„Können Sie es?“ ist die Einstiegsfrage des Artikels von Hannah Rosin in der ersten Ausgabe des neuen Formats „Stern Crime“. Ich habe sie mir in Essen am Hauptbahnhof gekauft, obwohl – oder grade weil – ich mir denken konnte, was mich beim Lesen erwarten würde. Aufmerksam wurde ich in einer zweiseitigen Vorschau auf das Magazin, in welcher unter anderem der Titel dieser Geschichte abgedruckt wurde:
Amerika kann Kelli Stapleton nicht vergeben, dass sie versuchte, sich und ihre autistische, gewalttätige Tochter umzubringen.
Können Sie es?
Auf zehn Seiten widmet sich der Stern nun Kelli Stapleton und ihrer Geschichte. Wohlgemerkt nicht der Geschichte ihrer Tochter. Diese setzt damit ein, dass Issy, so der Name der Tochter, von ihrem ABA-Intensivtraining, spezialisiert auf Aggressionen, bei dem sie mit Wertmarken für angemessenes Verhalten belohnt wurde, nach Hause zurückkehrt. Als Issy bei ihrer Rückkehr ihre Mutter schubst, zerstört sie damit Kellis Hoffnungen auf ein normales Leben ihrer Tochter. Unter anderem „einem, in dem sie nicht mehr jeden Augenkontakt mit Issy vermeiden musste“. Nachdem weitere Aggressionen folgen, entschließt Kelly sich, gemeinsam mit ihrer Tochter in den Wald zu fahren und beide dort mit Kohlenmonoxyd zu vergiften. Beide überleben.
Ich möchte an dieser Stelle nicht über die Mutter urteilen. Diese Aufgabe übernahm ein Richter. Was mich an diesem Artikel mehr trifft als der eigentliche Inhalt, ist die Art, wie diese Geschichte erzählt wird. Die Geschichte der Mutter, die ihr Kind töten wollte, und nicht die Geschichte ihrer Tochter. Die bleibt über den gesamten Artikel hinweg reduziert auf die Rolle der gewalttätigen Autistin, die trotz ihrer in höchstem Maße aufopferungsvollen Mutter einfach nicht aufhört autistisch und gewalttätig zu sein, wobei sich der Eindruck aufdrängt, dass für die Autorin diese beiden Begriffe wohl untrennbar miteinander verwoben sind. Über den gesamten Artikel hinweg ist Kelli ein Opfer der Umstände, der jede Hoffnung abhandengekommen ist. Während ihre gewalttätige autistische Tochter sie verprügelt.
„Vor 40 Jahren wären Kinder wie Issy in einer Anstalt gelandet. Heute werden sie in die Gesellschaft integriert. In der Praxis heißt das aber, dass fast alles den Eltern überlassen wird. Und aggressive autistische Kinder sind während der Pubertät immer schwerer zu kontrollieren. Sie entwickeln gewaltige, von Adrenalin getriebene Kräfte.“
Man kommt nicht umhin, beim Lesen solcher Abschnitte das Bild tausender wehrloser Eltern vor Augen zu haben, die vom Staat dazu verdammt werden, ihren monströsen Kindern hilflos ausgeliefert zu sein. Und man kommt nicht umhin, Mitgefühl für Kelli zu entwickeln. So dass viele Leser die Eingangsfrage nach der Vergebung wohl eindeutig bejahen würden. Inklusive einer diffusen Angst vor den vielen autistischen Kindern, die oft in Rage geraten und gewalttätig werden.
Wüsste ich es nicht besser, ich hätte Verständnis dafür. Und ich hätte Angst vor Autisten.
Doch dieser Artikel hätte keine herzbrechende Geschichte über eine Mutter, die unter ihrer gewalttätigen Tochter leidet, werden müssen. Er hätte auch ein Artikel werden können über eine Mutter, die von der falschen Illusion auf wundersame Heilung getrieben ihre gesamte Energie in ABA investiert. Einer Mutter, die den gesamten Tagesablauf ihrer Tochter mit Lernen durchplante und ihre anderen beiden Kinder dafür immer wieder zurückstellte. Einer Mutter, die von der Hoffnung auf eine wundersame Heilung ihrer Tochter getrieben wurde. Einer Mutter, die letzten Endes durch alle diese irrationalen Hoffnungen unter dem ausbleibenden Erfolg und einem roboterhaft sprechenden Kind zerbricht. Auch dieser Faktor kommt im Artikel vor. Doch dass mit der Hoffnung auf Heilung, wie ABA sie propagiert, der Grundstock für diese Tragödie gelegt wird, klingt mehr zwischen den Zeilen durch. In den Zeilen bleibt die Beschreibung einer Mutter, die in einem Mord die einzige Rettung für sich und ein gewalttätiges autistisches Kind sieht.
All das ist dieser Artikel nicht geworden. Stattdessen transportiert er ein Bild von Autismus, bei dem Mord an einem Kind eine legitime Lösung für ein Problem scheint. Und das kann ich der Autorin nicht vergeben.
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trauriger Fall.
Im Grunde Zustimmung, nur Mord ist hier tatsächlich die falsche Terminologie. Wenn es ein erweiterter Selbstmord sein sollte, dann muss man das der Richtigkeit halber auch so nennen. Mord ist ein heimtückisch geplantes Verbrechen aus niederen Gründen, das kommt hier bei dieser Fallbeschreibung sicher nicht zusammen.
Genauso wie die berechtigte Forderung den Background besser zu beleuchten und zu verstehen und über Aba nachzudenken und den falschen Versprechungen, die durch eine solche angepriesene Therapie immer wieder gemacht werden.
Es stimmt, es darf nicht nur um die Interessen der Mutter gehen. Um ihre Kränkung, Enttäuschung, die Verwirrung durch die Hoffnung auf Heilung durch eine Therapie, die nicht funktionieren muss. Warscheinlich wurde viel versprochen, aber wenig gehalten, wie das beim Vermarkten aller Dinge so oft der Fall ist.
Trotzdem darf man nicht vergessen, das da eine Mutter zusätzlich zu der extremen Situation ein behindertes Kind bekommen zu haben, ein Kind hatte, das extrem schwierig war und das gesamte Leben durcheinander brachte. Eine Frau, die sich monatelang auf das Kind freute. Eine Person, die auch nur Gefühle der Liebe für ihr Kind hegte. Aber irgendwann am Ende der Kräfte zwischen Depression, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit dann tatsächlich zu einen Schritt überging, der nicht so leicht nachvollziehbar ist.
Aber er ist nachvollziehbar. Genauso wie auch nachvollziehbar ist, das die meisten autstischen Menschen die Partei des geschundenen Autisten ergreifen möchten, sich selbst in der Rolle der kleinen Tochter sehen ,die als Autistin gequält wurde durch falsche Versprechungen einer Therapieform wie ABA. Da gibts noch andere Methoden vom Festhalten bis hin zu aggressivem Zwang. Natürlich ist der Autist hier befangen, weil er das Leiden kennt, das mit dem Ausgesperrt-Sein, dem Anders-Sein und dem Nicht-Angenommen werden immer wieder aufkommt.
Trotzdem darf man nicht dem Autisten die Fairness zubilligen, der NT-Mutter diese aber verwehren. So wenig wie die Tochter für ihren Autismus konnte, so wenig konnte die Mutter für ihren Schritt. In der Depression kommt Selbstmord sehr sehr häufig vor. Erweiterter Suizid ist dabei meistens der Wunsch, das Gemeinsame zu erhalten und weder die Anderen alleine zu lassen, noch selbst alleine zu gehen. Es spricht mehr für Verbindendes als für Trennendes – und das ist etwas das man von einer Mutter – oder auch Vater – dann wieder gewohnt ist.
Welche Motive letztlich wirklich zur Tat führten, wissen wir nicht. Die Annäherung meiner Überlegungen für diesen Fall muss jeder für sich überprüfen.
Vorsichtig muss man sein nur für die Mutter oder nur für die Tochter Partei zu ergreifen. Am Ende ergreift so mancher vielleicht nur Partei für Autismus und ignoriert dabei, wie Issy tatsächlich war. Sie hat ihre Mutter nach Auskünften eines Ex-Mannes sogar geschlagen, das eine Krankenhausbehandlung nötig wurde.
Es heißt auch, das ein Psychiater feststellte, das die Mutter bipolare Störung hat und unter PTBS leidet.
Alles zusammengenommen klingt das nach dem typischen Aburteilen einer Mutter, die Ihr Kind irgendwie vergisst. Aber nicht weil sie es verdient hätte, sondern mehr weil die Gesellschaft sich von Menschen die solche Fehler machten weit distanzieren will.
Am Ende ist das ein Teil der Distanzierung, die jeder Autist auch kennt und weshalb die Andersartigkeit des Autisten selbst zu den Problemen führt, wieso die Gesellschaft mit ihm nicht richtig umgehen kann und sich distanziert.
Diese Distanz wird auch auf diese Art Mütter angewendet. Man will mit der „kranken“ nichts zu tun haben. Mit der „Mörderin“ und fragt nicht wirklich nach den Motiven und Umständen der Taten und will sich keinesfalls emphatisch geben mit „so jemandem“.
Am Ende ist das eine Entscheidung, die jeder selbst trifft.
Natürlich müssen auch all diese Faktoren berücksichtigt werden. Wie ich bereits schrieb ging es mir aber garnicht darum über die Mutter zu urteilen. Wie bei dir deutlich wird ist die Situation tatsächlich extrem komplex und vielschichtig, so dass ich mich auf das Problem des Artikels beschränkt habe, der im Rahmen dieser hochkomlexen Situation eine der eindimensionalsten und schädlichsten Betrachtungsweisen die man wählen konnte gewählt hat.