Autismus in der Politik: „Können wir uns Autismus leisten?“


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In den letzten Monaten wurde, teilweise auch angestoßen durch uns, viel über Autismus Deutschland und auch ABA diskutiert. Natürlich wurden viele Autisten hellhörig, als die CDU-Fraktion des Stuttgarter Landtags eine Info-Veranstaltung zu Autismus ansetzte, in die Autismus Deutschland involviert war. Da ich und vermutlich die meisten Leser es nicht geschafft haben dort hinein zu kommen, freue ich mich sehr, dass outerspace_girl einen Bericht über diese Veranstaltung geschrieben hat, den ich hier als Gastbeitrag veröffentlichen darf und wir auf diese Weise einen Einblick bekommen können.

„Können wir uns Autismus leisten?“
Ein Bericht von der Anhörung zum Thema Autismus der CDU-Landtagsfraktion

Mit der am 27. Oktober 2014 veranstalteten Anhörung machte es sich die CDU im Stuttgarter Landtag zur Aufgabe, über die Autismus-Spektrum-Störung zu informieren und Betroffenen ein Gehör zu verschaffen. Dies ist eine durchaus ehrgeizige Aufgabe und entsprechend hoch waren die Erwartungen.

Etwa 200 Zuhörer, darunter Mediziner, Pädagogen, Mitglieder von Autismus-Verbänden, Eltern autistischer Kinder und auch vereinzelte Autisten, versammelten sich in dem Plenarsaal und wurden von Frau Dr. Monika Stolz (Mitglied des Landtags) und Herrn Werner Raab (Mitglied des Landtags) mit freundlichen Worten Willkommen geheißen. Bereits in der Begrüßung wies man deutlich darauf hin, dass der Informationsbedarf groß ist und besonders die Schwierigkeiten von Autisten auf dem Arbeitsmarkt zu betrachten sind, die allzu häufig aus der Schule kommend zum Arbeitsamt und weiter zum Sozialamt geschickt werden. Man wird am heutigen Tage keine Lösung bieten, sagte man, doch man will zuhören, verstehen und sensibilisieren.

 

Herr Prof. Dr. Poustka, Univ.-Prof. und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie begann seinen Vortrag mit einem Bild aus dem Film „Rain Man“ und dem Hinweis, dass von einer erheblichen Unterversorgung im Bereich Diagnostik und Therapie auszugehen ist; ein Problem, dass allen Autisten und Eltern autistischer Kinder gut bekannt ist. Nach einem kurzen Abriss der Definition und Einteilung von Autismus-Spektrum-Störung laut DSM-5 und einer Erläuterung der einzelnen Symptome, nannte er kurz neueste Erkenntnisse aus der Genetik, die die hauptsächlich amerikanische Forschung in neuester Zeit lieferte. Autismus sei grundsätzlich keine seltene Erkrankung mehr, sagte er, die geistige Behinderung habe prozentual abgenommen, da höher funktionale Autisten das Bild im Laufe der Zeit verschoben hätten.
Bald darauf kam er auf Therapie und Heilungschancen zu sprechen. Je früher ein Kind diagnostiziert wird, so Poustka, desto schwerer sei es betroffen. Dabei sei ABA und andere Verhaltenstherapien mit diskreten Formatierungen die am besten evaluierte Therapie, ergänzte er, die auch an Schulen und in Gruppen weitergeführt werden sollte, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Er schloss mit dem Hinweis, dass man in Filmen wie „Rain Man“ eine gute Informationsquelle zum Thema Autismus finden würde und gab das Wort ab an

 

Frau Dr. Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, die selbst Asperger-Autistin ist. In einem angenehmen und persönlichen Stil erzählte sie aus ihrem Leben als Autistin und von ihren Schwierigkeiten im Alltag. Autisten seien die perfekten Arbeitnehmer, pünktlich, zuverlässig, perfektionistisch und auf ihre Arbeit konzentriert, doch nach dem Arbeitstag oft einsam und isoliert. Man solle sie nicht nur für das bedauern, was sie nicht können, sondern auch ihre Stärken hervorheben. Damit sprach sie sicher vielen Autisten aus der Seele. Der direkten Nachfrage, was sie als Medizinerin und Autistin von Therapien wie ABA halte, wich sie leider aus. Sie antwortete, dass eine individuelle therapeutische Unterstützung für jeden Betroffenen notwendig sei und man sich nicht an einer einzelnen therapeutischen Schule orientieren dürfe, sondern vielmehr verschiedene Therapieansätze in Betracht gezogen werden sollten.

 

Der dritte Redner, Prof. Dr. Jörg Fegert, ärztlicher Direktor und Gründer der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, widmete sich hauptsächlich der Inklusionsdebatte und deren Folgen für die pädagogisch therapeutische Förderung autistischer Kinder. Labeling durch Diagnosen sei notwendig, um überhaupt Hilfen zu erhalten, sagte er, doch Schulen und Einrichtungen stünden unter einem regelrechten Inklusionsdruck. Jedes 241. Kind in Deutschland habe laut Fegert derzeit einen Schulbegleiter, in vielen Fällen scheitere die Hilfe aber an der Zuständigkeit der Kostenträger. Adäquate Förderung sei Glückssache und fast alle anderen Länder böten bessere Inklusionshilfen für Kinder mit Behinderung, die in Deutschland durch die derzeitige gesetzliche Lage nicht erbringbar sei. Er verlangte wiederholt Verbesserungen und Hilfen und bekam dafür viel Applaus, konkrete Vorstellungen oder Lösungsansätze waren jedoch zu vermissen.

 

Ihm folgte Prof. Dr. med. Peter Martin, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Rehabilitationswesen und Leiter der Séguin-Klinik in Kehl-Kork. Dieser sprach über die Versorgung von Erwachsenen mit schwerem und syndromalem Autismus in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen.

Seine Rede ließ einen roten Faden vermissen, er sah jedoch die Gefahr, dass durch mangelndes Fachwissen von Ärzten, Therapeuten und Pflegepersonal Autisten zunehmend ins Abseits gedrängt würden und fragte, wie viel Wissen realistisch überhaupt erwartbar ist. Er lieferte interessante Fakten zu Komorbiditäten der Autismus-Spektrum-Störung, so läge die Prävalenz von Epilepsie bei Autisten zum Beispiel bei vierzig Prozent, bei neurotypischen Menschen allerdings nur bei einem Prozent. Depressionen und Angststörungen seien ebenso gehäuft zu finden.

 

Den letzten Vortrag dieses Nachmittags hielt Prof. Dr. med. Hanns Rüdiger Röttgers, Fachbereich Sozialwesen an der Universität Münster, der deutlich sagte, dass Deutschland kein Autismus-Entwicklungsland bleiben müsse. Wortgewandt fasste er die vorherigen Vorträge zusammen.

Seiner Meinung nach seien Kinder in ihrer Autismus-Spektrum-Störung nicht statisch, sie hätten mit früher Diagnose und früher Therapie die Möglichkeit der Entwicklung. Man dürfe jedoch nicht in beschützende Parallelsysteme investieren, sondern müsse sich auf Inklusion konzentrieren. ABA nannte er wiederholt „den richtigen Weg“. Er stellte in den Raum, dass ein autistischer Mensch im Laufe seines Lebens etwa 3 Mio. Dollar koste, der Großteil dieser Summe aber von Langzeitverwaltung und Unterbringungskosten verschlungen würde. Die Diagnostik von Autismus sei mühsam, zeitaufwändig, teuer und aus finanzieller Sicht nicht lohnenswert und so brachte er das Argument, dass sich Ärzte und Therapeuten die Frage stellen müssten, ob sie sich Autismus überhaupt leisten können. Leistungen von den Krankenkassen sind kaum zu erwarten, ist Autismus dort doch als unheilbar eingestuft.
Auch auf dem Arbeitsmarkt finden Autisten nicht statt, brachte er an. Ihre Qualitäten werden nicht erkannt, die Diagnose schrecke zu sehr ab. Er zeigte ein Bild aus einer autism speaks-Kampagne, um die drohende soziale Isolierung von Autisten zu verdeutlichen, was Unruhe unter einigen anwesenden Autisten auslöste. Er versuchte diese schnell zu beschwichtigen, indem er mitteilte, dass er sich nicht so gut mit autism speaks auskenne.

 

Werner Raab beendete die Anhörung mit den Worten, dass man am Anfang einer unheimlich schwierigen Aufgabe stehe und noch viel von Menschen mit Sinnesbehinderung lernen könne. Es wurde in jedem einzelnen Vortrag betont, welche Probleme für Autisten bestehen und welch massiver Handlungsbedarf vonnöten ist. Lösungsansätze oder konkrete Pläne gab es aber keine.

Die Anhörung zum Thema Autismus hinterließ bei mir den Eindruck, dass es an gutem Willen nicht mangelte. Mit der Ankündigung, Autisten ein Gehör zu geben, übernahm sich die CDU hingegen. Die Veranstaltung war in erster Linie für Menschen gedacht, die beruflich oder privat mit Autisten in Kontakt kommen und sich Informationen wünschen, nicht jedoch für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, die das ihnen angebotene Gehör nutzen wollten. Die Wortmeldungen zweier anwesender Autisten zwischen den Vorträgen waren aber derart emotional und verzweifelt, man merkte deutlich, dass eben genau das nötig ist: Autisten ein Gehör zu geben.