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In den letzten Jahren war eine wachsende Anzahl an Diagnosen innerhalb des autistischen Spektrums zu beobachten. Diesen Fakt kann man auf verschiedene Arten betrachten.
Eine Möglichkeit ist, in hoffnungslose Panik zu verfallen und eine Autismus-Epidemie heraufzubeschwören und das Ganze zur nationalen Krise im Gesundheitssystem zu stilisieren. Diese Betrachtungsweise empfiehlt sich besonders, wenn man in den USA beheimatet ist und dringend Geld sammeln muss, um Autismus bekämpfen zu können.
Eine etwas weniger panische Möglichkeit, die überall aus dem Nichts hervorspringenden Autisten zu erklären, ist es, das Ganze zu einer Modediagnose zu machen. Das sind ja ohnehin alles keine richtigen Autisten sondern nur diese weichgespülten. Da man das ja auch immer im Fernsehen sieht, ist Autismus ja gerade besonders cool. Jeder will doch Autist sein.
Vor kurzem über einem Jahr durfte ich hier einen Leserbrief veröffentlichen, der den von den Medien propagierten Mythos der Modediagnose demontierte. In den letzten Monaten stieß ich im Austausch mit anderen Autisten zunehmend häufiger in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf diesen Begriff.
So scheint es zum Beispiel so, dass irgendwo in Deutschland Diagnostiker sitzen, die Patienten erst einmal mit dem pauschalen Verdacht begrüßen, sie wollen nur Autisten sein, weil das grade “In” sei.
Ich erlebe Autisten, die zu ihrer Diagnose sagen, dass sie gestellt wurde, bevor Autismus modern war.
Gestern hörte ich zum zweiten Mal davon, dass die Reaktion des Umfelds auf die Diagnose ein “Ach, das wollen doch jetzt alle sein.” war.
Die Auswirkungen davon sind vielfältig. Selbst unter Autisten passiert es häufiger, dass Diagnosen angezweifelt werden. Anstatt Menschen, die den Verdacht haben Autist zu sein, dabei zu helfen, diesen zu be- oder widerlegen, wird zunehmend davon ausgegangen, sie seien nur scharf auf eine Diagnose.
Es gibt da noch eine weitere Möglichkeit, die wachsende Anzahl der diagnostizierten Menschen zu erklären, die sogar ganz ohne Panik auskommt.
Doch zuerst ein Hinweis vorweg:
Man wird nicht durch die Diagnose zum Autisten. Autist ist man schon vorher gewesen. So ziemlich sein Leben lang. Somit ist die Behauptung wir hätten immer mehr Autisten auf der Welt, keine Behauptung die man auf Grundlage irgendwelcher Diagnosezahlen machen kann.
Die meisten Menschen, die neu diagnostiziert werden, erhalten die Diagnose Asperger-Autismus. Diese Diagnose gibt es noch gar nicht so lange. In der ICD steht sie seit 1991. Im DSM seit 1994. Unter diesen Bedingungen scheint es plötzlich viel weniger merkwürdig, dass sich die Anzahl der Diagnosen in den letzten Jahren so rasant entwickelt hat. Besonders weil ein eigener Diagnose-Schlüssel noch lange nicht bedeutet, dass dieser auch sofort verwendet werden kann. Die meisten Asperger-Autisten, die eine Diagnostik durchführen ließen, oder durchführen lassen wollen, können bestätigen, dass es selbst nach über zwei Jahrzehnten immer noch nicht so ohne weiteres möglich ist, einen Arzt zu finden, der das nötige Wissen besitzt. Bis vor einigen Jahren konnten die meisten Psychologie-Studenten weder im noch nach dem Studium mit dem Begriff Asperger etwas anfangen, geschweige denn es erkennen.
Dadurch, dass sich dies in den letzten Jahren ändert und mehr Menschen in der Lage sind, Asperger-Autismus zu erkennen, werden naheliegenderweise auch mehr Menschen diagnostiziert.
Ein anderer Aspekt, der eine wachsende Diagnosezahl begünstigt, ist das in den letzten Jahren gestiegene mediale Interesse gerade an Asperger. Als ich begann, mich mit Autismus auseinanderzusetzen, kannte kaum jemand das Asperger-Syndrom. Das hat sich in den letzten Jahren massiv geändert. Ich kann nicht mehr pauschal davon ausgehen, dass kein Vorwissen vorhanden ist, wenn ich etwas erkläre. Wie richtig das Vorwissen ist, steht auf einem anderen Blatt …
Die meisten Autisten bemerkten durchaus, dass etwas bei ihnen anders ist, als beim großen Rest der Menschheit. Viele suchen nach Erklärungen dafür, finden aber selten etwas, was so wirklich gut passt. Dadurch, dass immer mehr Menschen zumindest schon einmal etwas von Asperger gehört haben, kommt es nun vor, dass die Autisten, die nach Ursachen suchen, öfter auf Asperger stoßen.
Nimmt man all diese Faktoren zusammen, ist es wenig überraschend, dass immer mehr Menschen die Diagnose Autismus bekommen. Dies in einem Ausmaß, dass es bei manchen Menschen Panik auslöst, sie werden von einer Welle Autisten niedergewalzt, oder dass sie anfangen, von Modeerscheinungen zu schreiben. Wahrscheinlich wird es sogar Menschen geben, die wirklich die Diagnose Autismus möchten, ohne Autist zu sein, aber das macht längst nicht alle Autisten zu einem Trend.
Danke für diese zutreffenden Ausführungen! Der Vorwurf der Wunsch-Modediagnose ist mir erst vor wenigen Tagen auch gemacht worden und hat mich sehr betroffen gemacht… ich warte im Moment auf den Diagnostik-Termin und gehöre definitiv nicht zu dem Teil der Bevölkerung, die einfach mal eine coole Diagnose haben wollen. Es ist genau wie du schreibst, ich merke schon lange, dass ich nicht bin wie alle anderen und würde so gerne wissen, was mit mir los ist. Um einen guten Weg zum Umgang damit zu finden. Um keine Zeit mit der sinnlosen Therapie einer Fehldiagnose zu vergeuden…
Mir fehlt einfach das Verständnis dafür, warum sich Menschen anmaßen, auf diese Art über andere zu urteilen. Es ist doch rein logisch betrachtet anzunehmen, dass jemand, der sich mit der Möglichkeit einer solchen Diagnose befasst, in einer schwierigen Situation befindet und zeugt sicherlich nicht von der eigenen sozialen Kompetenz, demjenigen mit dem Vorwurf einer Modediagnose zu begegnen.
Vor der Diagnose saß ich alle zwei, drei Jahre wegen Depressionen und Angststörungen beim Arzt und ich weiß nicht wie lange ich noch hätte so weiter machen können. Seit der Diagnose habe ich viel erreicht, weil ich gelernt habe mit Asperger zu leben.
Immer wenn jemand von Modediagnose redet, zuckt meine rechte Hand und möchte dringend in ein Gesicht. Fest.
Vielen Dank für diesen schönen, sehr treffenden Artikel. Das entspricht genau meinen eigenen Überlegungen zum Thema „Modediagnose“. Die „Gatekeepermentalität“ mancher, die die Diagnose schon länger haben, finde ich einfach nur erschreckend. Damit „spielen“ sie gerade Kreisen „in die Hände“, die nicht daran interessiert sind, dass intelligente Erwachsene, die für sich selbst sprechen können, eine Autismusdiagnose bekommen. Umso wichtiger, dagegen zu argumentieren.:)
In meinem Text bezog ich mich hauptsächlich auf Diagnostiker. Ich kenne keinen Autisten, der über die Qualifikation verfügt Diagnostiken durchzuführen. Welchen Grund Autisten dafür haben sollten anderen die Diagnose abzusprechen wüsste ich nicht.
Ich vermute die Kausalität eher anders herum, dass das Gerede über eine angebliche Modediagnose Missrauen, auch bei Autisten, auslöst.
„Ich kenne keinen Autisten, der über die Qualifikation verfügt Diagnostiken durchzuführen. “
Ich auch nicht. Es gibt aber einige, von denen ich den Eindruck haben, sie sehen sich selbst als die besseren Diagnostiker (und die dies zum Teil offen postulieren). Bittet man dann darum, kurz zu beschreiben, woran derjenige denn festmacht, dass er es beim Gegenüber mit Autismus oder sonstigen Störungen aus dem ICD-Baukasten zu tun hat, wird man zumeist wenig Verwertbares erhalten.
Über die Motive der Laiendiagnostiker kann man nur spekulieren. Verteilungskämpfe im Angesicht knapper Ressourcen erscheinen mir als wahrscheinlichste Erklärung.
Beteiligen mag ich mich an solcherlei Sachen nicht. Gerade die Beantwortung der Frage, ob ein Hilfsbedarf zu bejahen oder aber zu verneinen ist, ist mit einer immensen Verantwortung verbunden, die die „Hobby“-Diagnostizierer nicht zu tragen haben. Aus dieser Position heraus argumentiert es sich selbstredend sehr bequem.
Wenn ich richtig gehe, verstehst du unter Laiendiagnostikern Asperger-Titulierte, die sich herausnehmen, an anderen Arzt zu spielen? Denn wie sich jemand selbst einschätzt, ist ja wohl dessen eigene Angelegenheit.
Ich persönlich halte das ganze klinische Konzept Asperger wie auch alle anderen Autismen und das Autismusspektrum für ein Artefakt, das die teils medizinischen, teils gesellschaftlichen Tatsachen dahinter nur ungenügend beschreibt, das jedoch nicht wenigen hilft, ihr Leben besser zu bewältigen. Wenn es mir eher geschadet hat, so lasse ich mir gleichwohl nicht verbieten, das so zu sagen.
„Ich vermute die Kausalität eher anders herum, dass das Gerede über eine angebliche Modediagnose Missrauen, auch bei Autisten, auslöst.“
Meiner Vermutung nach kann der Einfluss in beide Richtungen gehen. Wenn Autisten, also „Selbstbetroffene“ in Internetforen in rhetorisch geschickter Weise argumentieren, dass sie Autismus für überdiagnostiziert halten, kann das durchaus auch auch bei „Profis“, für die Autismus nicht ihr Hauptarbeitsgebiet ist (also etwa Lehrer, Therapeuten, Sozialpädagogen, aber auch Psychologen und Psychiater, die sich nicht speziell mit Autismus auskennen) die Wirkung haben, das Bild von der „Modediagnose“, die nur in sehr, sehr wenigen Fällen wirklich zutrifft, aufrecht zu erhalten.
„Über die Motive der Laiendiagnostiker kann man nur spekulieren. Verteilungskämpfe im Angesicht knapper Ressourcen erscheinen mir als wahrscheinlichste Erklärung.“
Ja. Auch bei manchen „Profis“ ist dies ja ein Motiv, das Spektrum „klein halten“ zu wollen, was ich persönlich äußerst problematisch finde.
Bei den autistischen „Laiendiagnostikern“ scheint mir teilweise zudem der Wunsch nach Exklusivität und Abgrenzung von Menschen, die psychische Probleme haben, eine Rolle zu spielen.