreut wie beim Rest der Menschheit auch. Auch wenn es durchaus eine Häufung im Bereich Computer gibt, ist diese meiner Beobachtung nach längst nicht so groß, als dass sich dort irgendwelche allgemeinen Aussagen über die Interessen von Autisten ableiten ließen.

Das Problem, dass versucht wird, Menschen über den Kamm Autismus zu scheren und Gemeinsamkeiten über eine Diagnose hinaus zu schaffen, wo eigentlich keine sind, trifft man immer wieder, aber Autismus ist eben nur Teil von dem, was einen Menschen ausmacht.

Das Chaos da draußen

Literatur rund um Autismus ist ein Dauerproblem, vor dem jeder, der versucht hat eine Literaturliste zu erstellen, schon gestanden hat.
Es ist schwer, Bücher über Autismus zu finden, die wirklich aktuell sind und nicht nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums betrachten, aber so tun als wäre es das ganze.
Noch schwerer ist es Literatur für Autisten zu finden. Es gibt nur sehr wenige Bücher die speziell für Autisten geschrieben wurden, und dann leiden diese oft an den typischen Symptomen von Selbsthilfebüchern: Sie haben den einzig wahren Weg für die Lösung aller Probleme gefunden. Dazu kommt noch eine gewisse “Alles ist möglich wenn du nur genug willst”-Mentalität, die diesen Büchern oftmals einen Wert deutlich unterhalb der Druckkosten beschert.

Aus diesem Grund lese ich recht wenig Bücher über Autismus und für Autisten. Ich suche den Austausch mit anderen Autisten, lese Blogs und gelegentlich auch Foren. Nun ergab es sich, dass Lasse, mit dem ich seit längerem in der Selbsthilfearbeit zu tun habe, ein Buch schrieb was mich neugierig machte.

Lasse von Dingens – Das Chaos da draußen

Aufgrund meiner oben geschilderten Erfahrungen mit Literatur war ich etwas skeptisch bevor ich begann das Buch zu lesen.
Der Autor ist Asperger-Autist, diagnostiziert wurde er mit 32.  In diesem Buch sammelte er seine und andere Erfahrungen aus einem Leben mit Autismus. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Sammlung von Situationen in denen man als Autist in Probleme geraten kann und Lösungsansätze und Tipps, wie man diese bewältigen könnte. Er gibt Hinweise, worauf es wichtig sein kann zu achten, z.B. bei Vorstellungsgesprächen, oder am Arbeitsplatz.

Dieses Buch soll nicht als Anleitung zum “Nichtautistwerden” verstanden werden. Hier soll kein Druck im Sinne von “Zwang zur Veränderung” erzeugt werden. Jede Veränderung ist nur dann möglich, wenn man selber zu dem inneren Entschluss gelangt ist, diese Änderung auch wirklich selber zu wollen.
(…)
Seine eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um sich einfacher in der Welt der Nichtautisten zurecht zu finden, ist noch lange kein “Verrat seiner selbst”, oder ein “Verbiegen zum Wohle der anderen”. Vielmehr ist es als eine zusätzliche Qualifikation zu sehen, sich in zwei unterschiedlichen Welten zu bewegen. Die wenigsten Nichtautisten können dies, da ihnen eine Welt weniger zur Verfügung steht.

Was dieses Buch meiner Meinung nach sehr auszeichnet, ist die Tatsache, dass der Autor gar nicht versucht, eine “Gebrauchsanleitung” für ein Leben mit Autismus zu schreiben, wohl weil ihm klar ist, dass es so etwas nicht geben kann. Anders als viele Bücher, die wie oben erwähnt eine Universallösung verkaufen, betrachtet der Autor die Möglichkeiten die sich ergeben, gibt Hinweise dazu, aber sagt nicht, welche Lösung die richtige ist, weil es keine richtige Lösung gibt.
Das fordert auf der anderen Seite aber auch einiges Nachdenken vom Leser. Es ist nicht immer möglich hier einen kompletten “Fahrplan” aus einem Kapitel zu ziehen, der einen durch die entsprechenden Situationen und Knackpunkte führt. Hier muss der Leser selbst reflektieren und sich einen eigenen Weg erarbeiten. Wobei ich persönlich die Erfahrung gemacht habe, dass ich auf selbst ausgearbeiteten Wegen immer weiter kam, als mit bereits fertig von anderen präsentierten.
Man muss dieses Buch nicht in einem Stück durchlesen. Die Art in der es geschrieben wurde ermöglicht ebenso, es als Nachschlagewerk für einzelne Situationen zu benutzen. Die einzelnen Kapitel sind losgelöst voneinander geschrieben und wo Bezüge zu anderen Kapiteln hergestellt wurden, sind diese direkt mit angegeben.

Alles in allem ist dieses Buch eine nützliche Sammlung von Hinweisen und guten Ratschlägen, einige der Ratschläge in diesem Buch wende ich, teilweise ohne drüber nachzudenken, selbst schon länger an und mache damit ziemlich gute Erfahrungen. Ich fand viele Dinge, über die ich so in der Form bisher noch nicht nachgedacht habe, sodass ich dieses Buch für Menschen, die selbst das Bedürfnis haben, mit ihrem Autismus umgehen zu lernen nur empfehlen kann.

Das Chaos da draußen ist bei Books on Demand erschienen, hat in der Printausgabe 196 Seiten und ist für 14,99€ zu haben. Außerdem ist es für 11,99 als eBook bei den Buchhändlern des Vertrauens erhältlich.

Was ist Asperger denn nun…

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Ich verbringe viel Zeit damit, zu erklären, was Asperger nicht ist. Kein Autismus light, keine Vorstufe zu Autismus, und mit Spargel hat es auch nichts zu tun.

Bevor ich darauf eingehe was Asperger ist, möchte ich darauf hinweisen, dass sich dies ausschließlich um meine persönliche Meinung handelt, ich habe nicht den Anspruch eine wissenschaftlich hieb- und stichfeste Definition zu schreiben, sondern beziehe mich auf meine eigenen Erfahrungen sowohl mit mir selbst, als auch mit anderen Asperger-Autisten.

Das Asperger-Syndrom hat im noch aktuellen ICD-10 den Schlüssel F84.5. Damit gehört es zur Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Es “ist durch dieselbe Form qualitativer Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen, wie für den Autismus typisch, charakterisiert, zusammen mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten.” Soviel zur Theorie. Jeder, der aus diesem Satz nach dem ersten Lesen ein treffendes Bild über Asperger-Autisten ableiten kann, darf sich bei mir jetzt eine Tüte Gummibärchen abholen. Für alle anderen bleibt die Frage: Was heißt das in der Praxis?

Es ist üblich, eine Störung/Behinderung an ihren Defiziten zu beschreiben. Das ausschließlich zu tun macht bei Autismus wenig Sinn, vor allem, da nicht alles was gemeinhin als gestört gilt auch zwingend nur negative Seiten hat. Trotzdem möchte ich hier mit den Defiziten beginnen.
Im Grunde lassen sich die Probleme von Asperger-Autisten, nach meiner Beobachtung, in zwei grobe Kategorien einteilen. Probleme mit Umgebungsreizen und Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Hier gibt es aber keine exakte Grenze, sondern eine ziemlich große Schnittmenge zwischen diesen Bereichen.

Zuerst etwas zur Wahrnehmung. Der Mensch nimmt viele Dinge wahr, mehr als er verarbeiten kann. Aus diesem Grund sortiert das Gehirn der meisten Menschen vor. Es trennt wichtige Informationen von unwichtigen und so gelangt nur das, was diesen Selektionsprozess überstanden hat, wirklich in die bewusste Wahrnehmung.
Das funktioniert bei Asperger-Autisten nicht ganz so wie es soll. Die Informationen aus der Umgebung werden wenig oder gar nicht vorsortiert. Das Sortieren der Informationen und das Lenken der Aufmerksamkeit auf die relevanten Teile, zum Beispiel das gerade laufende Gespräch, oder der gerade vortragende Professor, muss bewusst stattfinden. Ich, und das hörte/las ich schon von vielen Asperger-Autisten, habe einen sehr ausgeprägten Detailblick, das heißt ich nehme das Meiste nicht als Gesamtbild wahr, sondern sehe die einzelnen Details nacheinander. So besteht zum Beispiel ein Sonnenuntergang am Meer für mich aus dem Jogger, der mit dem Hund den Strand entlang läuft, dem abgebrochenen Wellenbrecher, der herumfliegenden Plastiktüte, der anderen Farbe, die das Meer an der untergehenden Sonne hat, etc.…

Das bewusste Konzentrieren auf die wesentlichen Aspekte einer Situation kostet Energie, die Menschen, die nicht bewusst Filtern müssen, für andere Dinge verwenden können. Der Punkt, an dem nicht mehr genug Kapazitäten zur Verfügung stehen, um die unwesentlichen Details auszufiltern, ist der Punkt, an dem Asperger-Autisten das Problem der Überforderung haben. Wie sich das anfühlen kann beschreibt Querdenkender an anderer Stelle.

Das ganze klingt erst einmal ziemlich negativ, und das Ganze positiv zu betrachten scheint nicht so einfach. (Wirklich schwer das positiv zu betrachten fällt es aber erst, nach der 8. Stunde Vorlesung zu den Klängen von einer Strandparty, einer Baustelle und Laubbläsern…) Trotzdem kann ich, für mich gesprochen, durchaus auch die positiven Seiten einer anderen Wahrnehmung sehen. Dadurch, dass mehr Details meine bewusste Wahrnehmung erreichen, bekomme ich Dinge mit die vielen Anderen entgehen. Was zum Beispiel beim Suchen nach Fehlern und Defekten ziemlich praktisch ist.

Die andere grobe Kategorie ist der Umgang mit anderen Menschen. Die Besonderheiten hier sind sicherlich auch mitbedingt durch die andere Wahrnehmung. Manche Menschen gehen sogar soweit, alles auf die Wahrnehmung zurückzuführen.
Kommunikation zwischen Menschen ist ein komplexer Vorgang, auch wenn sich die meisten darüber nicht bewusst sind. Viele Informationen in der Kommunikation werden nicht allein von Sprache übermittelt. Nonverbale Kommunikation macht hier einen großen Anteil aus.  Mithilfe von Mimik, Gestik, Tonlage, Körperhaltung und auch Blicken wird der rein sachlichen/informativen Bedeutung der Sprache zusätzliche Bedeutung verliehen. Diese kann entweder die sprachlich übermittelte Information unterstützen, oder sie auch komplett umdrehen. So bedeutet ein “Nein, Schatz ich bin nicht sauer auf dich” im entsprechenden Tonfall meist alles, aber auf keinen Fall, dass der Partner nicht sauer ist.
Die meisten Menschen interpretieren diese nonverbale Kommunikation unbewusst, sie “wissen” einfach wie etwas gemeint ist. Anders bei Asperger. Ich war mir lange Zeit nicht darüber bewusst, dass man Dinge manchmal anders sagt als man sie meint, oder man ohne es zu sagen weitere Informationen mitliefert. Bis ich anfing, mich, damals zwangsweise im Deutschunterricht, mit Schulz von Thun und seinen Seiten einer Nachricht auseinanderzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die nonverbale Kommunikation nicht wahrgenommen, und dadurch auch nie darüber nachgedacht, sie zu interpretieren. Nachdem ich wusste, dass sie da ist konnte ich lernen sie zu interpretieren, aber auch das ist, wie das Filtern von Informationen, ein bewusster Vorgang, der Energie erfordert.
Dazu kommt, dass ich, wenn ich mich auf die gesamte Mimik und Gestik konzentrieren würde, nichts mehr vom Gespräch erfassen könnte, daher konzentriere ich mich auf einen Teil der nonverbalen Kommunikation, in meinem Fall Tonlage und Mundbewegungen. Andere Asperger, sofern sie darauf zu achten gelernt haben, beziehungsweise die Möglichkeit dazu hatten, konzentrieren sich auf andere Aspekte.

Ein anderer Aspekt des menschlichen Miteinanders sind Rituale, die nur schwer nachzuvollziehen sind, wenn man sie nicht unbewusst durch Sozialisation erlernte. Das kann manchmal schon bei Kleinigkeiten wie die Verwendung von Bitte und Danke anfangen. Bei mir selbst merke ich, dass solche Dinge schnell mal verloren gehen, wenn grade genug andere Dinge da sind, auf die ich mich konzentrieren muss. So rätseln die Leute, mit denen ich am Karfreitag essen war, wahrscheinlich immer noch wie ich eigentlich heiße, da ich beim koordinieren von Begrüßung und Gesprächen irgendwie vergaß, dass es sich beim kennenlernen von Leuten anbietet, den eigenen Namen zu nennen. Das hat nichts mit schlechter oder fehlender Erziehung zu tun.

Auch hier stellt sich wieder die Frage, wo zur Hölle soll da etwas Positives dran sein. Es ist so, dass viele Menschen in meinem Bekanntenkreis zu mir kommen, wenn sie gerade emotionales oder zwischenmenschliches Chaos haben. Nicht weil ich so gut darin bin, Mitgefühl zu zeigen, sondern eher, weil ich mich mit der Kommunikation und den Gefühlsreaktionen bewusst auseinander gesetzt habe und einen objektiveren Blick “von außen” darauf haben kann. Manchmal sehe ich so Lösungen, die Andere nicht gesehen haben. Wenn Freunde von mir auf der Suche nach Trost sind, bin ich dafür meist sehr weit hinten auf der Liste.

Fazit: Man kann über die Definition aus dem ICD sagen was man will, aber kürzer als mein Text ist sie definitiv. Denjenigen, die sich bis hierher durch den Text gearbeitet heben, möchte ich gratulieren. Dem Rest, der einfach nach unten scrollt und hofft, hier einen kurzen prägnanten Satz zu finden, was Autismus ist, kann ich nur raten das Mausrad wieder nach oben zu bewegen. Einen solchen Satz kann es nicht geben. Autismus ist ein Spektrum und Asperger ein Teil innerhalb dieses Spektrums, es ist bei niemandem gleich ausgeprägt. Nicht jeder hat die oben genannten Probleme in der gleichen Ausprägung und oft genug kommen noch weitere Probleme dazu. Daher kann ein solcher Text, der sich nicht auf reine Definitionen beschränkt, nur subjektiv geschrieben sein.

Autismus ist…

Autismus ist, wenn Dir scheißegal ist, dass Dein Leben den Bach runter geht, aber WEHE DER STIFT LIEGT NICHT GERADE NEBEN DEM BLATT! - @hoch21

Dieser Tweet ziert seit einigen Wochen die Wand über meinem Schreibtisch. Von einigen Menschen wurde ich daraufhin gefragt, warum denn, da würde doch das totale Klischee von Autismus breitgetreten. Andere fragten mich, warum denn, das hätte ja mal überhaupt nichts mit Autismus zu tun. An dieser Stelle möchte ich erklären, warum ich diesen Tweet sehr passend finde.

Wie ich an einigen Stellen schon erklärt habe, merkt man mir meinen Autismus nicht an.
“Aber Moment, müssten deine Kommilitonen nicht merken, wenn du durch den Vorlesungssaal läufst und Stifte gerade rückst?”
Natürlich würden sie das merken, deshalb mach ich das ja auch nicht. Die Liste der autistischen Verhaltensweisen, die gut erkennbar sind, ist lang. Sei es das Sortieren und Anordnen von Gegenständen, das Flattern mit den Händen oder das Wippen mit dem Oberkörper. Aber das tun Autisten nicht zwingend immer und nicht 24 Stunden am Tag. Bei mir ist es, wie bei vielen anderen Autisten die ich kenne, so, dass viele der autistischen Verhaltensweisen nur dann in den Vordergrund treten, wenn ich einen relativ hohen Stresspegel habe.
”Aber wenn du dir aussuchen kannst, wann du solche Sachen machst, warum machst du sie dann überhaupt?”
Sich selbst zurückzuhalten ist dummerweise nicht immer einfach und kostet einiges an Kraft. Nehmen wir zum Beispiel Hildegard. Es fällt ihr sichtlich schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren und nicht weiter auf die Nudel zu reagieren. Ich brauche dazu keine Nudel, manchmal reicht schon ein weißer Faden auf einem schwarzen Pulli, um diesen Effekt zu erzielen, so dass es mich unheimlich viel Konzentration kostet, dem Gespräch weiter zu folgen.

Ein anderer Punkt ist die Sache mit den Umgebungsreizen. Bekanntermaßen sind Autisten schneller als andere Menschen von zu vielen Reizen in ihrer Umgebung überfordert. Dennoch bin ich unter Umständen dazu in der Lage, mich einer Situation, die eigentlich überfordernd ist, länger auszusetzen. Aber, auch wenn ich (meistens) zum Beispiel in der Lage bin, in einer vollen Bar einen Abend zu verbringen, ohne dass man gegen Ende mit dem Finger auf mich zeigt und tuschelt, brauche ich mit Sicherheit den nächsten Tag Ruhe, um zu regenerieren. Dazu bloggte ich hier schon einmal.

Hier liegt auch das Problem, Asperger als leichte Form oder Vorstufe des Autismus zu bezeichnen. Es ist nicht zwingend leichter, es ist nur bis zu einem gewissen Punkt besser möglich, nach außen hin unaufällig zu wirken.