Sabine Kiefner – Was Autismus für mich bedeutet

Ich – eine Autistin? Niemals.
Abwehr – das war vor zwei Jahren meine unmittelbare Reaktion auf den ersten in einem Gespräch geäußerten Verdacht.

Doch der Gedanke setzt sich in meinem Kopf fest.
Gibt dieses Wort „Autismus“ meinem Anderssein nach 47 Jahren endlich einen Namen?
Ist es das, wonach ich seit meiner Kindheit bisher vergeblich gesucht habe?
Ein einziges Wort, als Erklärung dafür, dass ich zu keinem Zeitpunkt in meinem bisherigen Leben verrückt, sondern lediglich autistisch gewesen bin?
Je intensiver ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetze, desto dringender wird der Wunsch danach, endlich Gewissheit zu haben.
Nach zahlreichen Tests und ausgefüllten Fragebögen zähle ich am Ende die Stunden bis zu meinem Diagnosetermin.
Ich zähle gerne. Zählen macht das Warten erträglicher, weil es die Zeit eingrenzt.

„Sie haben das Asperger-Syndrom.“
Immer und immer wieder spreche ich diesen Satz leise vor mich hin.
Ich bin so erleichtert, dass ich meine Hände kaum stillhalten kann.
Endlich weiß ich, wer ich bin.
Ich werde mich nicht mehr verstecken, nicht mehr jeden Morgen in die Rolle eines Menschen schlüpfen müssen, der ich nie war, nur um nicht aufzufallen.
Ich darf endlich Ich sein.
Mein Innensein wird diesen Kokon endlich verlassen können, der mich immer vor dem Außen beschützt hat. Ich werde frei sein, mich nie mehr selbst verleugnen müssen.

„Du warst aber doch früher nicht so.“
Ich zu sein bedeutet plötzlich auch, meinem vertrauten Umfeld fremd zu sein.
Das Anderssein existiert nun nicht mehr nur in meinem Innensein, sondern auch in der Außensicht. Es wird offensichtlich und führt zu einem ständigen Missverstehen.
Daraus resultierend ziehe ich mich immer häufiger zurück in den schützenden Kokon meines Innenseins. Nur dort kann ich sein, wer ich wirklich bin, ohne mich erklären oder ständig anpassen zu müssen. An die Stelle der Erleichterung unmittelbar nach der Diagnose ist eine Erschöpfung getreten. Der Alltag überfordert mich. Mir wird bewusst, wie viel Kraft die jahrelange Anpassung gekostet hat. Mein Verhalten wird autistischer als es je zuvor war.

Ich brauche Unterstützung, weil es Dinge gibt, die ich alleine nicht schaffe – eine Entscheidung, die mir nicht leichtfällt und die von meinem Umfeld überwiegend mit Skepsis und Unverständnis zur Kenntnis genommen wird. Schließlich sei ich doch bisher auch ohne Hilfe zurecht gekommen. Das stimmt nur bedingt. Ohne die ständige Unterstützung meiner Eltern, die mir die notwendige Sicherheit gegeben hat, wäre ich sicher schon viel früher an meine Grenzen gestoßen und an der Bewältigung alltäglicher Aufgaben gescheitert.

Der Autismus schränkt mich ein.
Das macht ihn zu einer großen Herausforderung, der ich mich jeden Tag neu stellen muss. Ich kann ihn nicht einfach einmal für ein paar Stunden ablegen wie ein Kleidungsstück. Aber das will ich auch gar nicht.
Durch die Diagnose habe ich endlich eine Identität bekommen – mein autistisches Ich, welches so lange tief in mir versteckt war und nicht sein dürfte, weil es damals keine Erklärung dafür gab. Heute will es oft mit einer solchen Vehemenz aus mir heraus, das ich es nicht aufhalten kann und es mich einfach überrennt. Dann lasse ich es zu.
Ich verstecke mich nicht mehr.

Ich bin Autistin und ich bin froh, endlich Ich sein zu können.


Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus“.

Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du in diesem Artikel.

Sabine Kiefner betreibt selbst ein Blog in dem sie Autismus aus ihrer Sicht schildert und ist auch auf Twitter zu finden.

11 thoughts on “Sabine Kiefner – Was Autismus für mich bedeutet”

  1. Fieda

    Danke für diesen Beitrag!

    Ich habe das Asperger Syndrom kennengelernt, als mit 39 ich „für meine Tochter“ auf der Suche war. Das war letzten Sommer. Eine „offizielle“ Diagnose für mich habe ich nicht (für meine Tochter sind wir dran), aber die Schritte Erleichterung mit anschliessender Erschöpfung und „Verstärkung“ des Aspietums kann ich für mich voll bestätigen. Nach der unglaublichen Freude und Erleichterung über die Erklärungen meines vielfältigen Andersseins kam die Realisation, dass ich nun zwar weiß, „warum …“ – sich damit aber nicht wirklich viel ändern wird. Anfänglich wurden mir natürlich alle Züge auch viel bewusster, weil ich ja sämtliche Literatur zum Thema nur so verschlungen habe. Ständig meldet sich nun eine kleine Stimme, die mir anzeigt: Schau, da ist es wieder deutlich … Wie sich mein Leben nun mit diesem Wissen entwickelt, bleibt abzuwarten.

    1. Kiefner Sabine

      Wie sich mein Leben mit dem Wissen entwickelt?
      Ich lebe bewusster seit der Diagnose, weil ich mich kennenlernen möchte. Daher auch die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in meinen Texten. Auf jeden Fall führe ich nun ein Leben ohne permanenten Anpassungsdruck und mit der Unterstützung, die ich benötige, um meinen Alltag besser bewältigen zu können. Mittlerweile halte ich Vorträge über Autismus – eine Aufgabe, die mir – trotz der großen Herausforderung – sehr wichtig ist und die meiner Zukunft eine neue Perspektive gibt.

    1. Kiefner Sabine

      Danke für dein Kompliment, Querdenkender. Als ich den Beitrag schrieb, war mir gar nicht bewusst, dass er sehr emotional ist. Das geht mir allerdings häufig so, dass ich Gefühltes, welches ich nach Aussen transferiere, gar nicht auf die Weise wahrnehme, wie Aussenstehende dies tun.

  2. Petra

    Vielen Dank für Deinen Beitrag. Genau das erlebe ich gerade bei meinem Mann – er wird mir immer fremder. Und das nach fast 10 Jahren Ehe. Aber er hat jetzt auch die Diagnose. Die Phasen vorher und nachher waren – soweit ich es beurteilen kann – genauso wie bei Dir. Das Problem: Die Umwelt versteht es nicht. Und ich? Ich bin so „verrückt“ und trenne mich jetzt nicht einfach von ihm, weil er jetzt so viel autistischer ist. Verstanden wird das von sehr wenigen, zumal es mich auch sehr viel Kraft kostet. Aber für mich ist Trennung keine Lösung. Ich bin sicher es gibt einen neuen gemeinsamen Weg, wir müssen den nur finden. Und da wir ihn beide suchen wollen, gebe ich nicht auf. Egal wie viele Leute der Meinung sind, ich sollte es besser tun.

      1. Petra

        Danke Dir. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich jeden Zuspruch sehr brauche, denn die Umwelt (oder besser gesagt die NA-Umwelt!), begreift es einfach nicht. Es ist nicht nur der Kampf „innen“, um wieder etwas Beziehungsmäßiges aufzubauen, sondern auch noch der Kampf nach außen. Und den können wir derzeit nicht mal gemeinsam, sondern nur getrennt kämpfen, weil uns die gemeinsame Basis im Moment fehlt. Und es ist einfach keiner da, der uns helfen oder raten könnte. Es scheint so, als wollten wir einen Weg mitten durch den dichtesten Dschungel finden, den bisher noch kein Mensch betreten hat. Bei jedem Schritt können wir auf eine lebengefährliche Schlange treten oder im Sumpf versinken oder sonst was. Ich glaube für sowas muss man schon ein Stück weit verrückt sein. 😉

    1. Kiefner Sabine

      Petra, ich finde es sehr gut, dass du deinen Mann in der schwierigen Situation unterstützt. Ich weiß, dass das offensichtlich nicht selbstverständloch ist. Für mich war es so wichtig, dass meine Freundin in der Zeit immer für mich da war. Ohne ihr Engagement hätte ich vermutlich bis heute keine Diagnose, weil sie es war, die den Fachleuten die Dringlichkeit verdeutlicht hat und viele Temine für mich organisiert und mich dorthin begleitet hat.
      Auch heute hilft sie mir, in dem sie mich zu wichtigen Gesprächen oder bei meinen Vorträgen begleitet. Das gibt mir sehr viel Sicherheit.

  3. Mike

    Hallo Sabine, ich bewundere deine Art und das Umgehen mit dem Phänomen Autismus. Für mich ein ganz spezielles Thema, mit dem ich mich seit Jahren sehr intensiv beschäftige. Habe natürlich auch beruflich damit zu tun.
    Werde demnächst noch ausführlicher reagieren und mir deinen Blog noch genauer ansehen
    Ich wünsche dir alles Gute und weiterhin deinen Stolz auf Dinge, die vielen menschen mit Autismus nicht zugetraut werden
    Herzliche Grüße
    Mike

    1. Kiefner Sabine

      Hallo Mike, danke für deine Worte. Mehr kann ich Moment gar nicht schreiben (Komplimente machen mich immer wortlos) – außer, dass ich mich natürlich auch über ein Feedback von dir zu meinem Blog freue.

      Herzlichen Gruß, Sabine

  4. Daniela

    Hallo Sabine, durch diesen Beitrag hier bin ich auf deinen Blog gekommen und habe unzählige Dejavus gehabt.
    ich finde es ungeheuer bewegend Beschreibungen von Aspergern zu lesen, denn die ganze Zeit hab ich das Gefühl das ich endlich Menschen gefunden habe, die genauso empfinden und reagieren wie ich. Und ebenfalls gezwungen wurden ihr eigentliches Ich ein Leben lang zu verstecken.
    Wie oft ich in meinem Leben die Sätze „Stell dich nicht so an“ Und „Du mußt endlich deinen inneren Schweinehund überwinden“ bzw „Das bildest du dir alles nur ein“ – „verhalt dich doch endlich mal normal“ etc gehört habe kann ich gar nicht zählen…
    Mir ist AS erst durch die gerade abgeschlossene Diagnostik bei meinem Sohn begegnet und bemühe mich jetzt um eine eigene Diagnose.
    Vielen, vielen Dank für deine Veröffentlichungen, die mir sehr die Augen öffnen.
    Liebe Grüße, Daniela

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