Mein Autismus ist mein persönliches Überraschungsei. Ich war mit seiner Tatsache von einem Tag auf den anderen konfrontiert, und muß seither mit ihm klarkommen. Dabei stelle ich immer wieder Eigenheiten fest, die mir vorher nie aufgefallen waren. Ich weiß erst jetzt, daß ich keine Gesichter erkennen kann. Die meisten Leute erkenne ich wohl an der Frisur oder dem Verhalten wieder oder daran, wo sie mir begegnen. Das bedeutet, ich grüße vorsorglich halbbekannte Leute, und ich muß die Augen aufhalten, um niemanden zu übersehen. Passiert natürlich trotzdem, weswegen ich als unnahbar oder arrogant gelte. Ebenso brauch ich manchmal lange, um soziale und Gesprächskontexte einzuordnen, vor allem, wenn mich Themen und Anfragen überraschen. Ich muß dann oft unbeteiligt oder verständnislos aussehen, auch deswegen gelte ich als unnahbar und arrogant. Meine lange Reaktionszeit hat mir schon viel Ärger eingebracht. Ich steck den Ärger nicht immer gut weg, hab doch ich immer den Schwarzen Peter: ich bin ja anders als die Mehrheit, ich muß mich anpassen. Die Fremdheit ist ein bestimmendes Gefühl, auch das nicht-Verstehen von feindseligen Reaktionen anderer. Das ständige Verkannt-werden und Mißverstanden-werden. Das ist manchmal fast traumatisierend.
Für andere überraschend ist oft, daß ich in meinem Inneren sehr emotional bin und viele Schwingungen spüre, auch feinste. Ich kann sie schnell rationalisieren, ich muß auch, sonst würde ich zusammenbrechen. Aber die Diskrepanz von „weichem“ Kern und „harter“ Schale bedeutet halt auch, daß mir von meiner Umwelt oft mehr zugemutet wird, als gut wäre. Ich habe so gelernt, lange durchzuhalten.
Mein Autismus verlangt mir ein ständiges Aufpassen ab. Ich bin befangen mit Anderen geworden, immer überzeugt, selbst falsch zu sein. Manchmal türmt sich ein hübsches Schuldkonto bei mir auf, bis ich es wieder abschüttle wie ein Hund sich Wasser aus dem Fell schüttelt.
Autismus heißt für mich auch, eine Doppelexistenz zu führen: nicht alle sollen davon wissen, zu groß die Angst, mir selbst beruflich und sozial zu schaden.
Im Alltag ist mein Autismus oft wie ein Minenfeld: er nimmt mir die Kontrolle über viele soziale Situationen. Ich kann mir nie sicher sein, wann ich jemanden verärgere, wann jemand plötzlich genug von mir hat, wann ich mich trotz meiner Mühen daneben benehme.
Andererseits habe ich gelernt, autark zu sein und flexibel. Geht das eine schief, versuche ich halt das andere. Was logisch und machbar ist, wird versucht. Ob „man“ das macht, ist zweitrangig. Es ist unglaublich befreiend, sich auf sein eigenes Urteil verlassen zu können und immer einen Plan B zu haben, improvisieren zu können. Ich habe mich selten mit einer Entscheidung vertan.
Schade ist, daß ich durch den Autismus zu ängstlich bin, meine Umgebung zu verlassen und auf Menschen zuzugehen: ich würde gerne viel mehr Menschen, andere Leben, andere Länder kennenlernen. Gott sei Dank, virtuell gibt es etwas Ersatz dafür.
Insgesamt gesehen, hält mich mein Autismus in einer Art Geiselhaft. Manchmal wär ich lieber frei, meistens aber leide ich am Stockholm-Syndrom: ich passe mich an und manchmal liebe ich ihn auch, diesen meinen „Autismus“.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus in 500 Worten“.
Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du auf dieser Seite.
Nathalie ist Mutter von drei Kindern und im medizinischen Bereich tätig. Erst als ihre Kinder mit Asperger diagnostiziert wurden, wurde ihr selbst ihre Diagnose bewußt. Seither setzt sie sich intensiv mit dem Thema auseinander
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