Auf meiner Liste stehen Duschgel und Zahnseide. Wenn ich die Dinge heute noch besorge, muss ich morgen nicht aus dem Haus. Einen oder mehrere Tage nicht aus dem Haus gehen zu müssen ist das oberste Ziel. Es ist unglaublich laut im Geschäft, das Stimmengewirr übertönt die Musik aus meinen Kopfhörern. Man rempelt, schubst, schiebt. Gegen mich, an mich. Ich will mich schütteln und schreien. Was wollte ich? Der Zettel. Mit der Liste. Das Regal verschwimmt vor meinen Augen. Wo ist das Produkt, das ich immer kaufe? Ich sehe, doch das Gehirn verarbeitet diese Informationen nicht mehr. Meine Hände verkrampfen sich, die Kiefer mahlen schmerzhaft. Atmen. Konzentrieren. Ich greife blind in die Produkte, renne zur Kasse, erzwinge ein Lächeln und stürme aus dem Geschäft.
Zu Hause merke ich, dass ich das Falsche nahm.
Ich bin Autistin. Mit Situationen wie dieser bin ich beinahe täglich konfrontiert. Manche sind leichter. Manche sind schlimmer. Ich wünsche mir eine Schutzblase als Lebensraum, abgeschottet und sicher. Meine Schutzblase ist im Moment aber nicht mehr als ein Stück nasse Pappe, das ich verzweifelt vor mich halte. Ja, ich komme nicht sonderlich gut zurecht, nehme das aber meist mit Humor und einer Menge Sarkasmus. Wenn es ganz brenzlig wird, steht mir eine Person zur Seite, die mich bei komplizierten und beängstigenden Aufgaben unterstützt, der Alltag und das Berufsleben wollen jedoch allein bezwungen werden. Mein Autismus ist keine Krankheit. Es ist eine neurologische Variation, die sich in etwa so äußert, als müsse man in Skikleidung schwimmen.
Aber ich habe nicht nur Defizite. Wenn mein Interesse geweckt ist und ich ausreichend Kraft habe, gehe ich völlig in einem Thema auf. Ich habe beispielsweise eine kleine Obsession für Worte. Ich liebe, wie sie aussehen, sich schreiben, wie sie sich anhören. Ich möchte sie alle verwenden, mit ihnen spielen und sie nutzen, um mich mitzuteilen, auch wenn Kommunikation kompliziert ist. In jeder Situation. Was auch der Grund ist, warum sich private Kontakte auf ein Minimum beschränken. Nicht, dass es mich belastet, ich habe nicht das Bedürfnis danach. Doch das Mysterium „Freundschaft“ würde ich schon gern verstehen und sogar umsetzen können.
Ja, im Großen und Ganzen bin ich glücklich. Ich habe so viel. Eine wundervolle Wohnung, in die ich mich zurückziehen kann, eine Arbeitsstelle, die mich zwar oft an meine Grenzen bringt und enorm stresst, in der ich aber nur in Teilzeit arbeiten muss, Familie und einen Partner, die hinter mir stehen und das Internet, das mich mit Leuten verbindet, mit denen das Kommunizieren mehr ist als ein Spaziergang durch ein Minenfeld.
Mein Autismus war mir verhasst, als ich noch nichts von ihm wusste. Er hat mich stets ins Aus gestellt, mich anders sein lassen und mich zynisch und bitter gemacht. Seit ich ihn kenne und verstehe, mich verstehe, ist das Leben nicht unbedingt leichter, jedoch viel angenehmer. Zurückblickend stelle ich fest, dass ein großer Teil meines Lebens aus Unsicherheit und Scham besteht, unglaublich viele Erinnerungsklumpen, die ich fein säuberlich in geistige Regale geordnet habe. Nun habe ich eine Diagnose, was mir die Möglichkeit gibt, jeden dieser rot glühenden Brocken genau anzusehen und aufzulösen. Und sind die Regale dann leer, fülle ich sie mit Schönem.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus in 500 Worten“.
Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du auf dieser Seite.
Outerspacegirl ist Ende 20. Wenn sie nicht gerade überlebt, twittert und bloggt sie.
Hallo,
in diesem Beitrag erkenne ich mich genau wieder und bin überrascht, wie viele Übereinstimmungen ich finde.
Was das Rausgehen angeht, geht’s mir z.B. genauso und auch die Spielerei mit Wörtern, wie Anagramme, Wortspiele allgemein, verdrehen des Sinns von Sätzen ist mir eine Freude. Ebenso fällt mir das Reimen sehr leicht und die Wörter sind plötzlich einfach da.
In Geschäften kaufe ich auch mal eben das Falsche, nur um schnell aus dem Gewühl von Menschen, das vermeintliche „Drängeln“ hinter einem und der Druck, man stört jemanden, zu entgehen. Zurück in meiner Schutzatmosphäre, dem Auto oder der Wohnung, schwindet die Anspannung.
Eine Diagnose habe ich nicht, erwähne ich die bloße Vermutung in meinem Umfeld, zeigt man mir einen Vogel (nicht im wörtlichen Sinn, wo wir wieder bei der Sprachspielerei sind 😉 ).
Offenbar habe ich mich der Umwelt ausreichend angepasst, so dass ich nicht auffalle. Ich stehe aber trotzdem unter ständigem Stress, habe ein Gedankenchaos und würde die Welt am liebsten nur anschreien, dass sie mich in Ruhe lässt.
Die Möglichkeit besteht, wenn ich mir meine Vergangenheit und die Gegenwart betrachte und auch, da mein ältester und mein jüngster Sohn als F84.5 diagnostiziert wurden.
Vielen Dank für den Artikel. Ich freue mich über weitere.
Grüße, C.
Hallo,
mir geht es genauso, ich liebe Wortspiele, Reime, das Schreiben an sich. Und habe auch diesen Fluchtinstinkt bei Menschenmassen. Im Supermarkt besonders, aber auch Klamotten kaufen oder ein unbekanntes Lokal aufsuchen. Letzteres ist auch schon öfters gescheitert, wenn mich die Reizüberflutung übermannt hat.
Danke für den schönen Text.
Gruß,Y.