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Oft schreibe ich hier von Kompensation und der Kraft die sie fordert. Aus dieser Kompensation und der Kraft die sie fordert heraus, entsteht meist ein erhöhtes Ruhebedürfnis.
So bin ich durchaus in der Lage, an einem 8 – 10 h Uni-Tag durchgängig mit Menschen zu interagieren, zumindest solange mich niemand fragt, was für Dinge der Professor in den letzten drei Stunden davon erzählt hat, da die Konzentration üblicherweise das erste Opfer solcher Tage ist.

Spurlos geht es nicht an mir vorüber. Solche Tage gehen an meine Grenzen und manchmal sogar darüber hinaus. Irgendwann lernte ich, nicht ohne fremde Hilfe, den Punkt zu erkennen, an dem ich mich selbst zurück nehmen muss, um nicht zu weit an, beziehungsweise über, meine Grenzen zu kommen. Das klappt nicht immer, manchmal übersehe ich diesen Punkt einfach, zum Beispiel wenn ich viel Konzentration in die Dinge investieren muss, die ich gerade mache. Ich erkenne spätestens dann, wenn ich abends um 10 ins Bett falle, dass der Tag weniger entspannt war als er sollte.
Meist braucht es auch ein bis zwei Tage, bis ich nach solchen Tagen wieder komplett regeneriert bin, so dass solche Tage kein Untergang sind. Manchmal mache ich das sogar ganz bewusst und plane dann in den nächsten Tagen ausgedehntes Nichtstun und Entspannung ein.
Diese Fähigkeit, zumindest für einen kurzen Zeitraum die eigenen Grenzen zu überschreiten, ist allerdings nichts, was alle Autisten haben.

Kritisch wird es an der Stelle, an der diese Zeit zum Regenerieren fehlt und mehrere solcher Tage aufeinander folgen.

“Wie gut ein System funktioniert, merkt man dann, wenn es nicht mehr funktioniert.”

sagte ein Professor in meinem ersten Semester in einer Veranstaltung zur Softwareentwicklung. Diese Aussage lässt sich ohne weiteres auch auf die Mechanismen anwenden, mit denen ich die Probleme im Alltag kompensiere. Ich merke, an wie vielen Stellen ich wirklich darüber nachdenken muss, wie ich reagiere oder was ich sage.
Ab einem gewissen Punkt fehlender Entspannung fange ich an, wieder mehr Dinge falsch zu verstehen oder Dinge missverständlich zu formulieren. In manchen Momenten bin ich immer noch überrascht, auf wie viele Arten ich meine Mitmenschen unbemerkt zu beleidigen vermag ohne es zu merken.
An dieser Stelle übrigens einen großen Dank an alle Menschen aus meinem Umfeld die mir irgendwie zu verstehen geben, dass ich gerade Mist gebaut habe, statt einfach kommentarlos nicht mehr mit mir zu reden.

In dieser Situation hilft eine Auszeit zwar kurzfristig, aber 15 Minuten Abschottung von der Außenwelt ersetzen keine 10 h Schlaf. Irgendwann hier kommt der Punkt, an dem es mit „unauffällig“ nicht mehr klappt. Fehlen diese Auszeiten noch länger, kann es bei mir durchaus vorkommen, dass ich mit etwas beginne, was unter Handflapping fallen dürfte. In meinem Fall ein schnelles links und rechts drehen des Handgelenks, meist ohne dass ich es merke. Außerdem wird die Selbstkontrolle allgemein schwieriger, wenn man mich zum Beispiel in der Situation zum Lachen bringt, kann ich ernsthafte Probleme bekommen, dass in einem sozial akzeptiertem Maß zu halten und irgendwann auch wieder damit aufzuhören.

Zu all diesen Effekten braucht es keine wahnsinnig überfordernde Situation. Das konstante Fehlen von wirklichen Auszeiten kann unter Umständen ein viel größeres Problem sein als eine komplett überfüllte Kirmes. Und die Tatsache, dass man voll mitbekommt, wie man in Situationen scheitert, die eigentlich schon seit Jahren keine Probleme mehr sind, und das auch mitbekommt, aber nichts dagegen tun kann macht das Ganze nur noch viel stressiger.