Author: Benjamin Falk

Grenzwertbetrachtung

Ich könnte an dieser Stelle mit meiner Bildung angeben und mir hochtrabende Zitate über das Überschreiten des Rubikon zusammengooglen. Ich kann aber auch einfach so einen Text über die eigenen Grenzen zu schreiben.

Jeder Mensch hat Grenzen, aber nicht jeder Mensch ist sich dieser Grenzen auch bewusst. Bis ich mir meiner Grenzen wirklich bewusst wurde, verging nach meiner Diagnose noch einige Zeit. Und noch länger, bis ich in der Lage war, meine Grenzen auch zu berücksichtigen. Das bekamen in meiner Jugend vermutlich am meisten meine Eltern zu spüren, wenn ich über den Tag so viel Energie in Schule und Ehrenamt aufgewendet hatte, das nicht mehr genug Konzentration dafür übrig war, mit ihnen einigermaßen klarzukommen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass vermutlich die Schule allein ausgereicht hätte, um mich auszulasten. Das wurde auch nur bedingt besser, nachdem ich zu lernen begann, mehr Rücksicht auf meine eigenen Bedürfnisse zu nehmen. Zwar hatte ich in der Schule die Möglichkeit, mir eine ruhige Ecke zu suchen, aber die Schule an sich stellt genügend Anforderungen, denen man nicht entgehen kann. Zumindest nicht, wenn man in irgendeiner Weise an  einigermaßen erträglichen Noten interessiert ist. So oft, wie ich mit Eltern schon diskutierte, warum ihre Kinder ausflippen wenn sie nach Hause kommen, obwohl es in der Schule doch ging, scheint die Schule allein schon in der Lage zu sein, die Grenzen von vielen Autisten zu überschreiten.

Nun lernte ich irgendwann, dass ich Grenzen habe und es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, auf diese dann auch mal Rücksicht zu nehmen. Noch dazu lernte ich irgendwann auch “Nein” zu sagen und nicht immer jedem ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu helfen. Ich lernte meine Kräfte so aufzuteilen, dass ich damit über den Tag komme und der Streit wurde weniger. An dieser Stelle könnte ich den Blogpost schließen, aber irgendwie bin ich nicht in der Stimmung für künstliche Happy Ends. Das Problem ist, dass diese Grenzen keine harten Mauern mit Stacheldraht davor sind. Vielmehr sind es mehrere Grenzen, die unterschiedlich  schwer zu überwinden sind. Aber keine dieser Grenzübertritte bleibt folgenlos.

Überwindung fängt schon an, wenn ich die Wohlfühlgrenze überschreite. Das kann  mitunter durch  ganz unterschiedliche Situationen geschehen, wie zum Beispiel das Einkaufen in einem überfüllten Supermarkt. Unter idealen Bedingungen, mit Sonnenbrille, guten Kopfhörern und einem geringen Anteil an Interaktionsbedürftigen Kunden oder Angestellten, brauche ich danach knapp 2h Ruhe um wieder einigermaßen auf das gleiche Level an Leistungsfähigkeit zurück zu kommen, welches ich vor dem Supermarktbesuch hatte. Unter schlechteren Bedingungen kann es mitunter  passieren, dass ich den Rest des Tages nicht mehr viel Konstruktives schaffe und man an solchen Tagen auch nicht viel Sozialkompetenz erwarten sollte.

Größere Grenzübertritte bezahle ich in der Regel mit höheren Regenerationszeiten und Zeiten, in denen die soziale Interaktion nicht auf dem Level funktioniert, dass ich mir über die Jahre erarbeitet habe. Mitunter kann es passieren, dass ich schon in der Situation selbst nicht mehr vollständig angepasst und vor  allem angemessen interagiere. So passieren mir zum Beispiel bei Gruppenarbeiten, die sich über mehrere Tage hinziehen, mit steigender Zeit häufiger Mal Patzer, die mir unter normalen Bedingungen nicht passiert wären.

Das Überschreiten der persönlichen Grenzen funktioniert so lange, wie ich zwischen diesen Situationen ausreichende Erholungsphasen zugestanden bekomme. Kritisch ist es, wenn Termine so nah beieinander liegen, dass dazwischen keine Zeit bleibt, um wieder runter zu  kommen. Passiert das zu oft, sinkt meine Konzentration und damit meine  Sozialkompetenz kontinuierlich. Die Zeit, die ich brauche um mich wieder zu  erholen, potenziert sich von fehlender Erholung zu fehlender Erholung immer mehr, bis ich irgendwann außerhalb der Situationen, in denen ich irgendwie funktionieren muss, nur noch ohne nennenswerte Aktivität vor mich hin existiere. In so einer Situation helfen auch komplett freie Tage nur insoweit, als dass sie verhindern, dass es noch schlimmer um meine Kraftreserven steht und ich somit  noch ein bisschen länger durchhalte.

Aktuell befinde ich mich am Ende einer solchen Phase, die durch mein Studium bedingt war und mehrere Monate anhielt. Es brauchte einige freie Wochen und einige Tage am Strand, damit ich überhaupt wieder in der Lage war, diesen Text zu tippen und ich habe die Befürchtung, bis ich wieder so belastbar bin  wie vor dieser Phase, wird es mehr Zeit brauchen, als die vor mir liegenden Semesterferien bieten. Und während ich das hier schreibe, erklärt irgendwer ungefragt Autisten, dass sie sich ja nur mal zusammenreißen und über ihren Schatten springen müssen.

Ist das noch Pavlov?

Während es Spiegel Online geschafft hat, eine DPA-Meldung aus dem Autismus-Kontext so aufzuhübschen, dass ich sie lesen konnte ohne Schmerzen zu haben, kommen die Schmerzen anderswo umso mehr.

Hinweis: Der nun folgende Text benutzt die Stilmittel Sarkasmus und Ironie, ich habe mich jedoch bemüht, diese entsprechend zu kennzeichnen.

Bei Zeit Online ist heute ein Artikel mit dem aussagekräftigen Titel “Bloß nicht zu nett sein!” erschienen. In diesem Artikel wird auf zwei Seiten ein Loblied auf ABA gesungen, bis irgendwann auf Seite drei auch mal eine kritischere Stimme zu Wort kommt. Zumindest wenn irgendein Leser soweit aushält. (Wer zum Teufel kommt eigentlich auf die Idee, Websites zum Blättern zu bauen?) Aber nun gut, ich habe solange ausgehalten und mir die Werbebroschüre den Artikel durchgelesen und möchte, entgegen meinem Grundsatz, nichts zu einzelnen Therapieformen zu sagen, an dieser Stelle mal meinen Senf dazu geben:

Beginnen wir mit dem klassischen Einstieg, ein armes Kind, das vollkommen von seiner Außenwelt abgeschlossen ist und dann innerhalb nur weniger Wochen in der Lage ist, die Kommandos seiner Eltern zu befolgen, wenn er denn mit einem Smartie dafür belohnt wird. (Die Hundehalter unter den Lesern dürften das Prinzip wiedererkennen.) Es sind Geschichten wie diese, mit denen ABA oft verkauft wird. Einzelne anekdotisch erzählte Erfolgsgeschichten. Der nächste Schritt besteht dann darin, dass man den staunenden Leuten erzählt, wie auch sie das erreichen können, nämlich:

„Sprechen, jemanden ansehen, allein auf die Toilette gehen, Gefühle auf einem Gesicht erkennen: Was andere Kinder nebenbei lernen, muss Johan mühsam beigebracht werden. Das geschieht nach einer neuartigen Methode, die fast wie ein Hochleistungstraining aufgebaut ist: 30 Stunden pro Woche sitzt Johan auf seinem Kinderstuhl still, während die Erwachsenen sein Verhalten steuern, als sei er ein willenloses Wesen.“

Klingt schon irgendwie grausam. [Sarkasmus]Aber ist ja alles für einen guten Zweck, denn schließlich soll mein Kind ja anderen in die Augen sehen, und es ist ja auch nicht so, dass Autisten leichter zu überfordern sind als andere Menschen, von daher können diese fünf Stunden täglich ja nur gut sein und auf keinen Fall eine Belastung, und außerdem: Sagte ich schon, dass es ja für einen guten Zweck ist?[/Sarkasmus]

Erst mal stimmt es, dass Autisten alle oder einige dieser Dinge unter Kraftaufwand lernen müssen, aber das im Kontext dieser Dinge immer wieder der Blickkontakt genannt wird, ist schon ein wenig irritierend. Ich schaue Menschen bis heute kaum in die Augen und habe dadurch keinerlei Einschränkungen in der Lebensqualität. Im Gegenteil, wenn ich Menschen immer in die Augen schauen müsste, würde mich das jedes Mal so nachhaltig verwirren, dass ich immer wieder aus dem Gespräch geworfen werde. Aber vielleicht ist das bei Johann ja nicht so, weil sonst hätte er wohl das Problem, dass er das ankonditionierte Verhalten  wieder los werden müsste, wenn er nicht dauerüberfordert in Gesprächen mit anderen Menschen sein will.

Der andere Punkt dabei ist, dass ABA nicht der einzige Weg ist, all diese Dinge zu erlernen. Ich habe sie schließlich auch gelernt, ohne dass meine Eltern mich fünf Stunden täglich trainierten. Der Unterschied ist, dass ich verstanden habe, warum das was ich tun soll Sinn  macht, das heißt ich verstehe da was ich tue. Weil das menschliche Verhalten  dummerweise mehr als ein einfaches Reiz-Reaktions-Muster ist. Was in den meisten  Situationen richtig ist, kann einen in anderen Situationen in Teufels Küche bringen. Die gleiche Ausgangssituation kann auf einer Beerdigung eine komplett andere Reaktion erfordern als sagen wir mal auf einem Kegel-Abend. Ist das einem Menschen, der diese Sachen über Konditionierung gelernt hat, genau so klar wie mir, der ich die Hintergründe verstanden habe? Allein diese Überlegung sollte eigentlich nahelegen, dass ABA nicht der alleinige Weg zum Erfolg sein kann.

„Bei Autisten ist das Erkennen von Ursache und Wirkung gestört. Das behandeln wir durch Verstärkung.“

Das hier ist einer dieser typischen „Bei Autisten …“-Sätze, die eigentlich immer für Aufregung gut sind. [Sarkasmus] Oh, scheinbar habe ich eben Verstanden, dass dieser Satz die Ursache ist dafür, dass ich mich aufrege. Das würde ja bedeuten, dass ich Ursache und Wirkung erkannt habe. Aber das würde dann ja bedeuten, dass ich kein Autist bin. ICH BIN GEHEILT! [/Sarkasmus]
Ok und jetzt mal ernsthaft. Es mag sein, dass bei einigen Autisten dieser Zusammenhang, insbesondere in sozialen Situationen, nicht erkannt wird. Das hat aber wohl eher damit zu tun, dass Autisten meist nur die Wirkung mitbekommen. Sie bekommen mit, dass sie gerade Ärger kriegen, aber dass das daran liegen könnte, dass sie gerade Witze auf einer Beerdigung erzählt haben, bemerken sie nicht zwingend, wenn ihnen das Gefühl dafür fehlt, dass andere Menschen grade traurig sind, obwohl sie auf einer „Feier“ sind und dass man traurige Menschen nicht immer mit Witzeerzählen aufheitern kann. Soziale Situationen bestehen eben nicht nur aus einer einfachen Ursache-Wirkungs-Kette.
Leider.

Dann wäre da noch ein grundsätzliches Problem. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es garnicht das Ziel sein sollte, immer komplett normal zu wirken und allen Leuten freundlich lächelnd in die Augen zu schauen. Ich wäre vermutlich dazu in der Lage, das zu tun, aber was hätte ich davon? Ich würde so viel meiner Energie darauf verwenden, die mir dann an anderen Stellen fehlt. Man kann durchaus auch mit anderen Menschen interagieren, ohne ihnen konstant in die Augen zu schauen. Einige Menschen stört das nicht mal. Die Menschen, die es stört, sind meist zufrieden damit, wenn man irgendwo in die Nähe ihrer Augen schaut, den Unterschied bemerken sie in der Regel nicht. Obwohl ich Menschen nicht in die Augen schaue, habe ich einen Freundeskreis. Es geht nicht immer darum, 100% nach außen hin normal zu wirken, es reicht, sich da auf die Bereiche zu konzentrieren, die negative Konsequenzen nach sich ziehen und unbeliebt machen. Ich bezweifle irgendwie, dass es so gut wäre, wenn ich aufhören würde darauf zu achten, niemanden zu unterbrechen beim Reden, aber dafür allen in die Augen zu schauen. Sicherlich könnte ich auch auf beides achten, aber das hätte dann zur Folge, dass ich entweder nur noch an einem Tag in der Woche unter Menschen gehe oder mir schon mal einen Platz in der Burnout-Reha suche.

Das ist eines der ganz großen Probleme, die ich sehe, wenn nur ABA ohne irgendwas anderes angewendet wird. Kein Mensch hat endlose Reserven an Konzentration, die er aufbringen kann, und von der Fähigkeit damit zu haushalten, habe ich noch keinen ABA-Verfechter sprechen hören, wenn er davon erzählte, dass die Kinder (fast) ganz normal wirken werden am Ende.

tl;dr: Es gibt keine Autismus-Therapie, die alle glücklich macht, ideologische Grabenkämpfe führen zu nichts und ABA – insbesondere allein angewendet – sollte kritisch betrachtet werden. Es wäre allen viel mehr geholfen, wenn man da mit einer gesunden Mischung im Einzelfall arbeitet.

Therapie

Viele Autisten haben ein Problem mit Therapien. Wenn ich die Aussagen von den Autisten, die sich öffentlich äußern, verallgemeinere, könnte man sagen dass es die Mehrheit ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber wie Rainer in einem Gespräch mit mir (rf005) anmerkte, dürfte der Hauptgrund dafür negative Erfahrungen mit  Psychologen sein, die so weit gehen, dass man in einigen Fällen schon von Traumatisierung sprechen kann.
Ich brauche kaum zu erklären, dass ich  vollstes Verständnis dafür  habe, wenn Menschen mit diesen Erfahrungen Therapien für sich grundsätzlich ablehnen, sofern sie daraus keine grundsätzliche Haltung konstruieren, dass alle Therapie immer böse ist.

Genau diese Haltung wird aber im Moment wieder zunehmend salonfähig. Auch bei Autisten die keine negativen Erfahrungen im Kontext mit Therapien machten. Dies wird im Regelfall damit begründet, dass man die Autisten ja nur akzeptieren müsste, statt zu versuchen, den Autismus wegzutherapieren.

Menschen die “Therapie ist …” kauften, kauften auch “Alle Autisten sind  …”

Ich kann diese Argumentation selten ohne Zusammenbeißen der Zähne ertragen, sehr zur Freude des Autohändlers meines Zahnarztes. Das Problem, das ich mit dieser Argumentation habe, ist nicht, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Das Problem ist, dass sie per se schon eine Verallgemeinerung ins Absurde darstellt.
Natürlich gibt es Therapien, die das strikte Ziel haben, am Ende eine Armee von unauffälligen Otto-Normal-Bürgern zu schaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt am Ende davon ein Mensch raus, der einige Therapie bräuchte, um die Therapie zu verarbeiten, und selbst wenn es am Ende funktioniert, dass der Mensch nach außen hin normal wirkt, dürfte das, was von ihm übrig ist, nicht mehr viel mit dem zu tun haben, was zu Beginn da war. Ich bin der Letzte,  der leugnet, dass es da draußen eine Heerschar von Leuten gibt, die sich daran gemacht haben, Autisten reihenweise zum Blickkontakt, Lächeln und Hand geben zu zwingen, indem sie der Konditionierung einen coolen neuen Namen gegeben haben.
Das ist das Bild, das vorherrscht, wenn man versucht, über Therapie zu diskutieren. Allerdings ohne jede Differenzierung, dass es hierbei lediglich eine Teilmenge des weiten Feldes unterschiedlicher Therapieansätze abdeckt.

Es gibt da nämlich noch andere Herangehensweisen, die ich ganz gerne als  problemorientierte Herangehensweisen bezeichne. Diese Ansätze gehen nicht davon aus, dass Autismus per se etwas ist, das therapiert werden müsste. Genau so wenig stürzen sie sich auf die Symptome. Die Fragestellung hierbei ist eher: An welcher Stelle hat der Mensch eigentlich Probleme, die durch den Autismus bedingt sind und kann man da etwas dran machen?
Wie das konkret aussieht, kommt dann natürlich auf die Probleme an, die im Alltag vorhanden sind. So kann ein soziales oder ein Kommunikationstraining in Einzelfällen zum Beispiel durchaus Sinn machen. Sie werden aber kaum helfen, wenn jemand Probleme damit hat, seinen Tagesablauf zu organisieren.
Überhaupt haben alle Therapien, insbesondere im Autismus-Bereich, die Gemeinsamkeit, dass keine von ihnen der alleinige Weg zur Erlösung ist. Kein seriöser Ansatz ist in der Lage, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die Autismus so mitbringen kann.

Die Diskussion, ob eine Therapie Sinn ergibt, und wenn ja welche Therapie, wird fast immer mit ideologischem Beigeschmack geführt. Es gibt die Menschen, die Therapie pauschal als das Einfallstor allen Bösen betrachten, es gibt die Therapeuten die meinen, sie haben DEN Weg gefunden, alles gut zu machen, genau so wie es Leute gibt, die glauben, man könnte und müsste Autismus grundsätzlich therapieren.
Die Lösung liegt wie so oft in der Mitte:

Therapie kann sinnvoll sein, sie muss es aber nicht. Und wenn eine Therapie sinnvoll ist, sollte sie auf den Bereich zugeschnitten sein, in dem das Problem besteht, und nicht auf Basis eines alleinigen Heilsversprechen gewählt werden.

Disclaimer: Ich wurde selbst mehrere Jahre in einer Praxis therapiert, die sich auf Autismus spezialisiert hat und wäre ohne diese Unterstützung aktuell vermutlich nicht in der Lage meine Bachelorarbeit zu schreiben, daher ist eine gewisse Befangenheit nicht vollständig auszuschließen.

Autistisches Lernen

Heute mal ein Blogpost in eigener Sache.

Ich bin im Moment, gemeinsam mit anderen, dabei zu recherchieren wie Autisten lernen und ob es sowas wie ein autistisches Lernverhalten gibt.
Das Material dazu ist relativ dürftig, und da es nichts bringt, wenn ich einfach nur von mir auf alle anderen Autisten übertrage, wende ich mich vertrauensvoll an meine Leser.
Die Fragestellung lautet:

Wie könnt ihr am besten lernen?

Könnt ihr tendenziell eher

  • über das Lesen von (auch zusammenhanglosen) Listen, oder
  • über das Lesen von Fließtexten Zusammenhänge erfassen, oder
  • über das Ansehen von Grafiken/Bilder Zusammenhänge erfassen, oder
  • über das Zuhören (wenn jemand etwas vorträgt) inhaltlich verstehen, oder
  • über das Abstrahieren und denken in Metaebenen

Dinge behalten?

Wie lernt ihr, wenn ihr etwas lernen müsst oder lernen wollt?

Schreibt bitte dazu, was für eine Form von Autismus bei euch diagnostiziert wurde, für den Fall das sich herausstellt, dass es dort Unterschiede gibt. Je mehr Autisten sich daran beteiligen, desto repräsentativer wird das Endergebnis.

Ihr könnt eure Antworten entweder direkt hier als Kommentar veröffentlichen (wenn er nicht freigeschaltet werden soll, schreibt dass bitte dazu), oder ihr schickt eine Mail an kontakt@realitaetsfilter.com

Vielen Dank an alle, die sich beteiligen.

Bedeutungwandel

Ich könnte mich jetzt über die Zeit aufregen, die beim fröhlichen Griff in die Buzzword-Schublade mal wieder Autismus rauszog. Bringt aber nichts. Auch wenn der Begriff „sexueller Autismus“ so unbeschreiblich ist, dass man sich über Seiten damit auseinander setzen könnte.

Autismus ist im Mainstream angekommen. Schon seit einiger Zeit stößt man beim Lesen immer öfter auf den Begriff. Würde das bedeuten, dass mehr aufgeklärt wird und dass die ganzen Vorurteile endlich abgebaut werden, würde ich jetzt nicht diese Zeilen tippen, sondern Konfetti-werfend über den Wohnheimflur hüpfen.

Leider hat der Autismusbegriff im Mainstream relativ wenig mit Autismus zu tun, sondern ist eine Metapher. Je nach Lust und Laune des Autors, eine Metapher für alles, das gerade nicht seinen Vorstellungen entspricht, wie Sozialverhalten und zwischenmenschliche Interaktion auszusehen haben. Zu den Gründen, warum der Autor das womöglich tut, will ich mich gar nicht auslassen.

Wenn man die Autoren in solchen Situationen fragt, hat man gute Chancen erklärt zu bekommen, dass gar nicht die Störung gemeint sei, sondern dass es lediglich ein Ausdruck für die Ich-Bezogenheit sei. Schließlich komme das Wort ja vom griechischen Begriff für "selbst".

Manchmal schwappt in solchen Aussagen auch gleich noch der Vorwurf mit, man solle sich doch nicht zwanghaft angegriffen fühlen.

Das Problem, das ich habe, ist nicht, dass ich mich angegriffen fühle.

Mir ist durchaus klar, dass der Urheber des Textes nicht den ICD zu Rate zog, als er anfing von Autismus zu schreiben, sondern, dass er ihn ganz natürlich als Metapher für irgend etwas nahm.

Ich kann das aber auch doof finden, ohne mich angegriffen zu fühlen. Ich denke nämlich nicht, dass der Leser, der sich rein zufällig nicht mit Autismus auskennt, diesen Schritt der Differenzierung zwischen medizinischem Autismus und metaphorischem Autismus macht. Warum denn auch? Autisten sind doch diese immer etwas komischen Menschen, die ihre eigene Welt nur verlassen, um Amok zu laufen [Anm. d. Red.: Der Autor verwendet hier sowohl das Stilmittel der Übertreibung, als auch eine sehr große Portion Notwehr-Sarkasmus]. Es besteht also überhaupt kein Grund da irgendwie zu differenzieren.

Durch das Verwenden dieser Metapher, so nah sie evtl. auch an der ursprünglichen Wortbedeutung liegen mag, wird die ohnehin schon negative Konotation* des Wortes "Autismus" einbetoniert, denn von der ursprünglichen Bedeutung ist im alltäglichen Sprachgebrauch nichts mehr übrig. Es gibt im Duden keine zwei Einträge, für die medizinische und die metaphorische Definition, sondern eine einzige und die ist im Kontext der Medizin und Psychologie eingeordnet.

Das ist der Kontext in dem dieser Begriff verstanden wird und sollte daher auch der einzige Kontext sein, in dem er verwendet wird.

So bleibt mir zum Schluss nichts anderes als mich der Feststellung von die ennomane anzuschließen:

Sie können (…) dazu beitragen, das Leben von Autisten angenehmer zu gestalten, indem Sie das Wort nur in seiner korrekten Bedeutung verwenden. Ganz nebenbei werden Ihre Texte klarer und verständlicher.

Wollen Sie den Kontakt wirklich beenden?

Warum wollen Sie unseren Service nicht mehr nutzen?

Man trifft diese Frage mittlerweile überall, wo man einen Account löscht oder ein Abo kündigt. Dort kann man dann einige Angaben machen, ob man zu viel Spam bekommen hat, ob man allgemein unzufrieden war oder ob der Dienst drei URLs weiter vielleicht einfach schönere Augen hat. Auf diese Weise weiß der Anbieter dann, woran es lag, dass er einen Nutzer weniger hat und kann diese Information theoretisch sogar nutzen.

Ich hätte so einen Fragebogen gerne für Menschen.

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Von Medien und Schadensbegrenzung

Wenn ich so durch den autistischen Teil meines Feedreaders scrolle, komme ich in letzter Zeit zunehmend zu dem Schluss, dass blutdrucksenkende Mittel Hochkonjunktur feiern. Ich kann es nur allzu gut verstehen. Ich selbst meide es mittlerweile, Artikel zu lesen, die meine Timeline im Rahmen einer Mischung aus Verzweiflung und Wut in meine Richtung schleudert und in letzter Zeit entsteht der Eindruck, dass es nur viel schlimmer statt besser wird.

Die erste Reaktion bei den meisten Menschen, die wieder einen katastrophalen Artikel gelesen haben, der wahlweise die alten Vorurteile zu Autismus aufwärmt oder das Wort „autistisch” verwendet, um die aktuelle Politik der Bundesregierung oder den Diktatorenclan in Nordkorea zu beschreiben[1], dürfte wohl Wut sein. Je nachdem wie lange man dieses Phänomenen beobachtet wohl auch Resignation. Ich beobachte die Reaktionen auf solche Artikel, seit des Spiegel-Online-Artikels mit wachsendem Interesse. Eine wachsende Gruppe von Autisten reagiert auf diese Artikel, schreibt Blogtexte darüber und versucht die Autoren davon abzubringen, den Begriff des Autismus so darzustellen und zu verwenden wie sie es bisher tun. Wenn die Autoren darauf reagieren gibt es meist zwei Formen der Reaktion. Zum einen mal mehr und mal weniger glaubhafte Formen der Entschuldigungen, zum anderen die Erklärung, dass man den Begriff Autismus in seiner ursprünglichen Bedeutung, der Ich-Bezogenheit, und nicht als Krankheitsbegriff verwendet.

Ich habe mit diesem Argument ein Problem. Ich kann es nachvollziehen. Wie ich schon öfter ausgeführt habe, gibt es die Diagnose „Autismus” in einer Form, die über nicht-sprechende pflegebedürftige Menschen hinaus, geht noch nicht so lange. Der Ursprung des Wortes Autismus kommt vom griechischem αυτός, das „Selbst” bedeutet[2]. Das heißt, wenn diese Menschen die Wörter „Autist” oder „autistisch” verwenden und den ursprünglichen Wortsinn meinen, ist es rein fachlich wohl kein wirklicher Fehler.

So grundsätzlich nachvollziehbar ich diese Argumentation auch finde, birgt sie nur ein Problem. Die wenigsten, beziehungsweise überhaupt keine Autoren, machen in ihren Texten Fußnoten zur Verwendung dieser Wörter, in denen sie erklären wie diese gemeint sind. Die Worte stehen ohne weitere Erläuterungen da. Auf die Gefahr hin einige Leser zu unterschätzen, behaupte ich an dieser Stelle einfach mal, dass die Kenntnisse des Griechischen im allgemeinen doch recht  rudimentär sind. Das bedeutet, die meisten Menschen die den Text lesen haben fürs Erste wohl Assoziationen an die Bedeutung der Wörter, die das Störungsbild beschreibt.

Sprache ist nichts Fixes und Wortbedeutungen ändern sich. So kann es mal passieren, dass Autoren ohne es bewusst zu wollen den nordkoreanischen Diktatorenclan ad hoc diagnostizieren und mich und andere Autisten damit in eine Schublade stecken, die ihnen unter Umständen gar nicht so gefällt.
Ich unterstelle diesen Menschen keine Absicht darin – meiner Meinung nach fehlt ihnen einfach nur das Problembewusstsein. Das Ergebnis ist das gleiche, aber die essentielle Frage, die mich beschäftigt, ist: Wie kann man damit umgehen.

Der eigenen Wut durch Blogbeiträge Luft zu machen hilft in erster Linie einem selbst. Sofern die Urheber der entsprechenden Texte sie überhaupt lesen, dürfte bei ihnen jedoch eher der Gedankengang „Das meinte ich doch gar nicht, warum fühlen die sich jetzt grundlos angegriffen” ablaufen.
Ich denke, wenn wir langfristig möchten, dass der Umgang mit der Sprache in diesem Kontext ein anderer wird, sollten wir unsere Wut und unsere Resignation überwinden und davon weg kommen, einzelne Beispiele auseinanderzunehmen und an den Pranger zu stellen, allein schon im Sinne unserer Blutdrucks. In Anlehnung an Hanlons Razor sollten wir davon ausgehen, dass diese Formulierungen aus mangelndem Problembewusstsein und einer alten Wortbedeutung entstanden sind, nicht aus Boshaftigkeit. Bieten wir den Autoren den Dialog an, versuchen wir ihnen zu erklären, worin das Problem dieser Aussagen für uns liegt, und gehen wir weg von Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Sicherlich werden auch hierbei die Erfolge ihre Grenzen haben, aber ich sehe keine andere Möglichkeit um Verständnis für unser Problem zu schaffen.

[1] Zeit 08/2012, Ihr könnt uns mal, S.1
[2] http://de.wiktionary.org/wiki/%CE%B1%E1%BD%90%CF%84%CF%8C%CF%82


Dieser Blogpost ist ein Beitrag zu den Blogger-Themen-Tagen 2013. Das komplette Programm ist hier zu finden.

Routinen

[Diesen Beitrag herunterladen: ePub/mobi]

„The same procedure as last year?“

„The same procedure as every year.“

Dinner for One(1963)

 

Routinen sind ein klassisches und oft genanntes Autismussymptom. Viele Autisten haben sie, manche benannten sogar Bücher nach ihnen. Sie können gewisse Handlungs- oder Gesprächsabläufe umfassen und zeigen sich im allgemeinen auf sehr unterschiedliche Weisen. Für Außenstehende sind sie jedoch nicht immer logisch und nachvollziehbar. Ich werde öfter gefragt, warum diese Routinen für Autisten so wichtig sind und ob es wirklich so schlimm ist, wenn mal etwas nicht so klappt. Hier der Versuch einer Erklärung auf Grundlage meiner Erfahrungen und der Gespräche mit anderen Autisten:

  • Aufstehen.
  • Im Halbschlaf das Smartphone neben mir greifen, nachschauen ob irgendjemand etwas von mir wollte und ob spontan irgendwelche Vorlesungen ausfallen, so dass ich nicht aufstehen muss.
  • Auf dem Weg ins Bad die Kaffeemaschine anwerfen.
  • Auf dem Rückweg den Kaffee mitnehmen und im weiteren Verlauf trinken.
  • Kontrollieren, ob alles in der Tasche ist, was ich über den Tag brauchen werde.
  • MP3-Player, Smartphone, Portemonnaie und Schlüssel auf die Hosentaschen verteilen, alles noch einmal durchgehen, ob es auch wirklich da ist.
  • Tür hinter sich abschließen, Schlüssel in die rechte Jackentasche stecken.

So gestaltet sich ein üblicher Morgen eines Uni/Arbeitstags bei mir. Hinter diesem Ablauf steckt keine konkrete Planung. Er ergab sich so.  Sogar, ohne dass mir bewusst war, dass ich den Morgen immer in dieser Reihenfolge verbringe, bis ich für diesen Text anfing darüber nachzudenken, welche Routinen ich in meinem Alltag so habe. Dieser Ablauf wuchs mit der Zeit.

Routinen haben etwas Beruhigendes und Entspannendes. Die meisten Situationen, in denen ich im Alltag bin, zeichnen sich dadurch aus, dass ich auf Dinge achten und mich auf Dinge konzentrieren muss, die andere ohne nachzudenken tun oder die sie nicht mal bewusst wahrnehmen. Viele Sachen, die implizit klar sind, muss ich mir erst bewusst schlussfolgern. Gibt es in einer entsprechenden Situation schon eine Routine heißt das, dass ich über einige Teile der Situation nicht mehr nachdenken muss. Auf diese Weise kann ich viele Situationen eher bewältigen, die ich sonst nicht so ohne weiteres bewältigen könnte, da sie zu komplex sind.
So bin ich zum Beispiel durch die reine Existenz der beschriebenen Morgenroutine in Lage, mich gedanklich auf den kommenden Tag und die an mich gestellten Anforderungen vorzubereiten, weil ich mir keine Gedanken darüber machen muss, was ich grade mache. Auf diese Weise starte ich entspannter in den Tag.

Ein weiterer Aspekt von Routinen ist die Sicherheit, die sie bieten. Ich habe einen Weg, den ich kenne, auf dem ich das gewünschte Ziel erreichen kann, und der, insofern die Routine erprobt und bewährt ist, mich davor schützt, dass Dinge schief laufen. Das bringt mir in der Praxis oft viel mehr, als einen neueren, und für Außenstehende besseren, Weg auszuprobieren.
An meinem konkreten Beispiel stellt zum Beispiel das Kontrollieren meines Rucksacks und meiner Hosentasche sicher, dass ich nichts vergessen hab. Außerdem bietet diese Routine eine Möglichkeit zu kontrollieren, ob ich meine Zimmertür abgeschlossen habe. Ist der Schlüssel nicht in der rechten Jackentasche, muss ich noch einmal zurück gehen. Die Tage an denen ich noch einmal auf halber Strecke zurück zum Wohnheim lief, um zu kontrollieren, hat sich seitdem auf ein Minimum reduziert, und der Hausmeister schaut mich auch seltener an, als ob ich geisteskrank wäre.

Das alles funktioniert so lange, wie mich niemand in meiner Routine stört. Diese Störung kann je nach Situation und Routine unterschiedlich aussehen. Meine Morgenroutine ist verhältnismäßig unempfindlich gegen Störungen. Ich habe zum Beispiel morgens meist genügend Zeitpuffer, dass auch mal ein Mitbewohner vor mir im Bad sein kann. Kritisch wird es an den Stellen, an denen mehrere Störereignisse zusammenkommen, wie zum Beispiel ein Verschlafen und ein Mitbewohner. Bei anderen Routinen reichen auch durchaus schon einzelne Störereignisse von außen, um mich aus dem Konzept zu bringen.
Wenn das geschieht, merke ich die Auswirkungen recht schnell. Ich muss wieder über Dinge nachdenken, die vorher automatisiert abliefen, ich brauche dafür mehr Konzentration, die mir dann an anderer Stelle fehlt. Dazu kommt die Unsicherheit. Durch die Störung oder sogar den Wegfall meiner Routine, habe ich den den sicheren Weg zum Ziel verloren. Metaphorisch gesprochen fehlt mir die bewährte Karte durchs Minenfeld und ich probiere bei jedem Stein, auf den ich trete, aus, ob er nun explodiert und mir fehlt jede Gewissheit, ob ich das andere Ziel erreichen kann.

All das hier Beschriebene kann in unterschiedlichen Abstufungen stattfinden. Wie bei beinahe allem spielt auch hier der Stresspegel mit hinein, wie sehr mich eine Störung betrifft und wie gut ich sie noch ausgleichen kann. Insgesamt sehe ich meine Routinen jedoch nicht als ein Symptom von Autismus, sondern viel mehr als eines von vielen Hilfsmitteln, das mir dabei hilft, mit meinem Autismus besser umzugehen.