Category Archives: Alltag

Routinen

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„The same procedure as last year?“

„The same procedure as every year.“

Dinner for One(1963)

 

Routinen sind ein klassisches und oft genanntes Autismussymptom. Viele Autisten haben sie, manche benannten sogar Bücher nach ihnen. Sie können gewisse Handlungs- oder Gesprächsabläufe umfassen und zeigen sich im allgemeinen auf sehr unterschiedliche Weisen. Für Außenstehende sind sie jedoch nicht immer logisch und nachvollziehbar. Ich werde öfter gefragt, warum diese Routinen für Autisten so wichtig sind und ob es wirklich so schlimm ist, wenn mal etwas nicht so klappt. Hier der Versuch einer Erklärung auf Grundlage meiner Erfahrungen und der Gespräche mit anderen Autisten:

  • Aufstehen.
  • Im Halbschlaf das Smartphone neben mir greifen, nachschauen ob irgendjemand etwas von mir wollte und ob spontan irgendwelche Vorlesungen ausfallen, so dass ich nicht aufstehen muss.
  • Auf dem Weg ins Bad die Kaffeemaschine anwerfen.
  • Auf dem Rückweg den Kaffee mitnehmen und im weiteren Verlauf trinken.
  • Kontrollieren, ob alles in der Tasche ist, was ich über den Tag brauchen werde.
  • MP3-Player, Smartphone, Portemonnaie und Schlüssel auf die Hosentaschen verteilen, alles noch einmal durchgehen, ob es auch wirklich da ist.
  • Tür hinter sich abschließen, Schlüssel in die rechte Jackentasche stecken.

So gestaltet sich ein üblicher Morgen eines Uni/Arbeitstags bei mir. Hinter diesem Ablauf steckt keine konkrete Planung. Er ergab sich so.  Sogar, ohne dass mir bewusst war, dass ich den Morgen immer in dieser Reihenfolge verbringe, bis ich für diesen Text anfing darüber nachzudenken, welche Routinen ich in meinem Alltag so habe. Dieser Ablauf wuchs mit der Zeit.

Routinen haben etwas Beruhigendes und Entspannendes. Die meisten Situationen, in denen ich im Alltag bin, zeichnen sich dadurch aus, dass ich auf Dinge achten und mich auf Dinge konzentrieren muss, die andere ohne nachzudenken tun oder die sie nicht mal bewusst wahrnehmen. Viele Sachen, die implizit klar sind, muss ich mir erst bewusst schlussfolgern. Gibt es in einer entsprechenden Situation schon eine Routine heißt das, dass ich über einige Teile der Situation nicht mehr nachdenken muss. Auf diese Weise kann ich viele Situationen eher bewältigen, die ich sonst nicht so ohne weiteres bewältigen könnte, da sie zu komplex sind.
So bin ich zum Beispiel durch die reine Existenz der beschriebenen Morgenroutine in Lage, mich gedanklich auf den kommenden Tag und die an mich gestellten Anforderungen vorzubereiten, weil ich mir keine Gedanken darüber machen muss, was ich grade mache. Auf diese Weise starte ich entspannter in den Tag.

Ein weiterer Aspekt von Routinen ist die Sicherheit, die sie bieten. Ich habe einen Weg, den ich kenne, auf dem ich das gewünschte Ziel erreichen kann, und der, insofern die Routine erprobt und bewährt ist, mich davor schützt, dass Dinge schief laufen. Das bringt mir in der Praxis oft viel mehr, als einen neueren, und für Außenstehende besseren, Weg auszuprobieren.
An meinem konkreten Beispiel stellt zum Beispiel das Kontrollieren meines Rucksacks und meiner Hosentasche sicher, dass ich nichts vergessen hab. Außerdem bietet diese Routine eine Möglichkeit zu kontrollieren, ob ich meine Zimmertür abgeschlossen habe. Ist der Schlüssel nicht in der rechten Jackentasche, muss ich noch einmal zurück gehen. Die Tage an denen ich noch einmal auf halber Strecke zurück zum Wohnheim lief, um zu kontrollieren, hat sich seitdem auf ein Minimum reduziert, und der Hausmeister schaut mich auch seltener an, als ob ich geisteskrank wäre.

Das alles funktioniert so lange, wie mich niemand in meiner Routine stört. Diese Störung kann je nach Situation und Routine unterschiedlich aussehen. Meine Morgenroutine ist verhältnismäßig unempfindlich gegen Störungen. Ich habe zum Beispiel morgens meist genügend Zeitpuffer, dass auch mal ein Mitbewohner vor mir im Bad sein kann. Kritisch wird es an den Stellen, an denen mehrere Störereignisse zusammenkommen, wie zum Beispiel ein Verschlafen und ein Mitbewohner. Bei anderen Routinen reichen auch durchaus schon einzelne Störereignisse von außen, um mich aus dem Konzept zu bringen.
Wenn das geschieht, merke ich die Auswirkungen recht schnell. Ich muss wieder über Dinge nachdenken, die vorher automatisiert abliefen, ich brauche dafür mehr Konzentration, die mir dann an anderer Stelle fehlt. Dazu kommt die Unsicherheit. Durch die Störung oder sogar den Wegfall meiner Routine, habe ich den den sicheren Weg zum Ziel verloren. Metaphorisch gesprochen fehlt mir die bewährte Karte durchs Minenfeld und ich probiere bei jedem Stein, auf den ich trete, aus, ob er nun explodiert und mir fehlt jede Gewissheit, ob ich das andere Ziel erreichen kann.

All das hier Beschriebene kann in unterschiedlichen Abstufungen stattfinden. Wie bei beinahe allem spielt auch hier der Stresspegel mit hinein, wie sehr mich eine Störung betrifft und wie gut ich sie noch ausgleichen kann. Insgesamt sehe ich meine Routinen jedoch nicht als ein Symptom von Autismus, sondern viel mehr als eines von vielen Hilfsmitteln, das mir dabei hilft, mit meinem Autismus besser umzugehen.

Mitgefühl

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Autisten sind nicht in der Lage, Mitgefühl gegenüber anderen zu empfinden.

Auch wenn man bei Erklärungen zu den häufigen Vorurteilen wohl irgendwann eine gewisse Routine entwickelt, gibt es einige weit verbreitete Ansichten, bei denen Erklärungen und Diskussionen niemals entspannt sein werden.
Dieser Satz und seine diversen Variationen ist eine davon.

Natürlich sind Autisten in der Lage, Mitgefühl zu empfinden.

Ich sehe zwei große Ursachen dafür, dass sich diese Ansicht so hartnäckig hält. Auf die erste Ursache brauche ich an dieser Stelle nicht detailliert einzugehen, da mir Mela in einem anderen Artikel zuvor kam.
Um es kurz zu fassen: Das Mitfühlen ist nicht das Problem. Das Problem ist es zu erkennen, dass es da etwas zum Mitfühlen gibt. Wenn man diesen Schritt gemacht hat, liegt der nächste Schritt darin, das Gefühl überhaupt zu erkennen, auf das reagiert werden soll.
Wenn ich diese beiden Schritte zu einem irgendwie befriedigenden Ergebnis gebracht habe, klappt das mit der Empathie meist recht gut. Das bedeutet aber in den meisten Fällen, dass ich mich bewusst damit beschäftigt habe. Außerdem brauche ich eine Erfahrung, die ich zumindest grob auf die andere Situation übertragen kann. Die Fälle, in denen ich nicht nachdenken muss, sind meist die Fälle, in denen ich das Geschilderte eins zu eins erlebt habe. Dann kann dazu auf Anhieb die passende Emotion abgerufen werden. Wenn ich auf der anderen Seite für eine Situation keine Grundlage hab, bin ich nicht in der Lage, mich in diesen Menschen hineinzuversetzen. In so einem Fall habe ich aus den diversen Jahren, die ich mich gezielt mit meinen Mitmenschen auseinandersetze, für viele Situationen theoretisches Wissen, wie diese sich in einer entsprechenden Situationen wohl fühlen, aufgebaut.
Eine weitere Sichtweise darauf, wie das Mitfühlen bei ihr funktioniert, beschreibt fotobus in ihrem Blogbeitrag, der sich ebenfalls mit diesem Phänomen befasst.

Ein anderes Problem, zu dem ich eher selten Informationen finde, das ich aber in diesem Kontext für wichtig halte, ist die Diskrepanz zwischen dem Empfinden eines Gefühls und dem Darstellen dieses Gefühls nach außen hin. Die Annahme, dass etwas nicht existiert, lediglich weil es nicht wahrgenommen wird, ist unter vielen Menschen weit verbreitet.

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Überlebenspaket

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(Quelle: mit freundlicher Genehmigung von Fuchskind.de)

 

Für die Wahl meiner Jacken gibt es nach “passen” und “nicht hässlich” ein drittes Ausschlusskriterium: Stauraum.

Das war eigentlich schon immer so, ich hatte immer ein festes Repertoire an Dingen, die ich dabei hatte, was sich, außer einem hinzuadoptiertem Smartphone, nie geändert hat. Irgendwann fand ich dann diesen Cartoon und fand mich darin so sehr wieder, dass ich anfing darüber nachzudenken und mich mit anderen Autisten unterhielt. Es stellte sich heraus, dass ich gar nicht mal so allein damit war und das viele Autisten so ihre Gegenstände haben, mit denen sie so durch den Alltag kommen und die sie immer dabei haben. Was ich nun hier machen möchte ist eine kleine Sammlung von den Dingen, die ich von mir oder von Unterhaltungen mit anderen Autisten so kenne und wie sie helfen. Sie erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit und auch nicht alles was hier steht wird auch allen helfen. Vermutlich haben sogar einige der hier geschilderten Dinge das Potenzial andere wahnsinnig zu machen.  Wer also am Ende der Meinung ist, ich hätte hier etwas vergessen, was ihm wunderbar hilft und was eventuell sogar noch anderen helfen kann, darf dies gerne in den Kommentaren nachtragen.

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Funktion

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Oft schreibe ich hier von Kompensation und der Kraft die sie fordert. Aus dieser Kompensation und der Kraft die sie fordert heraus, entsteht meist ein erhöhtes Ruhebedürfnis.
So bin ich durchaus in der Lage, an einem 8 – 10 h Uni-Tag durchgängig mit Menschen zu interagieren, zumindest solange mich niemand fragt, was für Dinge der Professor in den letzten drei Stunden davon erzählt hat, da die Konzentration üblicherweise das erste Opfer solcher Tage ist.

Spurlos geht es nicht an mir vorüber. Solche Tage gehen an meine Grenzen und manchmal sogar darüber hinaus. Irgendwann lernte ich, nicht ohne fremde Hilfe, den Punkt zu erkennen, an dem ich mich selbst zurück nehmen muss, um nicht zu weit an, beziehungsweise über, meine Grenzen zu kommen. Das klappt nicht immer, manchmal übersehe ich diesen Punkt einfach, zum Beispiel wenn ich viel Konzentration in die Dinge investieren muss, die ich gerade mache. Ich erkenne spätestens dann, wenn ich abends um 10 ins Bett falle, dass der Tag weniger entspannt war als er sollte.
Meist braucht es auch ein bis zwei Tage, bis ich nach solchen Tagen wieder komplett regeneriert bin, so dass solche Tage kein Untergang sind. Manchmal mache ich das sogar ganz bewusst und plane dann in den nächsten Tagen ausgedehntes Nichtstun und Entspannung ein.
Diese Fähigkeit, zumindest für einen kurzen Zeitraum die eigenen Grenzen zu überschreiten, ist allerdings nichts, was alle Autisten haben.

Kritisch wird es an der Stelle, an der diese Zeit zum Regenerieren fehlt und mehrere solcher Tage aufeinander folgen.

“Wie gut ein System funktioniert, merkt man dann, wenn es nicht mehr funktioniert.”
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