Du kannst kein Autist sein …

Hinweis: Dieser Artikel betont die negativen Seiten von Autismus sehr stark. Dies sind jedoch bei weitem nicht die einzigen Aspekte, die Autismus ausmachen.


Du kannst kein Autist sein, du schaffst es ja zu studieren.
Du siehst, dass ich es schaffe zu studieren. Vielleicht siehst du sogar meine relativ guten Noten.
Was du nicht siehst sind die Wochenenden, die ich durcharbeiten muss. Um die Vorlesungen nachzuholen, die ich verpasst habe, weil ich zu überfordert war. Wie ich abends ins Bett falle, nachdem ich mir einen gesamten Tag lang nicht habe anmerken lassen, wie sehr meine Kommilitonen mich gestresst haben. Du siehst auch nicht, wie ich nach einer Woche solcher Tage aufgelöst unter meinem Schreibtisch liege.

Du kannst kein Autist sein, du hast eine Beziehung.
Du siehst, dass ich eine Beziehung habe. Was du nicht siehst ist wie viel Arbeit ich darin investiere, die Beziehung nicht an den Problemen scheitern zu lassen, die mein Autismus mit sich bringt. Du siehst nicht, wie lange ich im Nachhinein darüber nachdenken muss, was ich in einer Situation gesagt habe und wie die Antwort darauf gemeint sein könnte. Du siehst nicht wie anstrengend es für meinen Partner ist, dass ich nicht immer in der Lage zu körperlicher Nähe bin. Du siehst auch nicht, dass ich nicht immer in der Lage bin zu kommunizieren wie ich sollte und auch gerne würde.

Du kannst kein Autist sein, du hast Freunde.
Du siehst, dass ich Freunde habe. Was du nicht siehst ist der Aufwand, den es mich neben der Uni kostet, sie zu behalten. Die Tatsache, dass ich mehrere Kalender führe, um es zu schaffen mich regelmäßig zu melden. Wie viel Gedanken ich darin investiere, ihnen nicht versehentlich vor den Kopf zu stoßen. Wie ich aller Mühe zum Trotz manchmal dennoch scheitere. Du siehst auch nicht. wenn manche sich einfach nie wieder melden, ohne dass ich jemals erfahre warum.

Du kannst kein Autist sein, du bloggst/podcastest ja.
Du siehst, dass ich ein Projekt habe, mit dem ich in der Öffentlichkeit stehe, und demnach kein Autist sein kann. Du hörst eine halbe Stunde lang meine Episode und stellst fest, dass ich vollkommen normal bin. Du hast keine Ahnung von den zwei Tagen, an denen ich im Vorfeld das Gespräch vorbereitet habe. Oder dem weiteren Tag Nachbereitung, den es kostet, bis es so klingt als wäre mir das leicht gefallen, so dass die Leute es sich gerne anhören und im Endeffekt vielleicht ein paar Vorurteile weniger über Autisten haben. Davon profitieren am Ende alle Autisten.

Du kannst kein Autist sein, du leidest ja gar nicht.
Du siehst nicht wie ich leide. Das ist richtig. Unabhängig davon, wie viel ich von mir im Internet teile, liegt die Entscheidung darüber was ich teile einzig und allein bei mir. Und auch wenn ich mich über Autismus äußere, liegt es nicht in meiner Pflicht, dir darzulegen, warum ich leide, damit du entscheiden kannst, ob ich genug leide, um Autist zu sein. Zu diesem Schluss kam bereits eine Person, welche mich im Rahmen einer Diagnostik besser beurteilen konnte als du es im Rahmen meiner verkürzten Tweets, meiner dreifach korrekturgelesenen Blogbeiträge und meiner geschnittenen Podcasts jemals können wirst. Wenn ich entscheiden kann was ich über mich teile, dann sollen das nicht ausschließlich die negativen Aspekte von Autismus sein. Die kann man überall nachlesen. Aber nur weil ich sie dir nicht zeige, heißt das nicht, dass sie nicht da sind. Und nur weil ich für deine Maßstäbe nicht öffentlichkeitswirksam genug leide, heißt das nicht, dass ich keine Probleme habe. Geschweige denn, dass dich das etwas angehen würde.

14 thoughts on “Du kannst kein Autist sein …”

  1. Forscher

    Dazu habe ich auf unserem Gemeinschaftsblog für Autisten auch schon gebloggt:

    https://klarnetaut.wordpress.com/2015/04/27/autismus-stereotypen/

    Offenbar ähneln sich die Vorurteile, die man an den Kopf geworfen bekommt, immer wieder.
    Speziell das mit den Freundschaften kenne ich aber auch, und dem sich plötzlich nicht mehr melden, ohne zu wissen warum. Das kann auch lange Zeit belastend sein, wenn etwas auseinander bricht, ohne je die Möglichkeit gehabt zu haben, das zu klären oder im Frieden auseinander zu gehen.

  2. Anthea

    Was bin ich froh, dass mir das alles nur noch am Arsch vorbei geht – sollen sie doch labbern und denken – wenn mich wer direkt anspricht sage ich, genau das obige – du hast keine Ahnung wie viel Energie und Kraft mich das alles kostet, was ihr einfach so erledigt – ob die dann damit klar kommen oder nicht, interessiert mich schon nicht mehr.

  3. Chris

    Hi

    Danke für den Bericht. Leider kenne ich diese Aussagen selber. Selber sogar von meinem ersten Psychiater…

    Gruss Chris

  4. Sandra

    Nichts für ungut, ich finde das alles sehr toll geschrieben und finde diese Aussagen von NTs bezgl. Autismusstereotypen auch äußerst lästig… Nur hier wirkt es so, als wäre es für jeden Autisten ein Kampf, die Uni zu schaffen, Freunde zu haben oder einen Partner.
    Was auch nicht so sein muss.
    Für mich ist nur Letzteres oft schwierig aufgrund von Missverständnissen (Partner denkt, ich ignoriere ihn, dabei bin ich grade einfach in meiner Gedankenwelt gefangen zB), aber das ist auch zum Teil vom Partner abhängig.
    Ich habe nur die Befürchtung, dass NTs, die das hier lesen ,denken, dass jeder Autist solche heftigen Probleme hat, was nicht auf jeden zutreffen muss.

    1. Benjamin Falk Post Author

      Dieser Text ist in der Ich-Perspektive geschrieben um genau das zu vermeiden. Genau so, wie ich hier darauf hinweise, dass alle hier geschilderten Erfahrungen nicht allgemeingültig für alle Autisten sind. Natürlich muss nicht jeder Autist in jedem dieser Bereiche die gleichen Probleme haben. Die meisten Autisten die ich kenne haben jedoch in zumindest Teilen dieser Bereiche diese oder andere Probleme.

      Das war es jedoch nicht worum es mir in diesem Text vorrangig ging, sondern es ging mir darum darzulegen, wie viel der Dinge für Außenstehende unsichtbar sind, so dass diese Personen nicht in einen „Ich sehe keine Probleme, du hast keine Probleme, du bist kein Autist“-Reflex verfallen, sondern dafür sensibilisiert werden, dass Dinge die sie nicht sehen, nicht zwangsläufig auch Nicht-Existent sein müssen.

    2. Julia

      Keine Angst, als NA, die hier mitliest, war mir sofort klar, dass das eine zusammenfassende Darstellung persönlicher Erfahrungen ist. Weder muss jeder Autist dieselben Probleme haben, noch gehe ich davon aus, dass der Autor alle diese Probleme jeden Tag in derselben Ausprägung hat.
      Ich bin auch immer wieder erstaunt und schockiert über all die Vorurteile, mit denen Autisten offenbar zu kämpfen haben. Als Synästhetikerin bin ich es gewohnt, dass im Gehirn eigenartige Dinge ablaufen, die für Aussenstehende nicht erkennbar und manchmal auch nicht nachvollziehbar sind. Trotzdem sind sie da und brauchen Kraft, mal mehr, mal weniger.
      Eine Diagnose am sichbaren Leidensdruck festmachen zu wollen, zeugt nur von Ignoranz und einem sehr begrenzten Einfühlungsvermögen (oder -willen)! Und das gilt für alle nicht äusserlich sichtbaren Probleme, egal ob es dabei um Autismus, Depression, Migräne oder einen Reizdarm geht.

      LG, Julia

  5. Diedrich Carstens

    Ja, der Beitrag zeigt wie oberflächlich doch die Wertungen der Gesellschaft sind, bzw. wieviel Kompensation notwendig ist um als Autist nicht „auffällig“ zu sein.

    Da ich ab einem gewissen Alter damit gebrochen habe mich weiterhin zu verstellen, und um damit das lebenslange Schauspiel meinerselbst zu beenden, kann es mir herzlich wurscht sein was andere nun über mich denken. Mit dieser neu gewonnenen „Freiheit“ entledige ich mich einiger Ursachen für Depressionen, Selbstverleugnung und unnötigem „Overhead“ für den „Overload“ .
    Übertragen auf einen NT würde unser autistischer Mehraufwand mit Sicherheit zu einem Stressor werden.

    Demnach haben Autisten in ihrer Kompensationsleistung wahre Meisterschaften zu erreichen und werden trotz alledem diskriminiert, durch die öffentliche Meinungsmache, gefördert durch Halbwissen und Egopolitur. Da jeder Mensch ein Individuum ist, der Autist ebenso, kann auch keine „Schublade“ für den Autisten aufgezogen werden. Doch genau diese braucht die gesellschaftliche Meinung und ihre nährende Wissenschaft – der menschliche Verstand ist einfach zu unflexibel. Alles was mehrere Möglichkeiten in seiner Präsenz offenbart wird reduziert auf Polemik und Irrglauben, meist aus rein wirtschaftlichen Aspekten, oder einfach aus dem eigenen Minderwertigkeitsgefühlen heraus.

  6. Anja

    Ich habe AS und leide darunter in einer Welt zu Leben in der ich einen Teil einer Minderheit darstelle. Dennoch kann ich von NT’s nicht erwarten zu wissen wie es mir damit geht. Ich kann ihnen ihr Verhalten nicht vorwerfen, da sie ohne Aufklährung nicht wissen können was ich brauche. An guten Tagen kann ich, mir Vertrauten, erklären wie sehr ihr Verhalten mich stresst/ verunsichert. Das kann ich aber nicht bei allen Menschen tun, die mir begegnen. Ebensowenig kann ich sie für ihre Unwissenheit tadeln. Ich bin über die beschriebenen Situationen ebenso frustriert, versuche aber im Nachhinein alle Kraft zu investieren um den Betroffenen meine Empfindungen in diesen Situationen zu erklären. Oft genug kann ich das nicht, oder drücke ich mich falsch aus. Aber ich sehe keine Alternative, da ich so oft auf Unterstützung dieser Personen angewiesen bin

  7. Daniel

    Hm, ja. Wie oft muss ich das eigentlich noch schreiben? Wohl noch öfter. Guter Ansatz.

    ASS (so lautet es ja inzwischen, sagt mir, falls ich mich irre) ist eine Diagnose und Diagnosen beruhen auf den Beobachtungen von Medizinern. Den Autisten nach der Diagnose kann es nicht geben, er ist eine Kunstfigur, ein Rainman.
    (Seh ich aus wie eine Comicfigur? )

    Dass die meisten Menschen das nicht begreifen wollen (auch Autisten im Übrigen), scheint ein Kommunikationsproblem zu sein, also ein schwer zu Lösendes.

    Ich habe Abitur
    Ich Studiere
    Ich schreibe Bücher (verdammt, ich verstehe nicht nur Ironie, ich arbeite sogar noch damit O.O )
    Ich habe Freunde (wenn auch nicht viele)
    Einen Blog habe ich irgendwie auch noch
    Und ich habe zwar nicht gerade wenige subtile Schwierigkeiten im Alltag(ähnliche wie Benjamin), empfinde mein Leben aber jetzt nicht wirklich als eine Verkettung von Leid und Elend.
    (Am Rollkragen zieh)… Uff, hier wird es für jemanden aber gerade etwas eng ^^…
    //Sarkasmus: ich weiß mir wird hier niemand die Diagnose absprechen 🙂 

  8. Aspie im Labyrinth

    Ernste Worte. Machen mich traurig. Klingen für mich zudem ein wenig hart, nach Abwehr, nach Verteidigung. Aber es sind Deine Worte. Und es wird einen Grund geben. Vielleicht haben wir denselben …?
    Für mich kann ich nur sagen: Ich will nicht mehr, will nicht mehr meine “Special Effects” aufzählen, erklären und mich dafür, dass ich sie “nicht einfach” abstellen kann, verteidigen müssen.
    Ich will auch nicht mehr Menschen zuhören, die dafür bezahlt werden, sich um “Schwache”, “Ausgegrenzte” und sonstige “Randgruppen” zu “kümmern”: Denn die leben davon und am schönen Feierabend sind sie in ihrer Welt. Und wenn “wir” uns selbst organisieren, selbst vertreten und selbst unterstützen könnten, dann bräche eine ganze “Versorgungsindustrie” zusammen, die zu einem großen Teil davon lebt, dass die Betreuten unmündig bleiben.
    Ich will auch nicht in einer Beziehung gezwungen sein in aller Öffentlichkleit zu knutschen oder Händchen zu halten, bis dass die Handflächen pitschenass sind. Das Kennenlernen, das Sich-erklären-müssen, die eignen Grenzen zu wahren – das ist alles anstrengend, so anstrengend. Woher kommt da eigentlich der “Strom”, frage ich mich.
    Ein guter Text, der auf die nicht sichtbare Welt hinter der Bühne, auf ein ständiges Laufen auf Hochtouren im Backoffice hinweist.
    Soll ich das jetzt Freunden erklären? auf der Arbeit erwähnen? bei einer beruflichen Neuorientierung damit hausieren gehen?
    Ich werde mir Deine Worte auf den Unterarm tätowieren lassen ( Nein, mache ich nicht … ):
    “Wenn ich entscheiden kann was ich über mich teile, dann sollen das nicht ausschließlich die negativen Aspekte von Autismus sein. Die kann man überall nachlesen.”

  9. Anna

    Hiermit möchte ich dir meinen Respekt für diesen Beitrag aussprechen. Er hat mir sehr gut gefallen.
    Seine Klarheit und seine Struktur regen zum Nachdenken an!
    Liebe Grüße, Anna

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