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"Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben"

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Berichterstattung über Asperger in der Retrospektive

Mit dem Film Rain Man kam im Jahre 1988 Autismus zum ersten Mal in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Dieser Autismus, der Menschen atemberaubende Fähigkeiten verleiht, aber zeitgleich zum Fall für eine Dauerbetreuung macht, faszinierte die Zuschauer. Immer wieder wurden Artikel über diese „seltene und mysteriöse Krankheit“ geschrieben, doch was Autismus wirklich bedeutet und was ihn ausmacht, war lange Zeit nicht bekannt.

Mit dem Laufe der Jahre änderte sich das. Immer mehr Fälle von Autismus wurden erkannt, aber diese Autisten waren anders. Sie führten ein Leben außerhalb von Pflegeheimen, konnten reden, arbeiteten oder gingen zur Schule.
Diese "neuen" Autisten lösten den ersten Stimmungswechsel in der  Berichterstattung über Autismus aus. Statt allgemeiner Artikel über Rain Man und seine mysteriöse Krankheit fand man nun Berichte über tatsächliche Autisten, die von Journalisten und Fernsehteams durch ihren Alltag begleitet wurden. Jetzt war nicht mehr der Autismus, sondern die Autisten selbst das Mysteriöse. Kaum ein Beitrag kam ohne Formulierungen wie „von einem anderen Stern“ aus und die Autisten wurden in ihrer Darstellung häufig auf besondere Fähigkeiten, exzentrische Hobbys oder ungewöhnliche Ernährungsgewohnheiten reduziert. Außerdem litten diese Beiträge an dem gleichen Problem wie alle Darstellungen von Menschen mit Behinderungen:
Untermalt von getragener Musik und Moll-Tönen durften sie von ihren Problemen erzählen. War doch etwas positiv, war es das trotz der Behinderung. Das ZDF schaffte es in seiner Dokumentation „Von einem anderen Stern“ diesen Pathos auf die Spitze zu treiben, indem es einen minderjährigen Schüler mit den Worten „Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben“ zu Wort kommen ließ. Der Kreis der Autisten, die bereit waren, diese Darstellung in Kauf zu nehmen, um über Autismus zu informieren, war überschaubar und so beschränkte sich die Berichterstattung lange Zeit auf drei oder vier Autisten, die noch dazu sehr einseitig dargestellt wurden. Zwangsläufig war damit das Bild, das die Menschen von Autisten hatten, auf die Eigenheiten dieser wenigen Fernseh-Autisten reduziert.

Über viele Jahre hinweg blieb die Berichterstattung über Autismus auf diesem Stand. Auch als die Diagnose bekannter wurde und dementsprechend auch häufiger gestellt werden konnte, veränderte sich die Darstellung nur langsam. Natürlich waren viele Autisten nicht sonderlich glücklich damit, dass ihre Probleme auf den täglichen Konsum von Kohl reduziert wurden. Bis sich daraus jedoch Strukturen entwickelten, die es ermöglichten, dem Unmut über die Medien Ausdruck zu verleihen und die Medien daraufhin langsam begannen, ihre Beiträge mit mehr Tiefe zu versehen, brauchte es noch eine Menge Arbeit von Autisten.

Am 14. Dezember 2012 änderte sich die Berichterstattung abrupt, als in Newtown, USA 27 Menschen vom jugendlichen, einzelgängerischen Waffenfanatiker Adam Lanza erschossen wurden. Im Zuge der ersten medialen Darstellung machte ein Fakt schnell die Runde: Der Täter hatte die Diagnose Asperger-Autismus.
Nach so einem Massenmord, der die Menschen fassungslos mit der Frage nach dem „Warum?“ zurücklässt, war diese Meldung der sprichwörtliche Jackpot, lieferte sie doch eine greifbare Antwort. Die Redaktionen überschlugen sich mit Meldungen über die gefühlskalten Einzelgänger und der Grundtenor der mysteriösen Faszination kippte in Misstrauen und Angst. Allen voran ging hier Spiegel Online, die nur einen Tag nach dem Blutbad mit den Worten „Gleichwohl fallen in der Historie solcher Morde immer wieder Männer auf, die kaltblütig töteten und Autisten waren“ gleich eine ganze Liste mit Massenmördern präsentierten, die alle angeblich Asperger-Autisten gewesen sein sollen. Auf dieser Liste auch die deutschen Frederik B. und Heinrich Pommerenke. Beide Mehrfachmörder. Als einige Autisten hier das erste Mal gemeinsam und organisiert gegen diese Berichterstattung vorgingen, sollte das dabei alles nur ein Missverständnis gewesen sein und der Artikel wurde leicht geändert.
An der Diagnose des Täters und der Täter auf der Liste kamen im Laufe der Zeit von immer mehr Fachkräften Zweifel auf, die aber kein mediales Interesse hervorriefen. So führte der Vater von Adam Lanza ein Interview mit The New Yorker, in dem er unter anderem von verzögerter Sprachentwicklung sprach. Ein Ausschlusskriterium für das Asperger-Syndrom. Die Diagnose von Pommerenke wurde von einem 80-jährigen Psychiater auf Grundlage fehlender Empathie und ausschließlich nach Aktenlage gestellt und genügt damit keinerlei wissenschaftlichem Standard für eine Diagnostik.
Den Schaden, der durch diese ursprünglichen Meldungen bereits verursacht wurde, konnten diese Richtigstellungen jedoch nicht mehr beheben. Bei jedem neuen durch einen angeblich sozial unbeholfenen Einzelgänger begangenen Amoklauf beginnen wiederholt Diskussionen darüber, ob der Täter Autist war. Dabei löst das Unbekannte am Autismus, das ursprünglich für die Faszination sorgte, jetzt eine diffuse Angst beim Leser aus, die sich sichtbar in den Kommentaren manifestierte. Hier fordern die Leser bis heute jede erdenkliche Maßnahme, bis hin zu Zwangseinweisungen für alle Autisten.
Der Trend, Asperger-Diagnosen an Individuen zu verteilen, die im öffentlichen Interesse stehen und nicht den sozialen Normen entsprechen, bleibt unverändert und weitet sich bis heute auf alle Bereiche von (mitunter angeblichem) Fehlverhalten aus. Wie zum Beispiel beim enttarnten BND-Doppelagenten oder beim russischen Präsidenten Putin, bei denen ein nur sehr begrenzt fundierter Verdacht hohe mediale Wellen schlug.

In der Gegenwart ist der Begriff Asperger, beziehungsweise Autismus, in den Medien auch außerhalb solcher Zuschreibungen regelmäßig präsent. Einen wesentlichen Teil dieser Präsenz macht nach wie vor die Berichterstattung über Autismus aus. Diese hat jedoch in den letzten Jahren erneut einen Wechsel durchlaufen. Heutige Beiträge legen den Fokus auf die speziellen Fähigkeiten von Autisten und auf Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, diese Fähigkeiten zu nutzen. Der Grundtenor hat sich seit den ersten Berichten über Autisten allerdings nicht geändert. Die Leistungen werden trotz oder wegen ihres Autismus erbracht und die Berichte bauen auf einzelnen speziellen Eigenschaften dieser Autisten auf. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass es jetzt die beruflichen Fertigkeiten sind. Das Gesamtbild steht nach wie vor dahinter zurück.
Eine weitere Ursache für die Medienpräsenz hat nichts mit Autisten zu tun. Sogar zu Autismus hat sie nur einen sehr indirekten Bezug. In den letzten Jahren hat sich zunehmend zur Mode entwickelt, Autismus als Metapher oder sogar als Schimpfwort zu verwenden. Nachdem dies über lange Zeit im politischen Diskurs regelmäßig stattfand, passiert es nun auch im Feuilleton zunehmend häufiger, dass bestimmte Verhaltensweisen abwertend als autistisch bezeichnet werden. Was die Autoren mit diesem Bild aussagen wollen, variiert dabei häufig. Meist jedoch wird der Begriff des Autismus, beispielsweise des digitalen Autismus verwendet, um die vom Autor gefühlte Isolation des Individuums in der Gesellschaft zu beschreiben und die Abkehr von jedem Sozialverhalten. Ebenfalls häufig wird mit der Metapher vom „sexuellen Autismus“ das Bild des Autisten genutzt um Asexualität als Vorwurf zu instrumentalisieren. Die Vorstellung politisch Andersgesinnter als Autisten im Swinger-Club schafft es dabei sogar zur allgemeinen Belustigung ins Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dabei etabliert sich die Bezeichnung „autistisch“ zunehmend als Ersatz dafür, was früher als „krank“ oder „behindert“ bezeichnet worden wäre. Eine Entwicklung, die mit der Politik und dem Feuilleton hauptsächlich die Menschen trifft, die gebildet sind oder so erscheinen wollen und ihre Beleidigungen lieber in ein Fremdwort kleiden. Zwar gibt es mittlerweile viele Autisten, die sich zusammenschließen und auf die Unangemessenheit dieser Formulierung hinweisen, doch sie wird ungeachtet dessen weiter verwendet.
Dabei besteht das Problem darin, dass durch die Verwendung von Autismus als Metapher für bestimmte Verhaltensweisen, die Leser diese Aussage nicht zwingend als die Metapher wahrnehmen, wie der Autor sie (hoffentlich) gemeint hat. Das führt ganz praktisch dazu, dass viele Leser nicht zwischen dem metaphorischen und dem realen Autist trennen können und im Alltag mit Autisten die gesamte Bandbreite negativer Eigenschaften assoziieren.

Seit 1988 hat die Berichterstattung einen großen Bogen geschlagen. Ausgehend von Rain Man und dem Fokus auf die Savants unter den Autisten, über eine Berichterstattung, die aus den Besonderheiten einiger weniger bestand, der generellen Vorverurteilung einer ganzen Bevölkerungsgruppe und letzten Endes zurück zur Berichterstattung über einzelne Besonderheiten und Menschen die ihre Beleidigungen intellektualisieren wollen. Dabei wird deutlich, dass sich seitdem einiges verändert hat, aber die Berichte über Autisten dennoch an vielen Stellen in ihren alten Mustern verharren und die Bemühungen um eine realistischere Darstellung viele Rückschläge erleiden.
Trotz dieses Trends schließen sich zunehmend Autisten zusammen, um gemeinsam die Forderung nach einer ausgewogeneren Berichterstattung durchzusetzen. So hat ein Journalist dank der Vernetzung im Internet mittlerweile ohne größere Probleme die Möglichkeit, mit Autisten in Kontakt zu treten und sich aus erster Hand zu informieren statt das bisherige falsche Bild zu reproduzieren. Dieser Einsatz einzelner ist wichtig für alle Autisten, denn aus dem Medienbild resultiert das Bild, dass die Menschen von Autisten haben und damit in letzter Konsequenz auch, ob gesellschaftliche Akzeptanz und ein wirklich offener Umgang mit der Diagnose möglich wird.