Ein Autismus uns zu retten

Wenn ein Zeitungsartikel mit der Titelergänzung „Hochstapler und Autisten“ einsetzt und der zweite Satz „Nur ein neuer Autismus kann uns retten“ lautet, sollte man ihn eigentlich gar nicht erst lesen. Ich habe es zu meinem Bedauern trotzdem getan.

In ihrem Artikel „Wir sind alle Felix Krull“ mäandert Helene Hegemann in der FAZ irgendwo zwischen einer Literaturkritik von Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, einer Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung des Shitstorms zu einem Schwarm-Lynchmob und einer Figurenanalyse der dänisch-schwedischen Fernsehserie „Die Brücke“.

Ich halte es für eine hohe Kunst, in einem solchem Text eine der schlimmsten Autismus-Metaphern unterzubringen, die ich in den letzten Jahren las. Hegemann hat dieses Kunststück mit Bravour gemeistert, denn sie fordert einen neuen Autismus. Einen, in dem sie die Rettung aus den von ihr angeprangerten gesellschaftlichen Missständen sieht. Die Frage was mit dem bestehenden Autismus nicht stimmt beantwortet auch:

„Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen. Es geht um zurückhaltende Außenseiter, die nicht lügen können und ihre Fähigkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt, sich selbst egal und deshalb unsere letzte Rettung.“

Auch mehrere Stunden, nachdem ich diese Textstelle las, fehlen mir immer noch die Worte. Schon seit Jahren wurde ein größtenteils stark verzerrtes und negatives Bild medial verbreitet. Doch Hegemann hat es tatsächlich geschafft, dieses bestehende Bild nicht nur zu übernehmen, sondern es noch zu verschlimmern.
Dabei bin ich mir jedoch nicht sicher, ob an dieser Stelle nicht auch ein gewisses Kalkül dahinter steckt und Hegemann versucht, den von ihr beschriebenen Mechanismus, dass ein einziger Tweet ganze Karrieren ruinieren kann, auszulösen. Sollte dies der Fall sein, dann trägt sie diesen Kampf um die Aufmerksamkeit auf dem Rücken der Autisten aus. Aber wahrscheinlicher ist vermutlich, dass sie es, wie viele Menschen, einfach nicht besser weiß.

Das eigentlich Schlimme an diesem Text ist jedoch nicht, dass eine junge Autorin unreflektiert Vorurteile salonfähig macht. Ich würde mich sogar sehr gerne mit ihr über ihren Text und ihr Bild von Autisten unterhalten. Das wirklich Schlimme ist, dass dieser Text alle Instanzen einer der größten deutschen Zeitungen durchlaufen konnte und auf diesem gesamten Weg niemand intervenierte. Kein einziger verantwortlicher Mitarbeiter der FAZ sah in dieser Textstelle, die für alle Asperger-Autisten eine mittlere Katastrophe ist, ein Problem und verhinderte ihre Veröffentlichung.

Hegemann macht in ihrem Text auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam. Jedoch andere Probleme, als die im Text beschriebenen. Es ist die tiefsitzende, unterschwellige Behindertenfeindlichkeit in den deutschen Medien und auch in der Gesellschaft, die nach wie vor besteht und sich nie grundlegend gebessert hat. Sie hat sich nur gewandelt von den offensichtlichen Behindertenwitzen zu scheinintellektuellen Pointen gegen Autisten.

 

Weitere Texte zum Thema:

Die Geburt einer Routine

Warum Routinen für mich sinnvoll sind und mir den den Alltag erleichtern, habe ich vor einiger Zeit bereits in einem anderen Text geschrieben. Darauf, wie diese Routinen entstehen, ging ich damals nicht näher ein, sondern stellte lediglich fest, dass sich diese Routinen einfach so ergaben.
Seitdem ist einige Zeit vergangen und das Thema flammte in meinen Gedanken immer mal wieder auf. Insbesondere dann, wenn ich die Bereiche meiner bestehenden Routinen verließ. Dabei kam ich zunehmend zum Schluss, dass diese Routinen durch mehr als Zufall so entstehen, sondern dass ich tatsächlich viel darüber nachdenke. Dabei ist mir jedoch nicht bewusst, dass ich gerade eine Routine plane.

Die Grundvoraussetzung für eine Routine ist naheliegendenderweise eine neue Situation, in der ich mich vorher noch nicht befand und mit der ich keine direkten Erfahrungen habe. Natürlich mache ich mir, sofern die Situation absehbar war, vorher Gedanken über mögliche Probleme und wie ich sie löse, aber im Vorfeld kann man da nie alle Eventualitäten absehen, so dass ab einem gewissen Punkt in der Planung weitere Planung einfach keinen Sinn ergibt.

In der Situation selbst handle ich dann mit einer Mischung aus meinen vorherigen Planungen (sofern der seltene Fall eintritt, dass diese mal mit der Realität kompatibel sind) und Erfahrungen aus ähnlichen Situationen. Dabei hilft es, dass ich nie ganze Ereignisse durchplane, sondern immer nur Teilsituationen. Häufig klappt das ziemlich gut, so ist es zum Beispiel relativ egal, ob ich meine Reisetasche nun am Ende des Besuchs bei meinen Eltern oder in einem Hotelzimmer packe. Manchmal muss ich jedoch auch leichte Anpassungen vornehmen, die aber unter dem Strich immer noch stressärmer sind, als die Herangehensweise an eine komplexe Begebenheit von Grund auf neu zu planen. Ich puzzle mir also aus den vielen kleinen Routinen eine neue Herangehensweise für eine bis dahin unbekannte Situation zusammen.

War es eine einmalige Ausgangslage, war es das an dieser Stelle. Im Idealfall habe ich das Ganze ohne größere Probleme bewältigt und kann mich wieder anderen Problemen zuwenden. In der Praxis ist so etwas jedoch selten einmalig und ich werde sicherlich noch in vergleichbare Gegebenheiten kommen. Durch diesen Aspekt und eine leicht selbstkritische Grundhaltung, gepaart mit Perfektionismus, ergibt es sich, dass ich im Nachhinein oft, ohne es mir vorzunehmen, über das Geschehene nachdenke. Dabei schaue ich, was nicht so gut klappte und was ich in Zukunft anders machen müsste, damit es besser läuft, wenn ich noch einmal in die Situation komme. Dabei muss nicht zwingend etwas schief gelaufen sein, häufig reicht schon der Umstand, dass etwas hätte besser laufen können, um den Ausgangspunkt für eine solche Überlegung zu liefern.

Komme ich erneut in eine solche oder eine vergleichbare Begebenheit, wende ich meine verbesserten Herangehensweisen darauf an und schaue, wie sie funktionieren. Anschließend suche ich erneut nach Verbesserungen. Auf diese Weise entsteht, je häufiger die Situation vorkommt, immer mehr das, was sich als Routine bezeichnen lässt. Dabei habe ich mich zu keinem Zeitpunkt entschlossen jetzt eine Routine zu planen, geschweige denn dieses Vorgehensschema zu entwickeln. Es hat sich über die Zeit entwickelt, ohne dass ich mir seiner Existenz bewusst war, so wie es auch mit vielen meiner Routinen ist. Jetzt stelle ich in der Rückschau fest, dass es mir über Jahre gute Dienste geleistet hat, indem es den Stress in vielen Situationen wesentlich abgemildert hat und ich sehr dankbar dafür bin.

MMS – das bedenkliche „Wundermittel“

Dieser Text ist ein Gastbeitrag von outerspace_girl und ist ursprünglich in ihrem Blog erschienen:

 

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stufte heute zwei „Miracle Mineral Supplement“-Produkte, kurz MMS genannt, als zulassungspflichtig und bedenklich ein. Das bedeutet, sie dürfen nicht mehr verkauft werden, bis ein Zulassungsverfahren Unbedenklichkeit und Wirksamkeit bestätigt.

MMS ist ein Gemisch aus Natriumchlorit und Zitronensäure. Bei der Kombination beider Komponenten entsteht Chlordioxid, ein giftiges Gas, das unter anderem als Bleichmittel von Papier und zur Desinfektion eingesetzt wird. Gelangt dieses Gemisch in den Körper, kommt es zu Verätzungen, Erbrechen, Durchfall, starken Schmerzen und Atemproblemen. 
Trotzdem wird MMS von manchen Menschen als „Wundermittel“ gegen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Multiple Sklerose, aber auch gegen Behinderungen wie Autismus eingesetzt. Die Anhänger dieses Mittels berufen sich dabei auf das Buch „Der Durchbruch“ von Jim Humble, seines Zeichens amerikanischer Erfinder. Seine Anhänger gehen beim Verbreiten dieser frohen Kunde äußerst aggressiv vor und sind mehr als überzeugt von diesem chemischen Cocktail.
MMS ist jedoch kein zugelassenes Arzneimittel, es wird nicht von Ärzten verschrieben und es gibt keine Studien zu den vermeintlich positiven Wirkungen. Gesundheitsbehörden warnen schon länger davor. MMS wurde daher als bedenkliches Präsentationsarzneimittel eingestuft, was bedeutet, dass der Hersteller Heilversprechen macht, die jedoch nicht bewiesen sind.

Autisten wehren sich schon sehr lang gegen die Versprechungen dieses vermeindlichen Wundermittels, das nicht selten auch Kindern verabreicht wird, in der Hoffnung, man könne ihren Autismus „wegätzen“. Die betroffenen Kinder leiden schwer unter den Nebenwirkungen, die laut Humble die Wirkung erst bestätigen.
Die Entscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, bleibt jedoch nur ein Schritt. Das BfArM hat mit seiner Entscheidung MMS als chemisches Gemisch nicht verboten, sondern lediglich zwei fertig gemischte Präparate des Herstellers Luxusline. Andere MMS-Mischungen dürfen weiterhin frei verkauft werden, auch ohne Bescheinigung ihrer Unbedenklichkeit. Die Anwendung von MMS wird von dieser Entscheidung nicht beeinflusst und die Mischung kann mit überschaubarem Aufwand selbst produziert werden.
Somit bleibt die Entscheidung alles in allem lediglich ein richtungsweisender erster Schritt, auf den noch viele weitere Schritte folgen müssen. Ein Grund, die Anstrengungen gegen MMS einzustellen, ist es jedoch in keinem Fall.

Was bedeutet eigentlich NT?

Eine wesentliche Eigenschaft von Gruppen ist, dass sich mit der Zeit ein eigenes Vokabular bildet, das von Außenstehenden nicht ohne weiteres verstanden werden kann. Ein klassisches Beispiel hierfür sind wissenschaftliche Fachbegriffe, die häufig nicht einmal mehr von Wissenschaftlern aus anderen Fachgebieten verstanden werden.
Im Bereich des Autismus ist dies beispielsweise die Abkürzung NT. Dabei steht NT für Neurotypisch und dient dazu, Menschen zu kategorisieren, die keine neurologische Besonderheit, wie zum Beispiel Autismus, AD(H)S oder Depressionen aufweisen.

Historisch ist dieser Begriff aus einer Parodie der Autism-Rights-Bewegung entstanden, die versucht eine Selbstvertretung von Autisten für Autisten zu sein und sich für bessere Bedingungen in allen Bereichen des Lebens einsetzt.  Er diente den Autisten als Kategorie, in der Nicht-Autisten zusammengefasst werden konnten. Dabei wurde der Begriff der Neurotypischen Störung geprägt und mit Kriterien, ähnlich der Kriterien für eine Autismus-Diagnose, versehen. Aus dieser Parodie erwuchs im Laufe der Zeit ein feststehender Begriff, der von vielen Autisten benutzt wurde, um Nicht-Autisten zu bezeichnen. Dabei geriet der Ursprung in Vergessenheit und die Verwendung wandelte sich zu einer ernstzunehmenden Bezeichnung. Insbesondere, da sie eine Alternative zu dem ziemlich problematischen und doch häufig verwendeten „normale Menschen“ bot.
Dieser Aspekt war es vermutlich, der dafür sorgte, dass diese Bezeichnung auch in anderen Bevölkerungsgruppen zunehmend Verbreitung fand. Insbesondere unter Menschen mit AD(H)S etablierte sich dieser Begriff schnell, aber auch Gruppen mit anderen psychischen Auffälligkeiten gebrauchten ihn zunehmend zur Abgrenzung. Durch seine Verwendung außerhalb des Autismus-Kontexts manifestierte sich notwendigerweise auch ein Bedeutungswandel dieses Begriffs. Neurotypisch war und ist nun nicht mehr eine Bezeichnung für Nicht-Autisten, sondern für Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit waren.

Das Problem mit diesem Bedeutungswechsel hatten nun die Autisten, da ihnen erneut ein Begriff (und eine prägnante Abkürzung) fehlte, mit dem sie Personen ohne Autismus zusammenfassend benennen konnten. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich im Verlauf der letzten Jahre zunehmend die Abkürzung NA, für Nicht-Autist. Dabei umfasst die Personengruppe der NA sowohl NT’s, als auch andere Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die jedoch keine Autisten sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT. Eine Person mit ADHS gehört zum Beispiel zur Gruppe der Nicht-Autisten, nicht jedoch zur Gruppe der Neurotypischen.

tl;dr:
Neurotypisch (NT) bezeichnet alle Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit sind.
Nicht-Autist (NA) bezeichnet alle Menschen die frei von Autismus sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT.

Von anderen Overloads

Es gibt Tage, an denen prasselt die gesamte Umwelt so lange erbarmungslos auf die eigene Wahrnehmung ein, bis sämtliche Kompensationsmechanismen und Tricks an irgendeinem Punkt versagen und man keine andere Wahl mehr hat, als sich schleunigst eine ruhige Ecke zu suchen und dem Overload1 seinen Lauf zu lassen.

So oder so ähnlich ist die klassische Entstehung eines Overloads. Doch dann gibt es noch die wesentlich seltenere Variante, die quasi unbemerkt kommt und deren Entstehungsgeschichte Tage oder sogar Wochen vorher beginnt.So zum Beispiel Klausurenphasen eines Studiums und ihre Vorbereitung. In diesen Phasen gibt es kein einprasseln von Reizen oder keine direkte einzelne Situation, die die Reizfilterung ausschaltet und einen dringenden Rückzug erfordert. Es gibt nur Tage mit sehr viel konzentrierter Arbeit und Treffen von Lerngruppen, an deren Ende viel zu wenig Freizeit steht. Nicht angenehm, aber auch nichts, was einen Overload auslöst.
Problematisch wird es dadurch, dass so eine Klausurenphase dazu neigt, dass eine ganze Reihe dieser Tage aufeinander folgt, ohne dass es dazwischen Tage gibt, an denen man Schlaf aufholen könnte oder Dinge tun kann, die weniger Konzentration erfordern. Man macht einfach weiter und hat auch gar nicht die Zeit darüber nachzudenken, wie es einem gerade eigentlich geht.

Das funktioniert nicht ewig. Jeder dieser Tage, an denen man mehr Energie aufwendet als man gewinnt, geht auf Kosten von Reserven. Je nach der persönlichen Belastungsgrenze sind diese Reserven an irgendeinem Zeitpunkt aufgebraucht. Dass dieser Zeitpunkt erreicht ist, merke ich nur schleichend. Beispielsweise daran, dass ich egal wie sehr ich es versuche nicht schaffe, den Sinn von Texten die ich grade lese aufzunehmen. Oder daran, dass mich selbst Kleinigkeiten, die mich sonst nicht einmal ansatzweise stressen würden, wahnsinnig auf die Palme bringen. Oft braucht es sehr viele dieser Kleinigkeiten bis ich erkenne, dass ich grade scheinbar grundlos in einen Overload rutsche, und dann irgendetwas dagegen unternehmen kann, damit es nicht noch schlimmer wird.

Häufig passiert dies an Tagen, an denen gerade weniger los ist. Wenn ich Glück habe, sind das die Tage, an denen die Stressphase ohnehin endet und ich habe einige Tage Zeit, die Energiereserven wieder aufzufüllen. Habe ich weniger Glück, bleibt an dieser Stelle nur schnellstmöglich eine Ruhepause einzulegen, um die Energie soweit auffüllen zu können, dass ich irgendwie bis zum Ende der Phase weitermachen kann.

Das Phänomen, dass Autisten Dinge tun, die sie eigentlich nicht schaffen sollten, ist dabei kein seltenes. Gerade Autisten die „funktionaler“ erscheinen und denen man ihren Autismus nicht unbedingt anmerkt, sind in der Lage in Situationen, die an ihre Grenzen gehen, weiterzumachen. Dabei verschwinden der Stress und die Überforderung jedoch nicht. Sie werden nur aufgeschoben, bis an irgendeinem Zeitpunkt, an dem kein Auslöser erkennbar ist, der Overload, oder im Extremfall der Meltdown, eintritt.

Zwei Gedanken zu #WirsindAutismus


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Betrachte ich die kurz- und langfristigen Reaktionen auf #WirsindAutismus, dann gibt es zwei Aspekte, die mir auffallen:

  1. Viele Leser, vor allem jene aus dem Umfeld eines großen „Selbsthilfe“-Vereins, lesen daraus die Forderung, dass nur die Teilnehmer der Aktion für Autisten sprechen dürften. Es war jedoch nie unser Anliegen, die einzigen zu sein, die für Autisten sprechen. Ziel ist es, dass mehr Autisten für sich selbst sprechen und Autismus Deutschland nicht die einzigen sind, die für Autisten sprechen.
  2. Seitdem die Aktion #WirsindAutismus ins Leben gerufen wurde, mehren sich die Stimmen, die behaupten, Teilnehmer an #WirsindAutismus seien keine (richtigen) Autisten.
    Zu sagen „Eure Aktion spricht nicht für mich“, finde ich absolut legitim, weil ich das auch nie vorhatte. Zu sagen „Du bist kein (richtiger) Autist“, ist anmaßend und steht einzig und allein ausgebildeten Fachkräften im Rahmen einer Diagnostik zu. Dies trotzdem zu machen, ist nicht mehr als ein mieser Versuch der Demontage kritischer Stimmen von Personen, denen schlichtweg Argumente fehlen.
    Vielleicht zeigt das aber auch nur, dass meine Gedankengänge gar nicht so verkehrt sind, wenn sie so angreifenswert sind.

Ich habe definitiv nicht vor, für alle Autisten zu sprechen und weiß, dass Autismus ein sehr weites Spektrum umfasst, von dem ich nur einen kleinen Teil abdecke. Aus diesem Grund heißt diese Aktion ja auch „Wir sind Autismus“ und nicht „Nur wir sind Autismus“.

Autismus in der Politik: „Können wir uns Autismus leisten?“


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In den letzten Monaten wurde, teilweise auch angestoßen durch uns, viel über Autismus Deutschland und auch ABA diskutiert. Natürlich wurden viele Autisten hellhörig, als die CDU-Fraktion des Stuttgarter Landtags eine Info-Veranstaltung zu Autismus ansetzte, in die Autismus Deutschland involviert war. Da ich und vermutlich die meisten Leser es nicht geschafft haben dort hinein zu kommen, freue ich mich sehr, dass outerspace_girl einen Bericht über diese Veranstaltung geschrieben hat, den ich hier als Gastbeitrag veröffentlichen darf und wir auf diese Weise einen Einblick bekommen können.

„Können wir uns Autismus leisten?“
Ein Bericht von der Anhörung zum Thema Autismus der CDU-Landtagsfraktion

Mit der am 27. Oktober 2014 veranstalteten Anhörung machte es sich die CDU im Stuttgarter Landtag zur Aufgabe, über die Autismus-Spektrum-Störung zu informieren und Betroffenen ein Gehör zu verschaffen. Dies ist eine durchaus ehrgeizige Aufgabe und entsprechend hoch waren die Erwartungen.

Etwa 200 Zuhörer, darunter Mediziner, Pädagogen, Mitglieder von Autismus-Verbänden, Eltern autistischer Kinder und auch vereinzelte Autisten, versammelten sich in dem Plenarsaal und wurden von Frau Dr. Monika Stolz (Mitglied des Landtags) und Herrn Werner Raab (Mitglied des Landtags) mit freundlichen Worten Willkommen geheißen. Bereits in der Begrüßung wies man deutlich darauf hin, dass der Informationsbedarf groß ist und besonders die Schwierigkeiten von Autisten auf dem Arbeitsmarkt zu betrachten sind, die allzu häufig aus der Schule kommend zum Arbeitsamt und weiter zum Sozialamt geschickt werden. Man wird am heutigen Tage keine Lösung bieten, sagte man, doch man will zuhören, verstehen und sensibilisieren.

 

Herr Prof. Dr. Poustka, Univ.-Prof. und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie begann seinen Vortrag mit einem Bild aus dem Film „Rain Man“ und dem Hinweis, dass von einer erheblichen Unterversorgung im Bereich Diagnostik und Therapie auszugehen ist; ein Problem, dass allen Autisten und Eltern autistischer Kinder gut bekannt ist. Nach einem kurzen Abriss der Definition und Einteilung von Autismus-Spektrum-Störung laut DSM-5 und einer Erläuterung der einzelnen Symptome, nannte er kurz neueste Erkenntnisse aus der Genetik, die die hauptsächlich amerikanische Forschung in neuester Zeit lieferte. Autismus sei grundsätzlich keine seltene Erkrankung mehr, sagte er, die geistige Behinderung habe prozentual abgenommen, da höher funktionale Autisten das Bild im Laufe der Zeit verschoben hätten.
Bald darauf kam er auf Therapie und Heilungschancen zu sprechen. Je früher ein Kind diagnostiziert wird, so Poustka, desto schwerer sei es betroffen. Dabei sei ABA und andere Verhaltenstherapien mit diskreten Formatierungen die am besten evaluierte Therapie, ergänzte er, die auch an Schulen und in Gruppen weitergeführt werden sollte, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Er schloss mit dem Hinweis, dass man in Filmen wie „Rain Man“ eine gute Informationsquelle zum Thema Autismus finden würde und gab das Wort ab an

 

Frau Dr. Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, die selbst Asperger-Autistin ist. In einem angenehmen und persönlichen Stil erzählte sie aus ihrem Leben als Autistin und von ihren Schwierigkeiten im Alltag. Autisten seien die perfekten Arbeitnehmer, pünktlich, zuverlässig, perfektionistisch und auf ihre Arbeit konzentriert, doch nach dem Arbeitstag oft einsam und isoliert. Man solle sie nicht nur für das bedauern, was sie nicht können, sondern auch ihre Stärken hervorheben. Damit sprach sie sicher vielen Autisten aus der Seele. Der direkten Nachfrage, was sie als Medizinerin und Autistin von Therapien wie ABA halte, wich sie leider aus. Sie antwortete, dass eine individuelle therapeutische Unterstützung für jeden Betroffenen notwendig sei und man sich nicht an einer einzelnen therapeutischen Schule orientieren dürfe, sondern vielmehr verschiedene Therapieansätze in Betracht gezogen werden sollten.

 

Der dritte Redner, Prof. Dr. Jörg Fegert, ärztlicher Direktor und Gründer der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, widmete sich hauptsächlich der Inklusionsdebatte und deren Folgen für die pädagogisch therapeutische Förderung autistischer Kinder. Labeling durch Diagnosen sei notwendig, um überhaupt Hilfen zu erhalten, sagte er, doch Schulen und Einrichtungen stünden unter einem regelrechten Inklusionsdruck. Jedes 241. Kind in Deutschland habe laut Fegert derzeit einen Schulbegleiter, in vielen Fällen scheitere die Hilfe aber an der Zuständigkeit der Kostenträger. Adäquate Förderung sei Glückssache und fast alle anderen Länder böten bessere Inklusionshilfen für Kinder mit Behinderung, die in Deutschland durch die derzeitige gesetzliche Lage nicht erbringbar sei. Er verlangte wiederholt Verbesserungen und Hilfen und bekam dafür viel Applaus, konkrete Vorstellungen oder Lösungsansätze waren jedoch zu vermissen.

 

Ihm folgte Prof. Dr. med. Peter Martin, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Rehabilitationswesen und Leiter der Séguin-Klinik in Kehl-Kork. Dieser sprach über die Versorgung von Erwachsenen mit schwerem und syndromalem Autismus in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen.

Seine Rede ließ einen roten Faden vermissen, er sah jedoch die Gefahr, dass durch mangelndes Fachwissen von Ärzten, Therapeuten und Pflegepersonal Autisten zunehmend ins Abseits gedrängt würden und fragte, wie viel Wissen realistisch überhaupt erwartbar ist. Er lieferte interessante Fakten zu Komorbiditäten der Autismus-Spektrum-Störung, so läge die Prävalenz von Epilepsie bei Autisten zum Beispiel bei vierzig Prozent, bei neurotypischen Menschen allerdings nur bei einem Prozent. Depressionen und Angststörungen seien ebenso gehäuft zu finden.

 

Den letzten Vortrag dieses Nachmittags hielt Prof. Dr. med. Hanns Rüdiger Röttgers, Fachbereich Sozialwesen an der Universität Münster, der deutlich sagte, dass Deutschland kein Autismus-Entwicklungsland bleiben müsse. Wortgewandt fasste er die vorherigen Vorträge zusammen.

Seiner Meinung nach seien Kinder in ihrer Autismus-Spektrum-Störung nicht statisch, sie hätten mit früher Diagnose und früher Therapie die Möglichkeit der Entwicklung. Man dürfe jedoch nicht in beschützende Parallelsysteme investieren, sondern müsse sich auf Inklusion konzentrieren. ABA nannte er wiederholt „den richtigen Weg“. Er stellte in den Raum, dass ein autistischer Mensch im Laufe seines Lebens etwa 3 Mio. Dollar koste, der Großteil dieser Summe aber von Langzeitverwaltung und Unterbringungskosten verschlungen würde. Die Diagnostik von Autismus sei mühsam, zeitaufwändig, teuer und aus finanzieller Sicht nicht lohnenswert und so brachte er das Argument, dass sich Ärzte und Therapeuten die Frage stellen müssten, ob sie sich Autismus überhaupt leisten können. Leistungen von den Krankenkassen sind kaum zu erwarten, ist Autismus dort doch als unheilbar eingestuft.
Auch auf dem Arbeitsmarkt finden Autisten nicht statt, brachte er an. Ihre Qualitäten werden nicht erkannt, die Diagnose schrecke zu sehr ab. Er zeigte ein Bild aus einer autism speaks-Kampagne, um die drohende soziale Isolierung von Autisten zu verdeutlichen, was Unruhe unter einigen anwesenden Autisten auslöste. Er versuchte diese schnell zu beschwichtigen, indem er mitteilte, dass er sich nicht so gut mit autism speaks auskenne.

 

Werner Raab beendete die Anhörung mit den Worten, dass man am Anfang einer unheimlich schwierigen Aufgabe stehe und noch viel von Menschen mit Sinnesbehinderung lernen könne. Es wurde in jedem einzelnen Vortrag betont, welche Probleme für Autisten bestehen und welch massiver Handlungsbedarf vonnöten ist. Lösungsansätze oder konkrete Pläne gab es aber keine.

Die Anhörung zum Thema Autismus hinterließ bei mir den Eindruck, dass es an gutem Willen nicht mangelte. Mit der Ankündigung, Autisten ein Gehör zu geben, übernahm sich die CDU hingegen. Die Veranstaltung war in erster Linie für Menschen gedacht, die beruflich oder privat mit Autisten in Kontakt kommen und sich Informationen wünschen, nicht jedoch für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, die das ihnen angebotene Gehör nutzen wollten. Die Wortmeldungen zweier anwesender Autisten zwischen den Vorträgen waren aber derart emotional und verzweifelt, man merkte deutlich, dass eben genau das nötig ist: Autisten ein Gehör zu geben.

 

Wir sind Autismus


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Heute gibt es keinen langen Blogtext, sondern nur einen Hinweis auf eine heute von uns gestartete Aktion, um einen Gegenpol zu der medialen Übermacht von Autismus Deutschland e. V. zu bieten. Wir können durchaus für uns selbst sprechen, dafür brauchen wir keinen “Selbst”-hilfeverein, in dem Autisten nicht sonderlich erwünscht zu sein scheinen.

Weitere Informationen und wie ihr mitmachen könnt, erfahrt ihr hier.