Ein Autismus uns zu retten

Wenn ein Zeitungsartikel mit der Titelergänzung „Hochstapler und Autisten“ einsetzt und der zweite Satz „Nur ein neuer Autismus kann uns retten“ lautet, sollte man ihn eigentlich gar nicht erst lesen. Ich habe es zu meinem Bedauern trotzdem getan.

In ihrem Artikel „Wir sind alle Felix Krull“ mäandert Helene Hegemann in der FAZ irgendwo zwischen einer Literaturkritik von Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, einer Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung des Shitstorms zu einem Schwarm-Lynchmob und einer Figurenanalyse der dänisch-schwedischen Fernsehserie „Die Brücke“.

Ich halte es für eine hohe Kunst, in einem solchem Text eine der schlimmsten Autismus-Metaphern unterzubringen, die ich in den letzten Jahren las. Hegemann hat dieses Kunststück mit Bravour gemeistert, denn sie fordert einen neuen Autismus. Einen, in dem sie die Rettung aus den von ihr angeprangerten gesellschaftlichen Missständen sieht. Die Frage was mit dem bestehenden Autismus nicht stimmt beantwortet auch:

„Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen. Es geht um zurückhaltende Außenseiter, die nicht lügen können und ihre Fähigkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt, sich selbst egal und deshalb unsere letzte Rettung.“

Auch mehrere Stunden, nachdem ich diese Textstelle las, fehlen mir immer noch die Worte. Schon seit Jahren wurde ein größtenteils stark verzerrtes und negatives Bild medial verbreitet. Doch Hegemann hat es tatsächlich geschafft, dieses bestehende Bild nicht nur zu übernehmen, sondern es noch zu verschlimmern.
Dabei bin ich mir jedoch nicht sicher, ob an dieser Stelle nicht auch ein gewisses Kalkül dahinter steckt und Hegemann versucht, den von ihr beschriebenen Mechanismus, dass ein einziger Tweet ganze Karrieren ruinieren kann, auszulösen. Sollte dies der Fall sein, dann trägt sie diesen Kampf um die Aufmerksamkeit auf dem Rücken der Autisten aus. Aber wahrscheinlicher ist vermutlich, dass sie es, wie viele Menschen, einfach nicht besser weiß.

Das eigentlich Schlimme an diesem Text ist jedoch nicht, dass eine junge Autorin unreflektiert Vorurteile salonfähig macht. Ich würde mich sogar sehr gerne mit ihr über ihren Text und ihr Bild von Autisten unterhalten. Das wirklich Schlimme ist, dass dieser Text alle Instanzen einer der größten deutschen Zeitungen durchlaufen konnte und auf diesem gesamten Weg niemand intervenierte. Kein einziger verantwortlicher Mitarbeiter der FAZ sah in dieser Textstelle, die für alle Asperger-Autisten eine mittlere Katastrophe ist, ein Problem und verhinderte ihre Veröffentlichung.

Hegemann macht in ihrem Text auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam. Jedoch andere Probleme, als die im Text beschriebenen. Es ist die tiefsitzende, unterschwellige Behindertenfeindlichkeit in den deutschen Medien und auch in der Gesellschaft, die nach wie vor besteht und sich nie grundlegend gebessert hat. Sie hat sich nur gewandelt von den offensichtlichen Behindertenwitzen zu scheinintellektuellen Pointen gegen Autisten.

 

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8 thoughts on “Ein Autismus uns zu retten”

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  3. densha_otaku

    Ich möchte ja meinen, im Umgang mit Sprache äußerst versiert zu sein, und habe mal gesagt bekommen, mein Kommunikationsstil sei oft intellektuell fordernd (ich habe selbst Asperger, sollte ich ergänzen). Auf solch schiefe und unangemessene sprachliche Bilder wie Frau Hegemann wäre ich aber wohl im Leben nicht gekommen…

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  5. chrysophylax.de

    Nachdem dieser unsägliche Artikel irgendwie immer noch nicht totzubekommen ist und erstaunlicherweise immer noch durch die Podcasts geistert (kürzlich gehört bei holgis WRINT: http://www.wrint.de/2015/04/19/wr421-niveauerhoehung/#t=33:00 ) dachte ich ich frag mal hier „wo man sich auskennt“ wie denn gerade das erwünschte politisch korrekte Verhalten ist.

    Vorab: Es scheint ein gängiger Konsens zu sein, dass es ein klassischer Fall von „Bock zum Gärtner gemacht“ ist, wenn _ausgerechnet_ Frau Hegemann über Hochstapelei schreibt.

    Ebenso ist sich die Medienwelt einig, dass ihr völlig danebengegangenes Bild mit dem Kronleuchter nicht nur extrem beleidigend, sondern bei allem Schaden den es verursacht nebenbei auch noch völlig unverständlich ist. Ich konnte zumindest bisher niemanden finden, der mir plausibel erklären konnte, was die Dame damit überhaupt meint.

    Bleibt ihr zu wünschen, dass sie sich beim nächsten Artikel etwas deutlich an ihre eigenen Worte erinnert: „Das wird interessant, wenn man bedenkt, dass darin ein extremer Kontrast zu unserer Gegenwart steckt; in der es mehr und mehr um radikale Enthüllungen und Urteilssprüche geht, die Konkurrenten innerhalb kürzester Zeit für immer ausschalten können. Ein einziger Fehler kann Karrieren ruinieren, ein missverständlicher Tweet dein ganzes Leben.“

    Nun aber meine eigentliche Frage: Gibt es Menschen, die Witze (egal ob gelungen oder nicht) über Autisten machen dürfen, und wenn ja: Welche sind das?

    Ich (Mann) bin mit einem Mann verheiratet und war bisher immer der Meinung, dass „egal welche gesellschaftliche Randgruppe“ erst dann völlig gesellschaftlich akzeptiert und angekommen ist wenn man gelegentlich mal Witze über diese Gruppe machen darf ohne dass egal wer gleich betreten zu Boden schaut wegen mangelnder politischer Korrektheit des Vortragenden. Von daher: Macht nur Witze über Schwutten – die Meisten sind zwar eher schlecht, aber das zeigt, dass ich es nicht mehr nötig habe irgendeine Form von „Minderheitenschutz“ zu genießen.

    Im obigen Podcast hab ich in anderem Zusammenhang gehört, dass nur Angehörige dieser Minderheit Witze über diese Minderheit machen dürfen. Nur Afroamerikaner dürfen Witze über Afroamerikaner machen, nur Polizisten dürfen Witze über Polizisten machen, nur Schwule dürfen Witze über Schwule machen, und logischerweise dürfen nur Autisten Witze über Autisten machen. Ist auch eine Idee.

    Und dann gibt es da noch die (gerade in Zusammenhang mit diesem unsäglich danebengegangenen Artikel) Fraktion die meint, dass über Autisten NIEMAND Witze machen darf.

    Wie hätten es denn die „Betroffenen“ gerne? Weil wenn überhaupt jemand dazu eine qualifizierte Aussage treffen kann, dann vermutlich ein Autist…

    Danke für die Mühe, die ich gemacht habe !

    chrysophylax.de

    1. Benjamin Falk Post Author

      Witze über Minderheiten sind ein schwieriges Thema, da die Diskussion sich im Großteil der Fälle darauf reduzieren lässt, dass Personen die noch nie in die Gefahr gerieten Minderheiten zu sein, Mitgliedern von Minderheiten vorschreiben, wie sie sich zu fühlen haben wenn man über sie Witze macht.

      Für mich haben diese Scherze zwei wesentliche Komponenten, die eine Sache ist, wird mit oder über die entsprechende Person gelacht. Ich selbst bin ein großer Freund von Selbstironie und schone mich eigentlich recht selten. Ich habe auch kein Problem damit wenn andere Witze über mich machen, solange das auf Augenhöhe geschieht. Das bedeutet zum Beispiel, dass man niemals über Dinge scherzen sollte, unter denen der andere leidet. Spätestens wenn der andere nicht mehr lacht ist was schief gelaufen. Natürlich ist das grenzwertig und manchmal macht man versehentlich einen Scherz der andere verletzt. Das passiert jedem und unabhängig davon ob er Autist ist oder nicht. In diesem Fall sollte man sich über einfach entschuldigen und nicht der anderen Person vorschreiben, wie sie sich zu fühlen hat.

      Die andere Sache ist, dass die Scherze die über Autismus gemacht werden häufig ein katastrophal falsches Bild von Autismus tragen. Dieses Bild festigt sich durch diese Scherze und festigt so die Vorurteile und das vermeintliche Wissen um Autismus, worunter ein nicht sonderlich kleiner Teil der Autisten leidet.

      Zusammenfassend kann ich also sagen, dass ich auch Scherze über mich und meinen Autismus mache. Ich mache auch Scherze über andere Autisten. Jedoch so, dass die genau so mitlachen können. Anders herum hab ich auch keine Probleme wenn dritte Scherze über mich und meinen Autismus machen. Ich bemühe mich jedoch, dass ich nur Scherze mache, bei denen ich mir sicher bin, dass der andere mitlachen kann und wenn ich versehentlich zu weit gehe entschuldige ich mich dafür. Dieses Verhalten erwarte ich sowohl von mir selbst, als auch von anderen Menschen. Dafür ist es auch vollkommen egal, ob diese dritten Personen nun Autisten sind. Wenn sie einen guten Scherz haben, der nicht verletzt, immer raus damit. Jedoch ist das Problem häufig, dass Nicht-Autisten aufgrund der fehlenden Erfahrung, einfach nicht einschätzen können, wo die wunden Punkte sind und deshalb wesentlich häufiger verletzen.

  6. Mela

    Bei ‚Witzen über Minderheiten‘ ist es ganz gut sich mal über die Comedy-Konzepte von ‚punching up‘ und ‚punching down‘ zu informieren. Also nach oben treten oder nach unten treten.

    Nach unten treten immer noch schwache Arschlöcher und dementsprechend sind Witze ‚von oben‘ über echte oder angebliche Schwächen von Minderheiten eher so ein Ding von Arschlöchern für Arschlöcher.

  7. Pingback: Elternabend und Autisten-Urlaub | Der Wochenendrebell

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