„Die Frage ist ja nicht ob ich es schaffe, sondern ob das was dann noch von mir übrig ist, was von dem Geschafften hat.“
— Hawkeye (@h4wkey3) June 19, 2013
Ich könnte an dieser Stelle mit meiner Bildung angeben und mir hochtrabende Zitate über das Überschreiten des Rubikon zusammengooglen. Ich kann aber auch einfach so einen Text über die eigenen Grenzen zu schreiben.
Jeder Mensch hat Grenzen, aber nicht jeder Mensch ist sich dieser Grenzen auch bewusst. Bis ich mir meiner Grenzen wirklich bewusst wurde, verging nach meiner Diagnose noch einige Zeit. Und noch länger, bis ich in der Lage war, meine Grenzen auch zu berücksichtigen. Das bekamen in meiner Jugend vermutlich am meisten meine Eltern zu spüren, wenn ich über den Tag so viel Energie in Schule und Ehrenamt aufgewendet hatte, das nicht mehr genug Konzentration dafür übrig war, mit ihnen einigermaßen klarzukommen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass vermutlich die Schule allein ausgereicht hätte, um mich auszulasten. Das wurde auch nur bedingt besser, nachdem ich zu lernen begann, mehr Rücksicht auf meine eigenen Bedürfnisse zu nehmen. Zwar hatte ich in der Schule die Möglichkeit, mir eine ruhige Ecke zu suchen, aber die Schule an sich stellt genügend Anforderungen, denen man nicht entgehen kann. Zumindest nicht, wenn man in irgendeiner Weise an einigermaßen erträglichen Noten interessiert ist. So oft, wie ich mit Eltern schon diskutierte, warum ihre Kinder ausflippen wenn sie nach Hause kommen, obwohl es in der Schule doch ging, scheint die Schule allein schon in der Lage zu sein, die Grenzen von vielen Autisten zu überschreiten.
Nun lernte ich irgendwann, dass ich Grenzen habe und es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, auf diese dann auch mal Rücksicht zu nehmen. Noch dazu lernte ich irgendwann auch “Nein” zu sagen und nicht immer jedem ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu helfen. Ich lernte meine Kräfte so aufzuteilen, dass ich damit über den Tag komme und der Streit wurde weniger. An dieser Stelle könnte ich den Blogpost schließen, aber irgendwie bin ich nicht in der Stimmung für künstliche Happy Ends. Das Problem ist, dass diese Grenzen keine harten Mauern mit Stacheldraht davor sind. Vielmehr sind es mehrere Grenzen, die unterschiedlich schwer zu überwinden sind. Aber keine dieser Grenzübertritte bleibt folgenlos.
Überwindung fängt schon an, wenn ich die Wohlfühlgrenze überschreite. Das kann mitunter durch ganz unterschiedliche Situationen geschehen, wie zum Beispiel das Einkaufen in einem überfüllten Supermarkt. Unter idealen Bedingungen, mit Sonnenbrille, guten Kopfhörern und einem geringen Anteil an Interaktionsbedürftigen Kunden oder Angestellten, brauche ich danach knapp 2h Ruhe um wieder einigermaßen auf das gleiche Level an Leistungsfähigkeit zurück zu kommen, welches ich vor dem Supermarktbesuch hatte. Unter schlechteren Bedingungen kann es mitunter passieren, dass ich den Rest des Tages nicht mehr viel Konstruktives schaffe und man an solchen Tagen auch nicht viel Sozialkompetenz erwarten sollte.
Größere Grenzübertritte bezahle ich in der Regel mit höheren Regenerationszeiten und Zeiten, in denen die soziale Interaktion nicht auf dem Level funktioniert, dass ich mir über die Jahre erarbeitet habe. Mitunter kann es passieren, dass ich schon in der Situation selbst nicht mehr vollständig angepasst und vor allem angemessen interagiere. So passieren mir zum Beispiel bei Gruppenarbeiten, die sich über mehrere Tage hinziehen, mit steigender Zeit häufiger Mal Patzer, die mir unter normalen Bedingungen nicht passiert wären.
Das Überschreiten der persönlichen Grenzen funktioniert so lange, wie ich zwischen diesen Situationen ausreichende Erholungsphasen zugestanden bekomme. Kritisch ist es, wenn Termine so nah beieinander liegen, dass dazwischen keine Zeit bleibt, um wieder runter zu kommen. Passiert das zu oft, sinkt meine Konzentration und damit meine Sozialkompetenz kontinuierlich. Die Zeit, die ich brauche um mich wieder zu erholen, potenziert sich von fehlender Erholung zu fehlender Erholung immer mehr, bis ich irgendwann außerhalb der Situationen, in denen ich irgendwie funktionieren muss, nur noch ohne nennenswerte Aktivität vor mich hin existiere. In so einer Situation helfen auch komplett freie Tage nur insoweit, als dass sie verhindern, dass es noch schlimmer um meine Kraftreserven steht und ich somit noch ein bisschen länger durchhalte.
Aktuell befinde ich mich am Ende einer solchen Phase, die durch mein Studium bedingt war und mehrere Monate anhielt. Es brauchte einige freie Wochen und einige Tage am Strand, damit ich überhaupt wieder in der Lage war, diesen Text zu tippen und ich habe die Befürchtung, bis ich wieder so belastbar bin wie vor dieser Phase, wird es mehr Zeit brauchen, als die vor mir liegenden Semesterferien bieten. Und während ich das hier schreibe, erklärt irgendwer ungefragt Autisten, dass sie sich ja nur mal zusammenreißen und über ihren Schatten springen müssen.