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„Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben“

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Berichterstattung über Asperger in der Retrospektive

Mit dem Film Rain Man kam im Jahre 1988 Autismus zum ersten Mal in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Dieser Autismus, der Menschen atemberaubende Fähigkeiten verleiht, aber zeitgleich zum Fall für eine Dauerbetreuung macht, faszinierte die Zuschauer*innen. Immer wieder wurden Artikel über diese „seltene und mysteriöse Krankheit“ geschrieben, doch was Autismus wirklich bedeutet und was ihn ausmacht, war lange Zeit nicht bekannt.

Mit dem Laufe der Jahre änderte sich das. Immer mehr Fälle von Autismus wurden erkannt, aber diese Autist*innen waren anders. Sie führten ein Leben außerhalb von Pflegeheimen, konnten reden, arbeiteten oder gingen zur Schule.
Diese „neuen“ Autist*innen lösten den ersten Stimmungswechsel in der  Berichterstattung über Autismus aus. Statt allgemeiner Artikel über Rain Man und seine mysteriöse Krankheit fand man nun Berichte über tatsächliche Autist*innen, die von Journalist*innen und Fernsehteams durch ihren Alltag begleitet wurden. Jetzt war nicht mehr der Autismus, sondern die Autist*innen selbst das Mysteriöse. Kaum ein Beitrag kam ohne Formulierungen wie „von einem anderen Stern“ aus und die Autist*innen wurden in ihrer Darstellung häufig auf besondere Fähigkeiten, exzentrische Hobbys oder ungewöhnliche Ernährungsgewohnheiten reduziert. Außerdem litten diese Beiträge an dem gleichen Problem wie alle Darstellungen von Menschen mit Behinderungen:
Untermalt von getragener Musik und Moll-Tönen durften sie von ihren Problemen erzählen. War doch etwas positiv, war es das trotz der Behinderung. Das ZDF schaffte es in seiner Dokumentation „Von einem anderen Stern“ diesen Pathos auf die Spitze zu treiben, indem es einen minderjährigen Schüler mit den Worten „Ich möchte weiterhin lieber tot sein als als Asperger-Autist zu leben“ zu Wort kommen ließ. Der Kreis der Autist*innen, die bereit waren, diese Darstellung in Kauf zu nehmen, um über Autismus zu informieren, war überschaubar und so beschränkte sich die Berichterstattung lange Zeit auf drei oder vier Autist*innen, die noch dazu sehr einseitig dargestellt wurden. Zwangsläufig war damit das Bild, das die meisten Menschen von Autisten hatten, auf die Eigenheiten dieser wenigen Fernseh-Autist*innen reduziert.

Über viele Jahre hinweg blieb die Berichterstattung über Autismus auf diesem Stand. Auch als die Diagnose bekannter wurde und dementsprechend auch häufiger gestellt werden konnte, veränderte sich die Darstellung nur langsam. Natürlich waren viele Autist*innen nicht sonderlich glücklich damit, dass ihre Probleme auf den täglichen Konsum von Kohl reduziert wurden. Bis sich daraus jedoch Strukturen entwickelten, die es ermöglichten, dem Unmut über die Medien Ausdruck zu verleihen und die Medien daraufhin langsam begannen, ihre Beiträge mit mehr Tiefe zu versehen, brauchte es noch eine Menge Arbeit von Autist*innen.

Am 14. Dezember 2012 änderte sich die Berichterstattung abrupt, als in Newtown, USA 27 Menschen vom jugendlichen, einzelgängerischen Waffenfanatiker Adam Lanza erschossen wurden. Im Zuge der ersten medialen Darstellung machte ein Fakt schnell die Runde: Der Täter hatte die Diagnose Asperger-Autismus.
Nach so einem Massenmord, der die Menschen fassungslos mit der Frage nach dem „Warum?“ zurücklässt, war diese Meldung der sprichwörtliche Jackpot, lieferte sie doch eine greifbare Antwort. Die Redaktionen überschlugen sich mit Meldungen über die gefühlskalten Einzelgänger und der Grundtenor der mysteriösen Faszination kippte in Misstrauen und Angst. Allen voran ging hier Spiegel Online, die nur einen Tag nach dem Amoklauf mit den Worten „Gleichwohl fallen in der Historie solcher Morde immer wieder Männer auf, die kaltblütig töteten und Autisten waren“ gleich eine ganze Liste mit Massenmördern präsentierten, die alle angeblich Asperger-Autisten gewesen sein sollen. Auf dieser Liste auch die deutschen Frederik B. und Heinrich Pommerenke. Beide Mehrfachmörder. Als einige Autist*innen hier das erste Mal gemeinsam und organisiert gegen diese Berichterstattung vorgingen, sollte das dabei alles nur ein Missverständnis gewesen sein und der Artikel wurde leicht geändert.
An der Diagnose des Täters und der Täter auf der Liste kamen im Laufe der Zeit von immer mehr Fachkräften Zweifel auf, die aber kein mediales Interesse hervorriefen. So führte der Vater von Adam Lanza ein Interview mit The New Yorker, in dem er unter anderem von verzögerter Sprachentwicklung sprach. Ein Ausschlusskriterium für das Asperger-Syndrom. Die Diagnose von Pommerenke wurde von einem 80-jährigen Psychiater auf Grundlage fehlender Empathie und ausschließlich nach Aktenlage gestellt und genügt damit keinerlei wissenschaftlichem Standard für eine Diagnostik.
Den Schaden, der durch diese ursprünglichen Meldungen bereits verursacht wurde, konnten diese Richtigstellungen jedoch nicht mehr beheben. Bei jedem neuen durch eine angeblich sozial unbeholfene Einzelgänger*in begangenen Amoklauf beginnen wiederholt Diskussionen darüber, ob die Täter*in Autist war. Dabei löst das Unbekannte am Autismus, das ursprünglich für die Faszination sorgte, jetzt eine diffuse Angst der der Leser*in aus, die sich sichtbar in den Kommentaren manifestierte. Hier fordern die Leser*innen bis heute jede erdenkliche Maßnahme, bis hin zu Zwangseinweisungen für alle Autist*innen.
Der Trend, Asperger-Diagnosen an Individuen zu verteilen, die im öffentlichen Interesse stehen und nicht den sozialen Normen entsprechen, bleibt unverändert und weitet sich bis heute auf alle Bereiche von (mitunter angeblichem) Fehlverhalten aus. Wie zum Beispiel beim enttarnten BND-Doppelagenten oder beim russischen Präsidenten Putin, bei denen ein nur sehr begrenzt fundierter Verdacht hohe mediale Wellen schlug.

In der Gegenwart1 ist der Begriff Asperger, beziehungsweise Autismus, in den Medien auch außerhalb solcher Zuschreibungen regelmäßig präsent. Einen wesentlichen Teil dieser Präsenz macht nach wie vor die Berichterstattung über Autismus aus. Diese hat jedoch in den letzten Jahren erneut einen Wechsel durchlaufen. Heutige Beiträge legen den Fokus auf die speziellen Fähigkeiten von Autist*innen und auf Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, diese Fähigkeiten zu nutzen. Der Grundtenor hat sich seit den ersten Berichten über Autist*innen allerdings nicht geändert. Die Leistungen werden trotz oder wegen ihres Autismus erbracht und die Berichte bauen auf einzelnen speziellen Eigenschaften dieser Autist*innen auf. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass es jetzt die beruflichen Fertigkeiten sind. Das Gesamtbild steht nach wie vor dahinter zurück.
Eine weitere Ursache für die Medienpräsenz hat nichts mit Autist*innen zu tun. Sogar zu Autismus hat sie nur einen sehr indirekten Bezug. In den letzten Jahren hat sich zunehmend zur Mode entwickelt, Autismus als Metapher oder sogar als Schimpfwort zu verwenden. Nachdem dies über lange Zeit im politischen Diskurs regelmäßig stattfand, passiert es nun auch im Feuilleton zunehmend häufiger, dass bestimmte Verhaltensweisen abwertend als autistisch bezeichnet werden. Was die Autoren mit diesem Bild aussagen wollen, variiert dabei häufig. Meist jedoch wird der Begriff des Autismus, beispielsweise des digitalen Autismus verwendet, um die vom Autor gefühlte Isolation des Individuums in der Gesellschaft zu beschreiben und die Abkehr von jedem Sozialverhalten. Ebenfalls häufig wird mit der Metapher vom „sexuellen Autismus“ das Bild des Autisten genutzt um Asexualität als Vorwurf zu instrumentalisieren. Die Vorstellung politisch Andersgesinnter als Autisten im Swinger-Club schafft es dabei sogar zur allgemeinen Belustigung ins Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dabei etabliert sich die Bezeichnung „autistisch“ zunehmend als Ersatz dafür, was früher als „krank“ oder „behindert“ bezeichnet worden wäre. Eine Entwicklung, die mit der Politik und dem Feuilleton hauptsächlich die Menschen trifft, die gebildet sind oder so erscheinen wollen und ihre Beleidigungen lieber in ein Fremdwort kleiden. Zwar gibt es mittlerweile viele Autist*innen, die sich zusammenschließen und auf die Unangemessenheit dieser Formulierung hinweisen, doch sie wird ungeachtet dessen weiter verwendet.
Dabei besteht das Problem darin, dass durch die Verwendung von Autismus als Metapher für bestimmte Verhaltensweisen, die Leser*innen diese Aussage nicht zwingend als die Metapher wahrnehmen, wie die Autor*in sie (hoffentlich) gemeint hat. Das führt ganz praktisch dazu, dass viele Leser*innen nicht zwischen der metaphorischen und der realen Autist*in trennen können und im Alltag mit Autist*innen die gesamte Bandbreite negativer Eigenschaften assoziieren.

Seit 1988 hat die Berichterstattung einen großen Bogen geschlagen. Ausgehend von Rain Man und dem Fokus auf die Savants unter den Autist*innen, über eine Berichterstattung, die aus den Besonderheiten einiger weniger bestand, der generellen Vorverurteilung einer ganzen Bevölkerungsgruppe und letzten Endes zurück zur Berichterstattung über einzelne Besonderheiten und Menschen die ihre Beleidigungen intellektualisieren wollen. Dabei wird deutlich, dass sich seitdem einiges verändert hat, aber die Berichte über Autist*innen dennoch an vielen Stellen in ihren alten Mustern verharren und die Bemühungen um eine realistischere Darstellung viele Rückschläge erleiden.
Trotz dieses Trends schließen sich zunehmend Autist*innen zusammen, um gemeinsam die Forderung nach einer ausgewogeneren Berichterstattung durchzusetzen. So hat eine Journalist*in dank der Vernetzung im Internet mittlerweile ohne größere Probleme die Möglichkeit, mit Autist*innen in Kontakt zu treten und sich aus erster Hand zu informieren statt das bisherige falsche Bild zu reproduzieren. Dieser Einsatz einzelner ist wichtig für alle Autist*innen, denn aus dem Medienbild resultiert das Bild, dass die Menschen von Autist*innen haben und damit in letzter Konsequenz auch, ob gesellschaftliche Akzeptanz und ein wirklich offener Umgang mit der Diagnose möglich wird.

Was ist Autismus?

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Manchmal, wenn ich mit anderen Menschen unterwegs bin, kommt das Thema Autismus auf. Häufig fallen dann Aussagen wie „Das sind doch die, die diese tollen Fähigkeiten haben. Die man mit dem Hubschrauber über eine Stadt fliegt und dann können Sie alles komplett aus dem Gedächtnis zeichnen.“
Leider ist das keine Erklärung dafür, was Autismus ist, sondern hat viel mehr mit dem Savant-Syndrom zu tun. (Savants sind Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügen, die man auch Inselbegabungen nennt, aber in vielen anderen Bereichen nur durchschnittlich, bis unterdurchschnittlich begabt sind.) Es gibt zwar viele Savants die auch Autist*innen sind, aber nur sehr wenige Autist*innen, die auch Savants sind.

Was Autismus ist, lässt sich leider nicht in einige Sätzen zusammenfassen. Autismus funktioniert nicht wie ein IKEA-Möbel, bei dem man die einzelnen Teile gemäß der Anleitung zusammensetzt und wenn kein Teil fehlt und die Anleitung stimmt, kommt am Ende die Schrankwand „Autist*in“ dabei raus. Stattdessen ist Autismus ein Sammelbegriff für verschiedene Beeinträchtigungen und Besonderheiten, die alle über gewisse Gemeinsamkeiten verfügen. Aus diesem Grund wird der Begriff des Autismus zunehmend von der Bezeichnung „autistisches Spektrum“ oder „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) abgelöst.

Die Gemeinsamkeiten der Besonderheiten innerhalb des Autismus-Spektrums lassen sich im Wesentlichen in zwei große Bereiche unterteilen. Einer dieser Bereiche ist die Wahrnehmung, welche sich bei Autist*innen von Nicht-Autist*innen unterscheidet. Bei den meisten Menschen funktioniert Wahrnehmung so, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was das Gehirn an Informationen/Reizen aufnimmt wird, und dem, was davon bewusst wahrgenommen wird. Bevor das was wahrgenommen wird, auch bewusst wahrgenommen wird, führt das Gehirn eine Vorauswahl durch um die Komplexität zu reduzieren. Dabei werden viele Dinge von vornherein aussortiert. Dies betrifft vor allem Details, Situationen die in bekannte Muster fallen und Wahrnehmungen die für die aktuelle Situation scheinbar irrelevant sind. Das ist eine ziemlich nützliche Funktion da sie ermöglicht, dass die meisten Menschen in der Lage sind, ihre Ziele zu erreichen ohne auf dem Weg vom Muster des Straßenbelags oder von dem was die Müllabfuhr am Straßenrand macht abgelenkt zu werden. Und zwar, ohne sich dafür stark konzentrieren zu müssen. Bei Autist*innen funktioniert diese Vorauswahl oft nicht, oder nur mit Einschränkungen. Sie nehmen häufig zum Beispiel das Muster des Straßenbelags, die Müllabfuhr, die Schaufensterauslage, das vorbeifahrende Auto, die laufenden Motoren und/oder die Angebote des Discounters bewusst wahr. Um trotzdem ihr Ziel genauso zu erreichen, müssen sie es schaffen aus dieser Vielzahl von Informationen das auszufiltern, was für das Erreichen ihres Zieles nicht benötigt wird. In einigen Fällen kann das soweit gehen, dass Autist*innen ihre Wege nicht ohne Unterstützung zurücklegen können. In den anderen Fällen erreichen sowohl Autist*in, als auch Nicht-Autist*in am Ende ihr Ziel. Der Unterschied ist, dass die eine Person einen entspannten Nachmittagsspaziergang hatte, während die andere sehr viel Konzentration und Energie aufwenden musste um das Ziel zu erreichen. Zum Themenbereich der Energie habe ich an anderer Stelle noch eine ausführlichere Erklärung geschrieben. Da das Konzentrieren auf die wichtigen Reize Energie kostet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wenn Autist*innen nicht mehr genügend Energie zum konzentrieren haben, alle Reize gleichzeitig und ungefiltert da sind. Dieser Zustand der Reizüberflutung kann bis hin zur totalen Überforderung führen. In diesem Fall spricht man auch von einem „Overload“.

Der zweite Bereich der Gemeinsamkeiten ist alles was sich unter dem Begriff soziale Interaktion zusammenfassen lässt. Eines der bekanntesten Klischees über Autist*innen ist, dass Sie immer alles wörtlich nehmen. Tatsächlich stimmt das oft. Das liegt daran, dass Autist*innen häufig ein Problem damit haben Informationen wahrzunehmen, welche sich nicht auf der Sachebene befinden, wie zum Beispiel Mimik, Gestik oder Tonfall. Am deutlichsten wird das bei Scherzen, Ironie oder Sarkasmus, bei denen Menschen das Gegenteil von dem sagen was Sie meinen, die komplette Umkehr der Bedeutung aber nur durch ihren Tonfall oder durch ihre Mimik deutlich machen. Diese Probleme beschränken sich aber nicht nur auf Sarkasmus. Problematisch können beispielsweise auch Redewendungen sein. Redenwendungen basieren in der Regel auf einer Metapher und die eigentliche Aussage steckt in dem dahinterstehenden Bild. Bei Menschen die sich hauptsächlich auf die Sachebene einer Nachricht konzentrieren kann die Frage, ob einem „etwas unter den Nägeln brennt?“ zu sehr irritierten Blicken auf die eigenen Fingernägel führen. Genauso ist die Frage, warum jemand einen Storch braten sollte, insbesondere da viele Störche auf der Liste bedrohter Tierarten stehen, bis heute ungeklärt. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Beispiele für Aussagen, die etwas anderes meinen, als die Sachebene vermuten lässt. Beispielsweise beinhaltet „Isst du das noch?“ oft die versteckte Frage „Darf ich das haben?“. „Ich geh jetzt ins Bett“ kann je nach Gesichtsausdruck, Tonfall, Situation und Vorgeschichte neben der Sachebene noch jede weitere Bedeutung zwischen „Komm mit mir ins Bett.“ bis hin zu „Du schläfst heute auf der Couch!“ haben.

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Trennung ob ein Problem von der Reizwahrnehmung oder der sozialen Interaktion kommt, selten exakt möglich ist. Eines der häufigsten Merkmale, mit denen Autist*innen beschrieben werden ist der fehlende oder seltsam wirkende Blickkontakt. Intuitiv ein Problem in der sozialen Interaktion. Tatsächlich beschreiben aber sehr viele Autist*innen, dass sie nicht in die Augen schauen, weil sich dort so viel Mimik abspielt, dass sie die vielen Informationen nicht alle Verarbeiten und sich zeitgleich auf das Gespräch konzentrieren könnten. Letzten Endes ist es in der Praxis aber wohl egal ob ich die Aussage „Ich gehe jetzt ins Bett.“ nun falsch verstanden habe, weil mir die Details der Mimik entgangen sind, oder weil mir die Bedeutungsebene entgangen ist. Für den Umstand, dass ich grundlos auf der Couch geschlafen habe, ist das letzten Endes wohl auch egal.

Wie genau sich die Symptome innerhalb dieser Themenbereiche konkret ergeben kann sehr unterschiedlich sein. Dies bedeutet, dass es innerhalb des autistischen Spektrums sehr große Unterschiede gibt, wie sich Autismus individuell äußert. Viele Menschen sprechen hier von „leichtem“ und „schwerem“ Autismus, da man aber nicht immer alle Probleme von außen sehen kann, dürfte eine Unterscheidung zwischen „auffälligem“ und „unauffälligerem“ Autismus wohl näher an der Lebensrealität vieler Autist*innen sein. Häufig werden auch einzelne Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums mit einer bestimmten Beeinträchtigung gleichgesetzt. Diese Diagnosen sind nach aktueller Definition das Asperger-Syndrom, der Kanner/frühkindlicher-Autismus und der atypische Autismus.

Dabei wird das Asperger-Syndrom in der Regel als leichter Autismus oder manchmal sogar als „nicht richtiger“ Autismus bezeichnet, bei dem die Symptome nicht so sehr auffallen. Dabei sollen Asperger-Autist*innen manchmal etwas sonderlich sein und keinen Humor haben, im Wesentlichen aber ohne weitere Unterstützung durch den Alltag kommen.
Kanner-Autismus ist dabei das genaue Gegenteil, bei dem die Menschen nicht-sprechende, kognitiv beeinträchtigte Menschen vor Augen haben. Oft auch in Abgrenzung zu Asperger „richtiger Autismus“, genannt. Kanner-Autist*innen sind in der Wahrnehmung der meisten Menschen allein zu nicht viel in der Lage und auf ständige Betreuung angewiesen.

Tatsächlich erfolgt die Unterscheidung der einzelnen Diagnosen im Autismus-Spektrum nicht nach dem Maß der Alltagskompetenz, das die Autist*innen aufbringen, sondern hauptsächlich danach in welchem Alter sich die ersten Symptome gezeigt haben und wann bzw. wie die Sprachentwicklung erfolgt. Dabei besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wenn sich die ersten Symptome früher zeigen, wie es oft bei Kanner-Autismus der Fall ist, sich auch mehr sichtbare Auswirkungen auf die Alltagskompetenz ergeben. Eine Garantie hierfür gibt es nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es die beiden zuvor beschriebenen Ausprägungen von Autismus, wie die meisten Menschen sie mit Kanner und Asperger assoziieren, nicht gibt. Es gibt Autist*innen, die ohne Unterstützung ihren Alltag nicht bewältigen könnten, genauso wie Autist*innen, die in den allermeisten Situationen keiner besonderen Unterstützung bedürfen. Und es gibt auch jede einzelne Ausprägung zwischen diesen beiden Extremen. Wie viele Probleme eine Autist*in tatsächlich hat und wie es ihr geht lässt sich dabei aber nicht an der Diagnose oder einem Eindruck von außen festmachen. Autist*innen, die eine eigene Wohnung, eine Arbeitsstelle und ein geregeltes Leben haben wirken in der Regel so, als hätten sie überhaupt keine Probleme. Was man als Außenstehende*r jedoch nicht sehen kann ist, ob diese Person so viele Sozialkontakte hat, wie sie sich wünschen würde, oder wie sehr es sie stresst, Arbeit und Wohnung aufrecht zu erhalten.

Neben den Vorurteilen zu den Diagnosen innerhalb des Autismus-Spektrums und den angeblichen Spezialfähigkeiten von Autist*innen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Vorurteile gegenüber Autist*innen, welche immer wieder auftauchen. Eines ist zum Beispiel, dass alle Autist*innen introvertiert und zurückhaltend auftreten. Dies stimmt für viele auch, jedoch gibt es genug Autist*innen, bei denen das genaue Gegenteil der Fall ist. Es kann durchaus vorkommen, dass sich diese eine Person, die eine soziale Situation komplett an sich reißt und allen Anwesenden von seinem Hobby erzählt ohne irgendwen auch nur Ansatzweise zu Wort kommen zu lassen, ebenfalls im Autismus-Spektrum befindet.
Ein anderes Vorurteil ist, dass Autist*innen alles immer auf die genau gleiche Weise erledigen müssen. Dieses Vorurteil stimmt häufig tatsächlich, auch wenn es in der Regel stark übertrieben dargestellt wird. Tatsächlich gibt es viele Autist*innen, die einzelne Tätigkeiten immer auf die gleiche Weise erledigen. Einfach, weil es so deutlich weniger Konzentration erfordert und so mehr Energiereserven für die restlichen anstehenden Aufgaben übrig sind. Wenn so eine Routine in einer Situation fehlschlägt, ist dies in der Regel aber kein Untergang, bei der sich alle Autist*innen immer auf den Boden setzen und apathisch vor und zurück wippen. Viele Autist*innen können dann umplanen, es kostet nur deutlich mehr Energie. Auffällig problematisch wird es dann, wenn diese Fähigkeit aufgrund der konkreten Ausprägung des Autismus oder aufgrund der fehlenden Energiereserven fehlt, oder sehr viele Routinen auf einmal wegbrechen. Manchmal kann man auch Routinen für den Wegfall von Routinen entwickeln. Beispielsweise kann man eine Routine für den Fall, dass der regelmäßig genommene Zug ausfällt oder verpasst wurde, entwickeln. Es gibt aber ebenso Situationen oder Ausprägungen des autistischen Spektrums, in denen das Bedürfnis nach Sicherheit durch Routinen so groß ist, dass eine andere Cornflakes-Marke zum Frühstück bereits eine schwere Störung des Tagesablaufs bedeuten kann, deren Überwindung zu viel Konzentration und Energie kosten kann, oder für manche Autist*innen sogar unmöglich ist.

Diese „kurze Erklärung“ was Autismus eigentlich ist, kann nur noch mit viel wohlwollen als kurz betrachtet werden. Trotzdem ist sie nicht mehr als nur ein Überblick, bei dem ich mit Sicherheit Dinge ausgespart habe, welche andere Menschen als wichtig empfinden würden. Das Autismus-Spektrum ist ein weites Feld, bei dem es innerhalb von einer Reihe von Grundgemeinsamkeiten sehr viele verschiedene Ausprägungen gibt, wie sich diese nun konkret äußern können. Das führt dazu, das jede Ausprägung innerhalb des Spektrums so individuell ist, wie die Autist*in selbst. Statt den vorgefertigten Bauteilen für eine Regalwand hat man es hier eher mit einem Lego-Set zu tun. Mit Steinen in verschiedenen Formen und Farben, bei denen sich aus den gleichen Steinen vollkommen unterschiedliche Dinge bauen lassen. Und egal ob nun ein Auto oder ein Raumschiff daraus gebaut wurde, die einzelnen Steine für sich betrachtet sind immer wieder die, die man schon kennt.


Dieser Text ist ursprünglich als Gastbeitrag für Indianermädchen & Wildfang erschienen.

Systemsurfer – Interaktion.exe

Das, was mich bis zuletzt daran zweifeln ließ, ob ich denn wirklich Aspergerautist sei, war die bis heute geläufige Annahme, Autisten hätten ein Problem, Emotionen des Gegenübers wahrzunehmen. Doch die Wahrheit ist das Gegenteil, zumindest für mich: Die Gefühle der Anderen, des Films, den ich schaue, der Musik, die ich höre, drohen mich ständig zu überwältigen. Bin ich unachtsam und habe den „Schalter“ im Kopf nicht umgelegt, bin ich ihnen wehrlos ausgeliefert. Meine einzig verfügbare Reaktion ist dann: unkontrolliertes Weinen. Das irritiert meine Umwelt und ist — in vielen Situationen — unprofessionell; ist der Schalter jedoch umgelegt, wirke ich kalt und distanziert. Dilemma.

Wut und Traurigkeit in der Mimik der Anderen kann ich nicht unterscheiden. Alles, was ich spüre, ist eine fast greifbare Emotionenwand. Ich sage immer: Ich „schmecke“ den Raum. Dass ich mit Gesichtern ohne den Raumgeschmack nichts anfangen kann, ist mir erst bei meiner Diagnose bewusst geworden. Ich kann mit geschlossenen Augen einen Raum betreten und weiß, wie die Stimmung ist, weiß, ob ich den Schalter umlegen muss. Das alles schmecke ich am Gaumen, ganz körperlich, mit meiner Zunge. Am Irritierendsten ist ein Raum voller lachender Gesichter, der aber ganz anders schmeckt. Das passiert häufiger als man denkt; die Menschen sind trauriger als man annehmen könnte.

Man hat mir schon oft den fehlenden Blick für’s Große und Ganze vorgeworfen, besonders im Arbeitsumfeld. Das ominöse Konzept des Multitaskings geht vollkommen an mir vorbei: Ich kann stets nur eine Sache, und NUR eine Sache, die aber dann verdammt gut. Das reicht einem Chef aber fast grundsätzlich nicht. Lenkt man mich ab, habe ich das Spiel schon verloren. Arbeitsanweisungen sind grundsätzlich mangelhaft formuliert und lassen mich oft handlungsunfähig zurück. Anweisungen zwischen den Zeilen nehme ich nicht wahr.

Mein Blick für’s Detail hat nicht Wenige fast zum Wahnsinn getrieben. Die Welt liegt zerpflückt vor mir, und ich sehe mir jedes Stückchen genau an, ringe so lange mit mir, bis ich jedes einzelne beschreiben kann, Worte gefunden habe. Meine Sprache ist bildgewaltig — manchmal zu anstrengend für die Anderen. Das ist zwar eine meiner Stärken, und davon habe ich einige — doch leider kann man damit in dieser leistungs- und profitgeleiteten Welt nicht viel anfangen. Ich sage oft Dinge, die „man nicht sagt“, spreche Dinge an, die nicht angesprochen werden dürfen — und merke es nicht. Ich bin der große Irritator, der, permanent die Welt um sich herum berechnend, inzwischen in der Lage ist, ganz unauffällig zu erscheinen. Die Rechenprozesse auf allen Kanälen bekommt meine Umwelt nur noch selten mit. Das ist wie Multi-Threading im Programmieren, nur eben im echten Leben. Aber wie das mit menschengemachten Programmen so ist: ihre Codes haben Bugs.

Und dann läuft Interaktion.exe in einer Situation plötzlich nicht mehr.
Absturz.
Bluescreen.
Neustart.
Kompensieren, irgendwie.

DAS merken die Menschen: wenn ich plötzlich nicht mehr funktioniere und nur noch schaue, schaukelnd ins Leere starre, die Sprache weg ist. Das merken sie. Dass ich den Code seit 37 Jahren mühsam selbst schreibe, teste, verbessere und gleichzeitig vielleicht der empfindsamste Mensch bin, den sie kennen — das wissen sie nicht.


Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus in 500 Worten“.

Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du auf dieser Seite.

Systemsurfer ist im Alter von 33 Jahren diagnostiziert worden, hat ein Studium mehrfach abgebrochen und keine Berufsausbildung, liebt aber Philosophie und Literatur. Systemsurfer twittert, schreibt Kurzgeschichten und versucht sich auch an einer Webseite.

Barrierefreiheit und Autismus

Die Barrierefreiheit ist ein Thema, das in Deutschland wenn überhaupt nur im Rahmen von Baumaßnahmen relevant wird. Eine Rampe hier, ein Behindertenparkplatz dort, im besten Fall noch einige Markierungsstreifen im Boden und der Drops ist gelutscht. Häufig gelingt jedoch selbst die Umsetzung dieser Maßnahmen nur schlecht.

Barrierefreiheit (Symbolbild)
Barrierefreiheit (Symbolbild)

Dabei bleibt diese Herangehensweise nur an der Oberfläche und bemüht sich, die offensichtlichsten und gröbsten Nachteile auszugleichen. Das Bewusstsein dafür, dass Barrieren nichts Physisches sein müssen, fehlt den meisten Menschen. So passiert es sogar, dass die wenigen Anbieter von Informationen in Leichter Sprache, die es gibt, sogar dafür angegriffen werden.

Auch für Autisten ist das Thema Barrierefreiheit wichtig. Natürlich ist es vollkommen unmöglich viele der Barrieren, mit denen Autisten tagtäglich konfrontiert werden, durch strukturelle Maßnahmen wie Bauvorschriften oder Gesetze zu verhindern. Ich würde nicht in einem Land leben wollen, in dem es beispielsweise ein staatliches Verbot von Ironie und Sarkasmus gibt.

Es gibt aber auch Barrieren, die sich durch strukturelle Maßnahmen reduzieren oder ganz aus der Welt schaffen ließen. Allen voran sind hier wohl Kommunikations- und Kontaktwege zu Behörden, Ärzten und anderen Institutionen. Viele Autisten haben das Problem, dass das Telefonieren sie sehr anstrengt und großer Überforderung aussetzt. Schlechte Verbindungsqualität, die Ungewissheit, wann der Gesprächspartner fertig mit dem reden ist, die Tonlage als einzigen Hinweis darauf, wie eine Aussage gemeint war sind dabei einige der Probleme, die das Telefonieren für Autisten sehr erschweren. Dabei sind viele Ziele nur durch telefonieren zu erreichen. Das betrifft häufig harmlose Fälle, wie das Bestellen einer Pizza, aber auch sehr kritische Situationen, wie beispielsweise die Tatsache, dass viele Ärzte nur eine telefonische Terminvereinbarung ermöglichen. Selbst viele auf Autismus spezialisierte Einrichtungen bieten als einzigen Kommunikationsweg eine Telefonnummer an.
Dabei wäre diese Barriere ohne nennenswerten Mehraufwand zu beseitigen.  Das „Wie“ machen dabei die Pizzadienste vor. Ein einfaches Kontaktformular auf die Seite, oder im Zweifel auch nur eine Mailadresse, die zeitnah abgerufen und bearbeitet wird. Effektiv bestünde hier kaum eine Mehrarbeit für die Beteiligten.

Eine andere Barriere können Orte mit vielen Menschen sein. Einkaufszentren, Weihnachtsmärkte, Fußballspiele, etc.. Menschen in großen Gruppen überfordern. Ein Fakt, an dem sich leider nichts ändern lässt. Häufig bedeutet dies für Autisten, dass sie keine Chance haben, Veranstaltungen mit vielen Menschen zu besuchen. Realistisch gesehen besteht keine Chance die Menschenmassen auf einem Weihnachtsmarkt an einem Adventssamstag auf ein angenehmes Maß zu reduzieren, trotzdem gibt es auch hier Wege, die Autisten den Besuch einer solchen Veranstaltung deutlich einfacher machen können. Dies fängt schon bei der Planung an. Keine Veranstaltung funktioniert ohne einen detaillierten Plan, wo sich was befindet. Würden diese Pläne veröffentlicht werden, würde dies ermöglichen, bereits vor dem Besuch genau zu schauen, zu welchen Orten man möchte und durch mehr Planung den Stresslevel zumindest zu reduzieren. Mit etwas mehr Aufwand wäre es verbunden über die Veranstaltung hinweg Ruheorte zu schaffen. Ein Beispiel hierfür bietet die Bahnhofsmission des Hamburger Bahnhofs, die einen Raum der Stille geschaffen hat.

Eine ähnliche Barriere bietet sich dabei insbesondere auch im Bereich der Gastronomie. Während in Restaurants die Hintergrundmusik in der Regel auf ein akzeptables Maß eingestellt wurde, versagen die meisten Veranstaltungsorganisatoren oder Cafe-Besitzer komplett dabei die Musik auf Hintergrundlautstärke zu belassen. Nicht selten wird dies noch ergänzt dadurch, dass Fernseher so über die Anlage verteilt sind, dass man aus jeder Ecke mindestens einen immer im Blick hat. Auch hier wäre es ein leichtes, einen Teil so zu gestalten, dass er keine Fernseher hat und die Musik dort etwas leiser ist. Ein Nachteil würde nicht entstehen, die Gäste, die für Musik und Fernsehen vorbeikommen, würden sich einfach in die anderen Bereiche setzen.

Dabei sind Fernseher nicht das einzige, das Probleme mit sich bringen kann. Leuchtende, blinkende Werbung im öffentlichen Raum ist speziell dazu gebaut, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Was die meisten Nicht-Autisten schon als nervig empfinden kann einen Autisten nachhaltig beeinträchtigen. Auch würde ein Supermarkt, der seine Leuchtstoff-Röhren austauscht bevor sie flackern, mich sofort als Stammkunden gewinnen.

Die zuvor geschilderten Aspekte decken insgesamt vermutlich nur einen kleinen Teil der Barrieren ab, mit denen sich die meisten Autisten im Alltag konfrontiert sehen. Eine vollständige Darstellung würde vermutlich sowohl den Rahmen dieses Textes sprengen als auch daran scheitern, dass nicht alle Autisten auch exakt die gleichen Probleme in den gleichen Ausprägungen haben. Die hier genannten Beispiele können aber einen groben Einblick darin ermöglichen, dass Barrierefreiheit nicht allein eine architektonische Maßnahme ist, die mit ein paar Rampen abgefrühstückt werden kann, sondern etwas, das über viele Bereiche hinweg gedacht werden muss. Dabei muss Barrierefreiheit nicht als Kosten- und Aufwandstreiber gedacht werden, sondern häufig lassen sich mit geringem Aufwand und der Bereitschaft, sich auf die Probleme der Mitmenschen einzulassen, bereits sehr große Verbesserungen erzielen.

Die Geburt einer Routine

Warum Routinen für mich sinnvoll sind und mir den den Alltag erleichtern, habe ich vor einiger Zeit bereits in einem anderen Text geschrieben. Darauf, wie diese Routinen entstehen, ging ich damals nicht näher ein, sondern stellte lediglich fest, dass sich diese Routinen einfach so ergaben.
Seitdem ist einige Zeit vergangen und das Thema flammte in meinen Gedanken immer mal wieder auf. Insbesondere dann, wenn ich die Bereiche meiner bestehenden Routinen verließ. Dabei kam ich zunehmend zum Schluss, dass diese Routinen durch mehr als Zufall so entstehen, sondern dass ich tatsächlich viel darüber nachdenke. Dabei ist mir jedoch nicht bewusst, dass ich gerade eine Routine plane.

Die Grundvoraussetzung für eine Routine ist naheliegendenderweise eine neue Situation, in der ich mich vorher noch nicht befand und mit der ich keine direkten Erfahrungen habe. Natürlich mache ich mir, sofern die Situation absehbar war, vorher Gedanken über mögliche Probleme und wie ich sie löse, aber im Vorfeld kann man da nie alle Eventualitäten absehen, so dass ab einem gewissen Punkt in der Planung weitere Planung einfach keinen Sinn ergibt.

In der Situation selbst handle ich dann mit einer Mischung aus meinen vorherigen Planungen (sofern der seltene Fall eintritt, dass diese mal mit der Realität kompatibel sind) und Erfahrungen aus ähnlichen Situationen. Dabei hilft es, dass ich nie ganze Ereignisse durchplane, sondern immer nur Teilsituationen. Häufig klappt das ziemlich gut, so ist es zum Beispiel relativ egal, ob ich meine Reisetasche nun am Ende des Besuchs bei meinen Eltern oder in einem Hotelzimmer packe. Manchmal muss ich jedoch auch leichte Anpassungen vornehmen, die aber unter dem Strich immer noch stressärmer sind, als die Herangehensweise an eine komplexe Begebenheit von Grund auf neu zu planen. Ich puzzle mir also aus den vielen kleinen Routinen eine neue Herangehensweise für eine bis dahin unbekannte Situation zusammen.

War es eine einmalige Ausgangslage, war es das an dieser Stelle. Im Idealfall habe ich das Ganze ohne größere Probleme bewältigt und kann mich wieder anderen Problemen zuwenden. In der Praxis ist so etwas jedoch selten einmalig und ich werde sicherlich noch in vergleichbare Gegebenheiten kommen. Durch diesen Aspekt und eine leicht selbstkritische Grundhaltung, gepaart mit Perfektionismus, ergibt es sich, dass ich im Nachhinein oft, ohne es mir vorzunehmen, über das Geschehene nachdenke. Dabei schaue ich, was nicht so gut klappte und was ich in Zukunft anders machen müsste, damit es besser läuft, wenn ich noch einmal in die Situation komme. Dabei muss nicht zwingend etwas schief gelaufen sein, häufig reicht schon der Umstand, dass etwas hätte besser laufen können, um den Ausgangspunkt für eine solche Überlegung zu liefern.

Komme ich erneut in eine solche oder eine vergleichbare Begebenheit, wende ich meine verbesserten Herangehensweisen darauf an und schaue, wie sie funktionieren. Anschließend suche ich erneut nach Verbesserungen. Auf diese Weise entsteht, je häufiger die Situation vorkommt, immer mehr das, was sich als Routine bezeichnen lässt. Dabei habe ich mich zu keinem Zeitpunkt entschlossen jetzt eine Routine zu planen, geschweige denn dieses Vorgehensschema zu entwickeln. Es hat sich über die Zeit entwickelt, ohne dass ich mir seiner Existenz bewusst war, so wie es auch mit vielen meiner Routinen ist. Jetzt stelle ich in der Rückschau fest, dass es mir über Jahre gute Dienste geleistet hat, indem es den Stress in vielen Situationen wesentlich abgemildert hat und ich sehr dankbar dafür bin.

MMS – das bedenkliche „Wundermittel“

Dieser Text ist ein Gastbeitrag von outerspace_girl und ist ursprünglich in ihrem Blog erschienen:

 

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stufte heute zwei „Miracle Mineral Supplement“-Produkte, kurz MMS genannt, als zulassungspflichtig und bedenklich ein. Das bedeutet, sie dürfen nicht mehr verkauft werden, bis ein Zulassungsverfahren Unbedenklichkeit und Wirksamkeit bestätigt.

MMS ist ein Gemisch aus Natriumchlorit und Zitronensäure. Bei der Kombination beider Komponenten entsteht Chlordioxid, ein giftiges Gas, das unter anderem als Bleichmittel von Papier und zur Desinfektion eingesetzt wird. Gelangt dieses Gemisch in den Körper, kommt es zu Verätzungen, Erbrechen, Durchfall, starken Schmerzen und Atemproblemen. 
Trotzdem wird MMS von manchen Menschen als „Wundermittel“ gegen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Multiple Sklerose, aber auch gegen Behinderungen wie Autismus eingesetzt. Die Anhänger dieses Mittels berufen sich dabei auf das Buch „Der Durchbruch“ von Jim Humble, seines Zeichens amerikanischer Erfinder. Seine Anhänger gehen beim Verbreiten dieser frohen Kunde äußerst aggressiv vor und sind mehr als überzeugt von diesem chemischen Cocktail.
MMS ist jedoch kein zugelassenes Arzneimittel, es wird nicht von Ärzten verschrieben und es gibt keine Studien zu den vermeintlich positiven Wirkungen. Gesundheitsbehörden warnen schon länger davor. MMS wurde daher als bedenkliches Präsentationsarzneimittel eingestuft, was bedeutet, dass der Hersteller Heilversprechen macht, die jedoch nicht bewiesen sind.

Autisten wehren sich schon sehr lang gegen die Versprechungen dieses vermeindlichen Wundermittels, das nicht selten auch Kindern verabreicht wird, in der Hoffnung, man könne ihren Autismus „wegätzen“. Die betroffenen Kinder leiden schwer unter den Nebenwirkungen, die laut Humble die Wirkung erst bestätigen.
Die Entscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, bleibt jedoch nur ein Schritt. Das BfArM hat mit seiner Entscheidung MMS als chemisches Gemisch nicht verboten, sondern lediglich zwei fertig gemischte Präparate des Herstellers Luxusline. Andere MMS-Mischungen dürfen weiterhin frei verkauft werden, auch ohne Bescheinigung ihrer Unbedenklichkeit. Die Anwendung von MMS wird von dieser Entscheidung nicht beeinflusst und die Mischung kann mit überschaubarem Aufwand selbst produziert werden.
Somit bleibt die Entscheidung alles in allem lediglich ein richtungsweisender erster Schritt, auf den noch viele weitere Schritte folgen müssen. Ein Grund, die Anstrengungen gegen MMS einzustellen, ist es jedoch in keinem Fall.

Von anderen Overloads

Es gibt Tage, an denen prasselt die gesamte Umwelt so lange erbarmungslos auf die eigene Wahrnehmung ein, bis sämtliche Kompensationsmechanismen und Tricks an irgendeinem Punkt versagen und man keine andere Wahl mehr hat, als sich schleunigst eine ruhige Ecke zu suchen und dem Overload1 seinen Lauf zu lassen.

So oder so ähnlich ist die klassische Entstehung eines Overloads. Doch dann gibt es noch die wesentlich seltenere Variante, die quasi unbemerkt kommt und deren Entstehungsgeschichte Tage oder sogar Wochen vorher beginnt.So zum Beispiel Klausurenphasen eines Studiums und ihre Vorbereitung. In diesen Phasen gibt es kein einprasseln von Reizen oder keine direkte einzelne Situation, die die Reizfilterung ausschaltet und einen dringenden Rückzug erfordert. Es gibt nur Tage mit sehr viel konzentrierter Arbeit und Treffen von Lerngruppen, an deren Ende viel zu wenig Freizeit steht. Nicht angenehm, aber auch nichts, was einen Overload auslöst.
Problematisch wird es dadurch, dass so eine Klausurenphase dazu neigt, dass eine ganze Reihe dieser Tage aufeinander folgt, ohne dass es dazwischen Tage gibt, an denen man Schlaf aufholen könnte oder Dinge tun kann, die weniger Konzentration erfordern. Man macht einfach weiter und hat auch gar nicht die Zeit darüber nachzudenken, wie es einem gerade eigentlich geht.

Das funktioniert nicht ewig. Jeder dieser Tage, an denen man mehr Energie aufwendet als man gewinnt, geht auf Kosten von Reserven. Je nach der persönlichen Belastungsgrenze sind diese Reserven an irgendeinem Zeitpunkt aufgebraucht. Dass dieser Zeitpunkt erreicht ist, merke ich nur schleichend. Beispielsweise daran, dass ich egal wie sehr ich es versuche nicht schaffe, den Sinn von Texten die ich grade lese aufzunehmen. Oder daran, dass mich selbst Kleinigkeiten, die mich sonst nicht einmal ansatzweise stressen würden, wahnsinnig auf die Palme bringen. Oft braucht es sehr viele dieser Kleinigkeiten bis ich erkenne, dass ich grade scheinbar grundlos in einen Overload rutsche, und dann irgendetwas dagegen unternehmen kann, damit es nicht noch schlimmer wird.

Häufig passiert dies an Tagen, an denen gerade weniger los ist. Wenn ich Glück habe, sind das die Tage, an denen die Stressphase ohnehin endet und ich habe einige Tage Zeit, die Energiereserven wieder aufzufüllen. Habe ich weniger Glück, bleibt an dieser Stelle nur schnellstmöglich eine Ruhepause einzulegen, um die Energie soweit auffüllen zu können, dass ich irgendwie bis zum Ende der Phase weitermachen kann.

Das Phänomen, dass Autisten Dinge tun, die sie eigentlich nicht schaffen sollten, ist dabei kein seltenes. Gerade Autisten die „funktionaler“ erscheinen und denen man ihren Autismus nicht unbedingt anmerkt, sind in der Lage in Situationen, die an ihre Grenzen gehen, weiterzumachen. Dabei verschwinden der Stress und die Überforderung jedoch nicht. Sie werden nur aufgeschoben, bis an irgendeinem Zeitpunkt, an dem kein Auslöser erkennbar ist, der Overload, oder im Extremfall der Meltdown, eintritt.

Therapie

Viele Autisten haben ein Problem mit Therapien. Wenn ich die Aussagen von den Autisten, die sich öffentlich äußern, verallgemeinere, könnte man sagen dass es die Mehrheit ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber wie Rainer in einem Gespräch mit mir (rf005) anmerkte, dürfte der Hauptgrund dafür negative Erfahrungen mit  Psychologen sein, die so weit gehen, dass man in einigen Fällen schon von Traumatisierung sprechen kann.
Ich brauche kaum zu erklären, dass ich  vollstes Verständnis dafür  habe, wenn Menschen mit diesen Erfahrungen Therapien für sich grundsätzlich ablehnen, sofern sie daraus keine grundsätzliche Haltung konstruieren, dass alle Therapie immer böse ist.

Genau diese Haltung wird aber im Moment wieder zunehmend salonfähig. Auch bei Autisten die keine negativen Erfahrungen im Kontext mit Therapien machten. Dies wird im Regelfall damit begründet, dass man die Autisten ja nur akzeptieren müsste, statt zu versuchen, den Autismus wegzutherapieren.

Menschen die “Therapie ist …” kauften, kauften auch “Alle Autisten sind  …”

Ich kann diese Argumentation selten ohne Zusammenbeißen der Zähne ertragen, sehr zur Freude des Autohändlers meines Zahnarztes. Das Problem, das ich mit dieser Argumentation habe, ist nicht, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Das Problem ist, dass sie per se schon eine Verallgemeinerung ins Absurde darstellt.
Natürlich gibt es Therapien, die das strikte Ziel haben, am Ende eine Armee von unauffälligen Otto-Normal-Bürgern zu schaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt am Ende davon ein Mensch raus, der einige Therapie bräuchte, um die Therapie zu verarbeiten, und selbst wenn es am Ende funktioniert, dass der Mensch nach außen hin normal wirkt, dürfte das, was von ihm übrig ist, nicht mehr viel mit dem zu tun haben, was zu Beginn da war. Ich bin der Letzte,  der leugnet, dass es da draußen eine Heerschar von Leuten gibt, die sich daran gemacht haben, Autisten reihenweise zum Blickkontakt, Lächeln und Hand geben zu zwingen, indem sie der Konditionierung einen coolen neuen Namen gegeben haben.
Das ist das Bild, das vorherrscht, wenn man versucht, über Therapie zu diskutieren. Allerdings ohne jede Differenzierung, dass es hierbei lediglich eine Teilmenge des weiten Feldes unterschiedlicher Therapieansätze abdeckt.

Es gibt da nämlich noch andere Herangehensweisen, die ich ganz gerne als  problemorientierte Herangehensweisen bezeichne. Diese Ansätze gehen nicht davon aus, dass Autismus per se etwas ist, das therapiert werden müsste. Genau so wenig stürzen sie sich auf die Symptome. Die Fragestellung hierbei ist eher: An welcher Stelle hat der Mensch eigentlich Probleme, die durch den Autismus bedingt sind und kann man da etwas dran machen?
Wie das konkret aussieht, kommt dann natürlich auf die Probleme an, die im Alltag vorhanden sind. So kann ein soziales oder ein Kommunikationstraining in Einzelfällen zum Beispiel durchaus Sinn machen. Sie werden aber kaum helfen, wenn jemand Probleme damit hat, seinen Tagesablauf zu organisieren.
Überhaupt haben alle Therapien, insbesondere im Autismus-Bereich, die Gemeinsamkeit, dass keine von ihnen der alleinige Weg zur Erlösung ist. Kein seriöser Ansatz ist in der Lage, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die Autismus so mitbringen kann.

Die Diskussion, ob eine Therapie Sinn ergibt, und wenn ja welche Therapie, wird fast immer mit ideologischem Beigeschmack geführt. Es gibt die Menschen, die Therapie pauschal als das Einfallstor allen Bösen betrachten, es gibt die Therapeuten die meinen, sie haben DEN Weg gefunden, alles gut zu machen, genau so wie es Leute gibt, die glauben, man könnte und müsste Autismus grundsätzlich therapieren.
Die Lösung liegt wie so oft in der Mitte:

Therapie kann sinnvoll sein, sie muss es aber nicht. Und wenn eine Therapie sinnvoll ist, sollte sie auf den Bereich zugeschnitten sein, in dem das Problem besteht, und nicht auf Basis eines alleinigen Heilsversprechen gewählt werden.

Disclaimer: Ich wurde selbst mehrere Jahre in einer Praxis therapiert, die sich auf Autismus spezialisiert hat und wäre ohne diese Unterstützung aktuell vermutlich nicht in der Lage meine Bachelorarbeit zu schreiben, daher ist eine gewisse Befangenheit nicht vollständig auszuschließen.