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„Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben“

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Berichterstattung über Asperger in der Retrospektive

Mit dem Film Rain Man kam im Jahre 1988 Autismus zum ersten Mal in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Dieser Autismus, der Menschen atemberaubende Fähigkeiten verleiht, aber zeitgleich zum Fall für eine Dauerbetreuung macht, faszinierte die Zuschauer*innen. Immer wieder wurden Artikel über diese „seltene und mysteriöse Krankheit“ geschrieben, doch was Autismus wirklich bedeutet und was ihn ausmacht, war lange Zeit nicht bekannt.

Mit dem Laufe der Jahre änderte sich das. Immer mehr Fälle von Autismus wurden erkannt, aber diese Autist*innen waren anders. Sie führten ein Leben außerhalb von Pflegeheimen, konnten reden, arbeiteten oder gingen zur Schule.
Diese „neuen“ Autist*innen lösten den ersten Stimmungswechsel in der  Berichterstattung über Autismus aus. Statt allgemeiner Artikel über Rain Man und seine mysteriöse Krankheit fand man nun Berichte über tatsächliche Autist*innen, die von Journalist*innen und Fernsehteams durch ihren Alltag begleitet wurden. Jetzt war nicht mehr der Autismus, sondern die Autist*innen selbst das Mysteriöse. Kaum ein Beitrag kam ohne Formulierungen wie „von einem anderen Stern“ aus und die Autist*innen wurden in ihrer Darstellung häufig auf besondere Fähigkeiten, exzentrische Hobbys oder ungewöhnliche Ernährungsgewohnheiten reduziert. Außerdem litten diese Beiträge an dem gleichen Problem wie alle Darstellungen von Menschen mit Behinderungen:
Untermalt von getragener Musik und Moll-Tönen durften sie von ihren Problemen erzählen. War doch etwas positiv, war es das trotz der Behinderung. Das ZDF schaffte es in seiner Dokumentation „Von einem anderen Stern“ diesen Pathos auf die Spitze zu treiben, indem es einen minderjährigen Schüler mit den Worten „Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben“ zu Wort kommen ließ. Der Kreis der Autist*innen, die bereit waren, diese Darstellung in Kauf zu nehmen, um über Autismus zu informieren, war überschaubar und so beschränkte sich die Berichterstattung lange Zeit auf drei oder vier Autist*innen, die noch dazu sehr einseitig dargestellt wurden. Zwangsläufig war damit das Bild, das die meisten Menschen von Autisten hatten, auf die Eigenheiten dieser wenigen Fernseh-Autist*innen reduziert.

Über viele Jahre hinweg blieb die Berichterstattung über Autismus auf diesem Stand. Auch als die Diagnose bekannter wurde und dementsprechend auch häufiger gestellt werden konnte, veränderte sich die Darstellung nur langsam. Natürlich waren viele Autist*innen nicht sonderlich glücklich damit, dass ihre Probleme auf den täglichen Konsum von Kohl reduziert wurden. Bis sich daraus jedoch Strukturen entwickelten, die es ermöglichten, dem Unmut über die Medien Ausdruck zu verleihen und die Medien daraufhin langsam begannen, ihre Beiträge mit mehr Tiefe zu versehen, brauchte es noch eine Menge Arbeit von Autist*innen.

Am 14. Dezember 2012 änderte sich die Berichterstattung abrupt, als in Newtown, USA 27 Menschen vom jugendlichen, einzelgängerischen Waffenfanatiker Adam Lanza erschossen wurden. Im Zuge der ersten medialen Darstellung machte ein Fakt schnell die Runde: Der Täter hatte die Diagnose Asperger-Autismus.
Nach so einem Massenmord, der die Menschen fassungslos mit der Frage nach dem „Warum?“ zurücklässt, war diese Meldung der sprichwörtliche Jackpot, lieferte sie doch eine greifbare Antwort. Die Redaktionen überschlugen sich mit Meldungen über die gefühlskalten Einzelgänger und der Grundtenor der mysteriösen Faszination kippte in Misstrauen und Angst. Allen voran ging hier Spiegel Online, die nur einen Tag nach dem Amoklauf mit den Worten „Gleichwohl fallen in der Historie solcher Morde immer wieder Männer auf, die kaltblütig töteten und Autisten waren“ gleich eine ganze Liste mit Massenmördern präsentierten, die alle angeblich Asperger-Autisten gewesen sein sollen. Auf dieser Liste auch die deutschen Frederik B. und Heinrich Pommerenke. Beide Mehrfachmörder. Als einige Autist*innen hier das erste Mal gemeinsam und organisiert gegen diese Berichterstattung vorgingen, sollte das dabei alles nur ein Missverständnis gewesen sein und der Artikel wurde leicht geändert.
An der Diagnose des Täters und der Täter auf der Liste kamen im Laufe der Zeit von immer mehr Fachkräften Zweifel auf, die aber kein mediales Interesse hervorriefen. So führte der Vater von Adam Lanza ein Interview mit The New Yorker, in dem er unter anderem von verzögerter Sprachentwicklung sprach. Ein Ausschlusskriterium für das Asperger-Syndrom. Die Diagnose von Pommerenke wurde von einem 80-jährigen Psychiater auf Grundlage fehlender Empathie und ausschließlich nach Aktenlage gestellt und genügt damit keinerlei wissenschaftlichem Standard für eine Diagnostik.
Den Schaden, der durch diese ursprünglichen Meldungen bereits verursacht wurde, konnten diese Richtigstellungen jedoch nicht mehr beheben. Bei jedem neuen durch eine angeblich sozial unbeholfene Einzelgänger*in begangenen Amoklauf beginnen wiederholt Diskussionen darüber, ob die Täter*in Autist war. Dabei löst das Unbekannte am Autismus, das ursprünglich für die Faszination sorgte, jetzt eine diffuse Angst der der Leser*in aus, die sich sichtbar in den Kommentaren manifestierte. Hier fordern die Leser*innen bis heute jede erdenkliche Maßnahme, bis hin zu Zwangseinweisungen für alle Autist*innen.
Der Trend, Asperger-Diagnosen an Individuen zu verteilen, die im öffentlichen Interesse stehen und nicht den sozialen Normen entsprechen, bleibt unverändert und weitet sich bis heute auf alle Bereiche von (mitunter angeblichem) Fehlverhalten aus. Wie zum Beispiel beim enttarnten BND-Doppelagenten oder beim russischen Präsidenten Putin, bei denen ein nur sehr begrenzt fundierter Verdacht hohe mediale Wellen schlug.

In der Gegenwart1 ist der Begriff Asperger, beziehungsweise Autismus, in den Medien auch außerhalb solcher Zuschreibungen regelmäßig präsent. Einen wesentlichen Teil dieser Präsenz macht nach wie vor die Berichterstattung über Autismus aus. Diese hat jedoch in den letzten Jahren erneut einen Wechsel durchlaufen. Heutige Beiträge legen den Fokus auf die speziellen Fähigkeiten von Autist*innen und auf Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, diese Fähigkeiten zu nutzen. Der Grundtenor hat sich seit den ersten Berichten über Autist*innen allerdings nicht geändert. Die Leistungen werden trotz oder wegen ihres Autismus erbracht und die Berichte bauen auf einzelnen speziellen Eigenschaften dieser Autist*innen auf. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass es jetzt die beruflichen Fertigkeiten sind. Das Gesamtbild steht nach wie vor dahinter zurück.
Eine weitere Ursache für die Medienpräsenz hat nichts mit Autist*innen zu tun. Sogar zu Autismus hat sie nur einen sehr indirekten Bezug. In den letzten Jahren hat sich zunehmend zur Mode entwickelt, Autismus als Metapher oder sogar als Schimpfwort zu verwenden. Nachdem dies über lange Zeit im politischen Diskurs regelmäßig stattfand, passiert es nun auch im Feuilleton zunehmend häufiger, dass bestimmte Verhaltensweisen abwertend als autistisch bezeichnet werden. Was die Autoren mit diesem Bild aussagen wollen, variiert dabei häufig. Meist jedoch wird der Begriff des Autismus, beispielsweise des digitalen Autismus verwendet, um die vom Autor gefühlte Isolation des Individuums in der Gesellschaft zu beschreiben und die Abkehr von jedem Sozialverhalten. Ebenfalls häufig wird mit der Metapher vom „sexuellen Autismus“ das Bild des Autisten genutzt um Asexualität als Vorwurf zu instrumentalisieren. Die Vorstellung politisch Andersgesinnter als Autisten im Swinger-Club schafft es dabei sogar zur allgemeinen Belustigung ins Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dabei etabliert sich die Bezeichnung „autistisch“ zunehmend als Ersatz dafür, was früher als „krank“ oder „behindert“ bezeichnet worden wäre. Eine Entwicklung, die mit der Politik und dem Feuilleton hauptsächlich die Menschen trifft, die gebildet sind oder so erscheinen wollen und ihre Beleidigungen lieber in ein Fremdwort kleiden. Zwar gibt es mittlerweile viele Autist*innen, die sich zusammenschließen und auf die Unangemessenheit dieser Formulierung hinweisen, doch sie wird ungeachtet dessen weiter verwendet.
Dabei besteht das Problem darin, dass durch die Verwendung von Autismus als Metapher für bestimmte Verhaltensweisen, die Leser*innen diese Aussage nicht zwingend als die Metapher wahrnehmen, wie die Autor*in sie (hoffentlich) gemeint hat. Das führt ganz praktisch dazu, dass viele Leser*innen nicht zwischen der metaphorischen und der realen Autist*in trennen können und im Alltag mit Autist*innen die gesamte Bandbreite negativer Eigenschaften assoziieren.

Seit 1988 hat die Berichterstattung einen großen Bogen geschlagen. Ausgehend von Rain Man und dem Fokus auf die Savants unter den Autist*innen, über eine Berichterstattung, die aus den Besonderheiten einiger weniger bestand, der generellen Vorverurteilung einer ganzen Bevölkerungsgruppe und letzten Endes zurück zur Berichterstattung über einzelne Besonderheiten und Menschen die ihre Beleidigungen intellektualisieren wollen. Dabei wird deutlich, dass sich seitdem einiges verändert hat, aber die Berichte über Autist*innen dennoch an vielen Stellen in ihren alten Mustern verharren und die Bemühungen um eine realistischere Darstellung viele Rückschläge erleiden.
Trotz dieses Trends schließen sich zunehmend Autist*innen zusammen, um gemeinsam die Forderung nach einer ausgewogeneren Berichterstattung durchzusetzen. So hat eine Journalist*in dank der Vernetzung im Internet mittlerweile ohne größere Probleme die Möglichkeit, mit Autist*innen in Kontakt zu treten und sich aus erster Hand zu informieren statt das bisherige falsche Bild zu reproduzieren. Dieser Einsatz einzelner ist wichtig für alle Autist*innen, denn aus dem Medienbild resultiert das Bild, dass die Menschen von Autist*innen haben und damit in letzter Konsequenz auch, ob gesellschaftliche Akzeptanz und ein wirklich offener Umgang mit der Diagnose möglich wird.

Gastbeitrag zur Aktion Mensch

Gastbeitrag von MrsGreenberry zur Aktion Mensch


Wer sich, wie ich, mit der Interessensvertretung behinderter Menschen in Deutschland beschäftigt, ist Kummer und Leid gewöhnt. Die bekannteste Organisation in diesem Bereich ist die Aktion Mensch – das sind die mit den Losen, sodass man beim nächsten Weihnachtsgeschenk für Onkel Rudi das Gefühl hat, etwas richtig Gutes zu tun und den armen Behinderten zu helfen. Wie bei den meisten Vereinen, die sich die Interessensvertretung behinderter Menschen auf die Fahnen geschrieben haben, ist auch die Aktion Mensch fest in der Hand nichtbehinderter Menschen. Dass das zu anderen Ergebnissen als eine echte Selbstvertretung führt, liegt auf der Hand. Dennoch schafft es auch diese Organisation, mich immer wieder aufs Neue negativ zu überraschen, etwa gestern Nachmittag, als mir dieser Tweet in die Timeline gespült wurde:

Zugegebenermaßen ist gar nicht so klar, auf wen sich hier die „falsche Einstellung“ bezieht. Die GesellschaftTM? Behinderte Menschen? Beide?

Wenn die GesellschaftTM gemeint ist, handelt es sich auf jeden Fall um eine gefährliche Vereinfachung. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass behinderte Menschen nicht nur durch ihre Behinderung an sich, sondern auch durch individuelle und strukturelle Diskriminierung (Stichwort etwa Bundesteilhabegesetz) ebenfalls behindert werden. Aber eben nicht ausschließlich. An dieser Stelle kann ich zunächst einmal nur für mich selbst sprechen, aber auch in einer perfekten Gesellschaft würde mich mein Autismus immer noch einschränken. Weit weniger als er es jetzt tut, aber alle Einschränkungen lassen sich schlichtweg nicht durch angepasste Rahmenbedingungen kompensieren. Sommerliche Temperaturen und strahlender Sonnenschein zum Beispiel würden mich wohl immer noch in einer gewissen Regelmäßigkeit in eine Reizüberflutung befördern. Zu behaupten, sämtliche Beeinträchtigungen behinderter Menschen entstünden ausschließlich in Wechselwirkung mit der Gesellschaft, ist meiner Meinung nach ein Wunschdenken, das die Realität (mindestens vieler) behinderter Menschen leugnet.

Wenn mit der „falschen Einstellung“ hingegen (auch) behinderte Menschen gemeint sind – uiuiuiuiui. Ich hoffe doch ganz stark, dass die Aktion Mensch Rollstuhlfahrer*innen nicht erzählt, ihre Behinderung sei nur auf die falsche Einstellung zurückzuführen und wenn sie sich nur wirklich anstrengen würden, könnten sie auch die Treppe nehmen, anstatt immer dreist nach einem Aufzug zu verlangen. Glaube ich aber auch nicht wirklich, denn eine solche Logik betrifft ja in aller Regel nicht Menschen, denen man ihre Behinderung auf den ersten Blick ansieht. Selbst Mitarbeiter*innen von Aktion Mensch ist dann wohl irgendwie klar, dass das so nicht funktioniert. Sehr wohl aber betrifft so eine „Nur deine Einstellung behindert dich!“ Logik – auch bekannt als neoliberales „Du kannst alles schaffen, wenn du nur wirklich willst!“ – Menschen, denen man ihre Behinderung nicht auf den ersten Blick ansieht, und zwar auch von Seiten der Aktion Mensch. Auch an dieser Stelle kann ich wieder nur aus meiner Perspektive als Autistin berichten, es würde mich aber nicht wundern, wenn sich Aktion Mensch auch in Bezug auf andere sogenannte unsichtbare Behinderungen gar nicht mal so knorke verhält. Auf jeden Fall gilt: Aktion Mensch fördert finanziell Projekte, in denen autistische Kinder mit ABA (Applied Behavior Analysis) „gefördert“ werden, einer „Therapie“, in denen sie mithilfe von operanter Konditionierung Verhaltensweisen an – und abtrainiert bekommen, und das zum Teil 30 – 40 Stunden pro Woche. Dabei macht sich niemand Gedanken darüber, warum autistische Kinder manche Verhaltensweisen zeigen oder welchen Stress es auslöst, Verhaltensweisen ersatzlos zu „löschen“ (ja, so nennt sich das bei ABA). Das Thema ist ziemlich komplex und würde in seiner Gesamtheit hier den Rahmen sprengen. Autist*innen weltweit protestieren seit Jahren gegen diese Art der „Behandlung“, die auf genau der „Wenn du dich nur anstrengst, bist du auch nicht autistisch/behindert“ Logik fußt, was Aktion Mensch allerdings herzlich egal ist. Aleksander Knauerhase stand bezüglich des Themas ABA im Austausch mit der Aktion Mensch, die gesamte Chronik des Grauens findet sich auf seinem Blog.

Ich bin mir sicher, Aktion Mensch würde sich, würde man etwa einen Protestbrief gegen diesen Tweet verfassen – auf kritische Replies zu antworten, hat die Aktion Mensch anscheinend nicht nötig – wortreich rechtfertigen. Vermutlich würde sie argumentieren, so habe man das ja alles nicht gemeint, das sei wohl ein Missverständnis und es tue ihnen leid, dass man sich in seinen Gefühlen verletzt gefühlt habe. Ich für meinen Teil bin mir ziemlich sicher, dass das kein Missverständnis war, sondern wieder einmal gezeigt hat, wo die Aktion Mensch ideologisch zu verorten ist und warum die Interessensvertretung von Menschen mit Behinderung durch Menschen ohne Behinderung auch im Jahr 2016 noch immer, vorsichtig ausgedrückt, kein Erfolgsmodell ist.

Von Vulkaniern und Autisten

„Autisten haben keine Gefühle“, „Kalte, gefühllose Autisten“, „Genies, unfähig Gefühle zu empfinden“. So oder so ähnlich liest und hört man immer wieder in Medienberichten aller Art. Auch nach Jahren ist dieses Bild der gefühllosen Autisten nicht aus den Köpfen vieler Menschen zu bekommen. Dabei könnte es von der Realität kaum weiter entfernt sein. Natürlich haben Autisten Gefühle. Ich würde an dieser Stelle sogar so weit gehen, dass sich diese Gefühle nicht von den Gefühlen unterscheiden, die Nicht-Autisten auch haben. Mit all ihren Vor- und Nachteilen. Wie kommt es also, dass sich dieses Bild so hartnäckig hält?

Einer der wahrscheinlichsten Gründe ist wohl in der Historie von Autismus zu sehen. In einer Zeit, als das Bild des Autismus auf nicht-sprechende pflegebedürftige Menschen reduziert war, die augenscheinlich nicht mit ihrer Umwelt interagierten. Hier fand auch das Bild des Lebens in einer eigenen Welt seinen Ursprung. Unter dieser Ausgangssituation und der weit verbreiteten Annahme, dass etwas dass man nicht sieht, auch nicht da ist, war die Schlussfolgerung, dass Autisten keine Gefühle haben unvermeidlich.

Das Bild von Autismus hat sich seitdem gewandelt. Mittlerweile sind sich die meisten Menschen bewusst, dass es auch Autisten gibt, die sprechen können. Nichtsdestotrotz bleibt die Aussage, dass Autisten keine Gefühle hätten, hartnäckig bestehen. Das Bild in den Köpfen hat sich dabei von Menschen, die „in ihrer eigenen Welt gefangen sind“ zu einem Bild von hochintelligenten und rein rational handelnden Vulkaniern1 gewandelt. Einer vermeintlich emotionslosen, hochintelligenten Spezies aus dem Star Trek-Universum. Dabei zeigen Autisten durchaus Gefühle. Die Art mit der sie das tun ist dabei jedoch nicht zwingend die gleiche, wie bei Nicht-Autisten, die ihre Gefühle in der Regel durch Gestik/Mimik, Tonlage oder verbale Kommunikation zum Ausdruck bringen. Genau wie Autisten Probleme damit haben, diese Signale bei anderen Menschen zu interpretieren, senden sie diese Signale nicht, oder zumindest anders, aus. Einige der auffälligsten Merkmale bei vielen Autisten sind ungewöhnliche Betonung in der Sprache und auffällige Mimik. Dies bedeutet, dass für Nicht-Autisten, die herausfinden wollen, wie ein Autist sich fühlt bereits zwei von drei Mechanismen ausfallen. Viele der Signale, an denen man im Regelfall festmachen könnte, wie ein Mensch sich grade fühlt bleiben in der Kommunikation aus.
Der für Nicht-Autisten verbleibende Weg ist die verbale Kommunikation. Dieser Weg ist jedoch der vergleichbar unüblichste. Es gibt nicht viele Situationen, in denen Menschen ausgedehnte Diskussionen über ihr aktuelles Gefühlsleben anstrengen. Und selbst wenn sich eine solche Möglichkeit ergibt, besteht zusätzlich das Problem, dass man seine eigenen Gefühle zunächst verstehen muss. Da diese jedoch nicht immer festen Regeln und Mustern unterliegen kann dies ein großes Hindernis sein. Aber selbst wenn man seine eigenen Gefühle identifiziert und verstanden hat, heißt das nicht, dass man diese auch adäquat verbalisieren kann. Die Sprache in der Emotionen kommuniziert wird ist weit weg davon sauber definiert und einheitlich zu sein, so dass es an vielen Stellen einfach keine Sicherheit dafür gibt, auch das passende Wort für die passende Emotion zu finden.

Dabei zeigen auch Autisten Gefühle. Sie tun es nur anders. So anders, dass es nicht auffällt. In meinem Fall ist meine Bereitschaft jemandem eines meiner Bücher zu leihen, nichts anderes, als ein Ausdruck großen Vertrauens. Genau so, wie ich nur Menschen, die ich wirklich mag, freiwillig in meine Wohnung (und damit meinen Rückzugsraum) lassen würde. Handlungen, bei denen sich die meisten Menschen nicht viel denken, da sie für sie keine besondere Bedeutung haben. Diese Beispiele betreffen jedoch nur mich. Die Mittel Emotionen zu kommunizieren sind so unterschiedlich wie die Autisten selbst und lassen sich nicht allgemeingültig beschreiben. Man kann sie jedoch herausfinden, wenn man sich die Zeit nimmt, einen Autisten kennen lernt und der eigenen Neigung, von sich selbst auf andere zu schließen, aktiv entgegen wirkt. Das mag anstrengend sein, kann sich aber im Umgang mit Autisten sehr lohnen.

Können Sie es?

„Können Sie es?“ ist die Einstiegsfrage des Artikels von Hannah Rosin in der ersten Ausgabe des neuen Formats „Stern Crime“. Ich habe sie mir in Essen am Hauptbahnhof gekauft, obwohl – oder grade weil – ich mir denken konnte, was mich beim Lesen erwarten würde. Aufmerksam wurde ich in einer zweiseitigen Vorschau auf das Magazin, in welcher unter anderem der Titel dieser Geschichte abgedruckt wurde:

Amerika kann Kelli Stapleton nicht vergeben, dass sie versuchte, sich und ihre autistische, gewalttätige Tochter umzubringen.
Können Sie es?

Auf zehn Seiten widmet sich der Stern nun Kelli Stapleton und ihrer Geschichte. Wohlgemerkt nicht der Geschichte ihrer Tochter. Diese setzt damit ein, dass Issy, so der Name der Tochter, von ihrem ABA-Intensivtraining, spezialisiert auf Aggressionen, bei dem sie mit Wertmarken für angemessenes Verhalten belohnt wurde, nach Hause zurückkehrt. Als Issy bei ihrer Rückkehr ihre Mutter schubst, zerstört sie damit Kellis Hoffnungen auf ein normales Leben ihrer Tochter. Unter anderem „einem, in dem sie nicht mehr jeden Augenkontakt mit Issy vermeiden musste“. Nachdem weitere Aggressionen folgen, entschließt Kelly sich, gemeinsam mit ihrer Tochter in den Wald zu fahren und beide dort mit Kohlenmonoxyd zu vergiften. Beide überleben.

Ich möchte an dieser Stelle nicht über die Mutter urteilen. Diese Aufgabe übernahm ein Richter. Was mich an diesem Artikel mehr trifft als der eigentliche Inhalt, ist die Art, wie diese Geschichte erzählt wird. Die Geschichte der Mutter, die ihr Kind töten wollte, und nicht die Geschichte ihrer Tochter. Die bleibt über den gesamten Artikel hinweg reduziert auf die Rolle der gewalttätigen Autistin, die trotz ihrer in höchstem Maße aufopferungsvollen Mutter einfach nicht aufhört autistisch und gewalttätig zu sein, wobei sich der Eindruck aufdrängt, dass für die Autorin diese beiden Begriffe wohl untrennbar miteinander verwoben sind. Über den gesamten Artikel hinweg ist Kelli ein Opfer der Umstände, der jede Hoffnung abhandengekommen ist. Während ihre gewalttätige autistische Tochter sie verprügelt.

„Vor 40 Jahren wären Kinder wie Issy in einer Anstalt gelandet. Heute werden sie in die Gesellschaft integriert. In der Praxis heißt das aber, dass fast alles den Eltern überlassen wird. Und aggressive autistische Kinder sind während der Pubertät immer schwerer zu kontrollieren. Sie entwickeln gewaltige, von Adrenalin getriebene Kräfte.“

Man kommt nicht umhin, beim Lesen solcher Abschnitte das Bild tausender wehrloser Eltern vor Augen zu haben, die vom Staat dazu verdammt werden, ihren monströsen Kindern hilflos ausgeliefert zu sein. Und man kommt nicht umhin, Mitgefühl für Kelli zu entwickeln. So dass viele Leser die Eingangsfrage nach der Vergebung wohl eindeutig bejahen würden. Inklusive einer diffusen Angst vor den vielen autistischen Kindern, die oft in Rage geraten und gewalttätig werden.

Wüsste ich es nicht besser, ich hätte Verständnis dafür. Und ich hätte Angst vor Autisten.
Doch dieser Artikel hätte keine herzbrechende Geschichte über eine Mutter, die unter ihrer gewalttätigen Tochter leidet, werden müssen. Er hätte auch ein Artikel werden können über eine Mutter, die von der falschen Illusion auf wundersame Heilung getrieben ihre gesamte Energie in ABA investiert. Einer Mutter, die den gesamten Tagesablauf ihrer Tochter mit Lernen durchplante und ihre anderen beiden Kinder dafür immer wieder zurückstellte. Einer Mutter, die von der Hoffnung auf eine wundersame Heilung ihrer Tochter getrieben wurde. Einer Mutter, die letzten Endes durch alle diese irrationalen Hoffnungen unter dem ausbleibenden Erfolg und einem roboterhaft sprechenden Kind zerbricht. Auch dieser Faktor kommt im Artikel vor. Doch dass mit der Hoffnung auf Heilung, wie ABA sie propagiert, der Grundstock für diese Tragödie gelegt wird, klingt mehr zwischen den Zeilen durch. In den Zeilen bleibt die Beschreibung einer Mutter, die in einem Mord die einzige Rettung für sich und ein gewalttätiges autistisches Kind sieht.

All das ist dieser Artikel nicht geworden. Stattdessen transportiert er ein Bild von Autismus, bei dem Mord an einem Kind eine legitime Lösung für ein Problem scheint. Und das kann ich der Autorin nicht vergeben.

Ein Autismus uns zu retten

Wenn ein Zeitungsartikel mit der Titelergänzung „Hochstapler und Autisten“ einsetzt und der zweite Satz „Nur ein neuer Autismus kann uns retten“ lautet, sollte man ihn eigentlich gar nicht erst lesen. Ich habe es zu meinem Bedauern trotzdem getan.

In ihrem Artikel „Wir sind alle Felix Krull“ mäandert Helene Hegemann in der FAZ irgendwo zwischen einer Literaturkritik von Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, einer Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung des Shitstorms zu einem Schwarm-Lynchmob und einer Figurenanalyse der dänisch-schwedischen Fernsehserie „Die Brücke“.

Ich halte es für eine hohe Kunst, in einem solchem Text eine der schlimmsten Autismus-Metaphern unterzubringen, die ich in den letzten Jahren las. Hegemann hat dieses Kunststück mit Bravour gemeistert, denn sie fordert einen neuen Autismus. Einen, in dem sie die Rettung aus den von ihr angeprangerten gesellschaftlichen Missständen sieht. Die Frage was mit dem bestehenden Autismus nicht stimmt beantwortet auch:

„Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen. Es geht um zurückhaltende Außenseiter, die nicht lügen können und ihre Fähigkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt, sich selbst egal und deshalb unsere letzte Rettung.“

Auch mehrere Stunden, nachdem ich diese Textstelle las, fehlen mir immer noch die Worte. Schon seit Jahren wurde ein größtenteils stark verzerrtes und negatives Bild medial verbreitet. Doch Hegemann hat es tatsächlich geschafft, dieses bestehende Bild nicht nur zu übernehmen, sondern es noch zu verschlimmern.
Dabei bin ich mir jedoch nicht sicher, ob an dieser Stelle nicht auch ein gewisses Kalkül dahinter steckt und Hegemann versucht, den von ihr beschriebenen Mechanismus, dass ein einziger Tweet ganze Karrieren ruinieren kann, auszulösen. Sollte dies der Fall sein, dann trägt sie diesen Kampf um die Aufmerksamkeit auf dem Rücken der Autisten aus. Aber wahrscheinlicher ist vermutlich, dass sie es, wie viele Menschen, einfach nicht besser weiß.

Das eigentlich Schlimme an diesem Text ist jedoch nicht, dass eine junge Autorin unreflektiert Vorurteile salonfähig macht. Ich würde mich sogar sehr gerne mit ihr über ihren Text und ihr Bild von Autisten unterhalten. Das wirklich Schlimme ist, dass dieser Text alle Instanzen einer der größten deutschen Zeitungen durchlaufen konnte und auf diesem gesamten Weg niemand intervenierte. Kein einziger verantwortlicher Mitarbeiter der FAZ sah in dieser Textstelle, die für alle Asperger-Autisten eine mittlere Katastrophe ist, ein Problem und verhinderte ihre Veröffentlichung.

Hegemann macht in ihrem Text auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam. Jedoch andere Probleme, als die im Text beschriebenen. Es ist die tiefsitzende, unterschwellige Behindertenfeindlichkeit in den deutschen Medien und auch in der Gesellschaft, die nach wie vor besteht und sich nie grundlegend gebessert hat. Sie hat sich nur gewandelt von den offensichtlichen Behindertenwitzen zu scheinintellektuellen Pointen gegen Autisten.

 

Weitere Texte zum Thema:

Autismus in der Politik: „Können wir uns Autismus leisten?“


Wir sind Autismus-Banner

In den letzten Monaten wurde, teilweise auch angestoßen durch uns, viel über Autismus Deutschland und auch ABA diskutiert. Natürlich wurden viele Autisten hellhörig, als die CDU-Fraktion des Stuttgarter Landtags eine Info-Veranstaltung zu Autismus ansetzte, in die Autismus Deutschland involviert war. Da ich und vermutlich die meisten Leser es nicht geschafft haben dort hinein zu kommen, freue ich mich sehr, dass outerspace_girl einen Bericht über diese Veranstaltung geschrieben hat, den ich hier als Gastbeitrag veröffentlichen darf und wir auf diese Weise einen Einblick bekommen können.

„Können wir uns Autismus leisten?“
Ein Bericht von der Anhörung zum Thema Autismus der CDU-Landtagsfraktion

Mit der am 27. Oktober 2014 veranstalteten Anhörung machte es sich die CDU im Stuttgarter Landtag zur Aufgabe, über die Autismus-Spektrum-Störung zu informieren und Betroffenen ein Gehör zu verschaffen. Dies ist eine durchaus ehrgeizige Aufgabe und entsprechend hoch waren die Erwartungen.

Etwa 200 Zuhörer, darunter Mediziner, Pädagogen, Mitglieder von Autismus-Verbänden, Eltern autistischer Kinder und auch vereinzelte Autisten, versammelten sich in dem Plenarsaal und wurden von Frau Dr. Monika Stolz (Mitglied des Landtags) und Herrn Werner Raab (Mitglied des Landtags) mit freundlichen Worten Willkommen geheißen. Bereits in der Begrüßung wies man deutlich darauf hin, dass der Informationsbedarf groß ist und besonders die Schwierigkeiten von Autisten auf dem Arbeitsmarkt zu betrachten sind, die allzu häufig aus der Schule kommend zum Arbeitsamt und weiter zum Sozialamt geschickt werden. Man wird am heutigen Tage keine Lösung bieten, sagte man, doch man will zuhören, verstehen und sensibilisieren.

 

Herr Prof. Dr. Poustka, Univ.-Prof. und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie begann seinen Vortrag mit einem Bild aus dem Film „Rain Man“ und dem Hinweis, dass von einer erheblichen Unterversorgung im Bereich Diagnostik und Therapie auszugehen ist; ein Problem, dass allen Autisten und Eltern autistischer Kinder gut bekannt ist. Nach einem kurzen Abriss der Definition und Einteilung von Autismus-Spektrum-Störung laut DSM-5 und einer Erläuterung der einzelnen Symptome, nannte er kurz neueste Erkenntnisse aus der Genetik, die die hauptsächlich amerikanische Forschung in neuester Zeit lieferte. Autismus sei grundsätzlich keine seltene Erkrankung mehr, sagte er, die geistige Behinderung habe prozentual abgenommen, da höher funktionale Autisten das Bild im Laufe der Zeit verschoben hätten.
Bald darauf kam er auf Therapie und Heilungschancen zu sprechen. Je früher ein Kind diagnostiziert wird, so Poustka, desto schwerer sei es betroffen. Dabei sei ABA und andere Verhaltenstherapien mit diskreten Formatierungen die am besten evaluierte Therapie, ergänzte er, die auch an Schulen und in Gruppen weitergeführt werden sollte, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Er schloss mit dem Hinweis, dass man in Filmen wie „Rain Man“ eine gute Informationsquelle zum Thema Autismus finden würde und gab das Wort ab an

 

Frau Dr. Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, die selbst Asperger-Autistin ist. In einem angenehmen und persönlichen Stil erzählte sie aus ihrem Leben als Autistin und von ihren Schwierigkeiten im Alltag. Autisten seien die perfekten Arbeitnehmer, pünktlich, zuverlässig, perfektionistisch und auf ihre Arbeit konzentriert, doch nach dem Arbeitstag oft einsam und isoliert. Man solle sie nicht nur für das bedauern, was sie nicht können, sondern auch ihre Stärken hervorheben. Damit sprach sie sicher vielen Autisten aus der Seele. Der direkten Nachfrage, was sie als Medizinerin und Autistin von Therapien wie ABA halte, wich sie leider aus. Sie antwortete, dass eine individuelle therapeutische Unterstützung für jeden Betroffenen notwendig sei und man sich nicht an einer einzelnen therapeutischen Schule orientieren dürfe, sondern vielmehr verschiedene Therapieansätze in Betracht gezogen werden sollten.

 

Der dritte Redner, Prof. Dr. Jörg Fegert, ärztlicher Direktor und Gründer der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, widmete sich hauptsächlich der Inklusionsdebatte und deren Folgen für die pädagogisch therapeutische Förderung autistischer Kinder. Labeling durch Diagnosen sei notwendig, um überhaupt Hilfen zu erhalten, sagte er, doch Schulen und Einrichtungen stünden unter einem regelrechten Inklusionsdruck. Jedes 241. Kind in Deutschland habe laut Fegert derzeit einen Schulbegleiter, in vielen Fällen scheitere die Hilfe aber an der Zuständigkeit der Kostenträger. Adäquate Förderung sei Glückssache und fast alle anderen Länder böten bessere Inklusionshilfen für Kinder mit Behinderung, die in Deutschland durch die derzeitige gesetzliche Lage nicht erbringbar sei. Er verlangte wiederholt Verbesserungen und Hilfen und bekam dafür viel Applaus, konkrete Vorstellungen oder Lösungsansätze waren jedoch zu vermissen.

 

Ihm folgte Prof. Dr. med. Peter Martin, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Rehabilitationswesen und Leiter der Séguin-Klinik in Kehl-Kork. Dieser sprach über die Versorgung von Erwachsenen mit schwerem und syndromalem Autismus in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen.

Seine Rede ließ einen roten Faden vermissen, er sah jedoch die Gefahr, dass durch mangelndes Fachwissen von Ärzten, Therapeuten und Pflegepersonal Autisten zunehmend ins Abseits gedrängt würden und fragte, wie viel Wissen realistisch überhaupt erwartbar ist. Er lieferte interessante Fakten zu Komorbiditäten der Autismus-Spektrum-Störung, so läge die Prävalenz von Epilepsie bei Autisten zum Beispiel bei vierzig Prozent, bei neurotypischen Menschen allerdings nur bei einem Prozent. Depressionen und Angststörungen seien ebenso gehäuft zu finden.

 

Den letzten Vortrag dieses Nachmittags hielt Prof. Dr. med. Hanns Rüdiger Röttgers, Fachbereich Sozialwesen an der Universität Münster, der deutlich sagte, dass Deutschland kein Autismus-Entwicklungsland bleiben müsse. Wortgewandt fasste er die vorherigen Vorträge zusammen.

Seiner Meinung nach seien Kinder in ihrer Autismus-Spektrum-Störung nicht statisch, sie hätten mit früher Diagnose und früher Therapie die Möglichkeit der Entwicklung. Man dürfe jedoch nicht in beschützende Parallelsysteme investieren, sondern müsse sich auf Inklusion konzentrieren. ABA nannte er wiederholt „den richtigen Weg“. Er stellte in den Raum, dass ein autistischer Mensch im Laufe seines Lebens etwa 3 Mio. Dollar koste, der Großteil dieser Summe aber von Langzeitverwaltung und Unterbringungskosten verschlungen würde. Die Diagnostik von Autismus sei mühsam, zeitaufwändig, teuer und aus finanzieller Sicht nicht lohnenswert und so brachte er das Argument, dass sich Ärzte und Therapeuten die Frage stellen müssten, ob sie sich Autismus überhaupt leisten können. Leistungen von den Krankenkassen sind kaum zu erwarten, ist Autismus dort doch als unheilbar eingestuft.
Auch auf dem Arbeitsmarkt finden Autisten nicht statt, brachte er an. Ihre Qualitäten werden nicht erkannt, die Diagnose schrecke zu sehr ab. Er zeigte ein Bild aus einer autism speaks-Kampagne, um die drohende soziale Isolierung von Autisten zu verdeutlichen, was Unruhe unter einigen anwesenden Autisten auslöste. Er versuchte diese schnell zu beschwichtigen, indem er mitteilte, dass er sich nicht so gut mit autism speaks auskenne.

 

Werner Raab beendete die Anhörung mit den Worten, dass man am Anfang einer unheimlich schwierigen Aufgabe stehe und noch viel von Menschen mit Sinnesbehinderung lernen könne. Es wurde in jedem einzelnen Vortrag betont, welche Probleme für Autisten bestehen und welch massiver Handlungsbedarf vonnöten ist. Lösungsansätze oder konkrete Pläne gab es aber keine.

Die Anhörung zum Thema Autismus hinterließ bei mir den Eindruck, dass es an gutem Willen nicht mangelte. Mit der Ankündigung, Autisten ein Gehör zu geben, übernahm sich die CDU hingegen. Die Veranstaltung war in erster Linie für Menschen gedacht, die beruflich oder privat mit Autisten in Kontakt kommen und sich Informationen wünschen, nicht jedoch für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, die das ihnen angebotene Gehör nutzen wollten. Die Wortmeldungen zweier anwesender Autisten zwischen den Vorträgen waren aber derart emotional und verzweifelt, man merkte deutlich, dass eben genau das nötig ist: Autisten ein Gehör zu geben.

 

Wovor ich Angst habe

Wenn man sich mit Autismus und den Medien beschäftigt, kann es mitunter passieren, dass man ganz furchtbaren Bluthochdruck bekommt. Viele Autisten werden nicht müde gegen all diese Fehldarstellungen, misskonstruierten Zusammenhänge und sachlichen Fehler anzuschreiben. Da werden Blogbeiträge geschrieben, Redaktionen angemailt und auch sonst auf den erdenklichsten Wegen versucht, gegen die Windmühlen der Redaktionen anzukämpfen.

Oft wird man dafür nur belächelt. Immer öfter muss man sich dafür rechtfertigen, warum man sich denn die ganze Mühe macht. Sollen die doch alle ihren Mist schreiben. Tut ja niemanden weh. Aktuell hat der Fokus wieder einmal einen Artikel geschrieben, der ja niemandem weh tut. Exakt zu begründen warum man sich darüber aufregt ist schwierig. Sicherlich geht es zum Teil auch einfach um das Prinzip, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn es mag stimmen, dass so ein einzelner Artikel niemandem groß weh tut.

Aber dummerweise ist es nie nur ein einziger Artikel. Es sind viele Artikel, immer wieder. Die immer wieder das gleiche falsche Bild von Autismus vermitteln. Das Bild von geistig behinderten gefährlichen Kriminellen und Amokläufern. Der Schaden jedes einzelnen dieser Artikel mag minimal sein, aber der Schaden den all diese Artikel gemeinsam anrichten ist immens. Durch diese konstante falsche Berichterstellung werden eben die Bilder in die Köpfe transplantiert. Je mehr Artikel, desto mehr festigen sich diese Bilder. Getreu dem Sprichwort des steten Tropfens, der den Stein höhlt.

Genau davor habe ich Angst. Denn das ist schon lange keine Hypothese mehr, sondern bereits jetzt Realität. Jeder der das sehen will, braucht dafür nur die Kommentare unter dem aktuellen Artikel des Focus zu lesen. @pollys_pocket war so nett die besten zusammenzutragen, einfach auf das gewünschte Bild klicken um es zu vergrößern:1

Wer sich die Kommentare nicht anschauen möchte, in der Kurzfassung ist, dass man geistig Behinderten halt keine Verschlusssachen anvertrauen sollte. Gepaart mit etwas Kritik daran dass Autismus ja ohnehin nur so eine Modediagnose ist, die dazu dient das Eltern Boni für ihre Kinder rausschlagen wollen. Dazu wird Autismus fröhlich mit krankhaftem Größenwahn, Selbstüberschätzung und einer Kontrollmanie gleichgesetzt, die letzten Endes zum Untergang der westlichen Welt führen wird.

All das verdeutlicht mir nur eines, der Schaden den diese Artikel anrichten ist kein Hirngespinst, oder eine bloße Angst vor denen die paar Autisten, die sich bloß aufregen wollen Paranoia haben. Das Bild dass all diese „falschen, aber im Grunde harmlosen“ Artikel von Autismus malen ist bereits in den Köpfen der Menschen angekommen. Menschen von denen ich befürchten muss, dass ich in meinem Alltag auf sie stoße, die mich allein aufgrund meiner Diagnose für eine Bedrohung und geistig behindert halten. Diese Vorstellung macht mir eine verdammte Angst. Aber das sollten mir die Klickzahlen der Online-Redaktionen dann doch wert sein.

 

Einen Beleg für die Behauptung der Spion sei Asperger-Autist hat der Focus übrigens in dem Artikel nicht angeführt.

Interview: Wir können reden!

Mein Verhältnis zu Medien im Allgemeinen ist ein recht spezielles. Medienkontakte auf Augenhöhe sind selten und Journalisten, unabhängig ihrer Mediengattung, die bereit sind Vorurteile abzubauen, noch seltener. In der letzten Woche hatte ich das Glück, im Rahmen eines Berichts über den Schattenspringer von Fuchskind, mit einem dieser seltenen Journalisten ein Interview zu führen. Ich sprach mit Florian Christner vom Bayernkurier darüber, was es eigentlich mit diesem ominösen Autismus auf sich hat und was an diesen ganzen Vorurteilen dran ist. Das Interview ist am 7. Juni 2014 im Bayernkurier erschienen, aber für alle die den Bayernkurier nicht abonniert haben, darf ich das Interview hier in voller Länge veröffentlichen.
Die (leicht gekürzte) Online-Version des Interviews ist vier Wochen lang auf der Seite des Bayernkuriers zu finden.

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