Grenzwertbetrachtung

Ich könnte an dieser Stelle mit meiner Bildung angeben und mir hochtrabende Zitate über das Überschreiten des Rubikon zusammengooglen. Ich kann aber auch einfach so einen Text über die eigenen Grenzen zu schreiben.

Jeder Mensch hat Grenzen, aber nicht jeder Mensch ist sich dieser Grenzen auch bewusst. Bis ich mir meiner Grenzen wirklich bewusst wurde, verging nach meiner Diagnose noch einige Zeit. Und noch länger, bis ich in der Lage war, meine Grenzen auch zu berücksichtigen. Das bekamen in meiner Jugend vermutlich am meisten meine Eltern zu spüren, wenn ich über den Tag so viel Energie in Schule und Ehrenamt aufgewendet hatte, das nicht mehr genug Konzentration dafür übrig war, mit ihnen einigermaßen klarzukommen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass vermutlich die Schule allein ausgereicht hätte, um mich auszulasten. Das wurde auch nur bedingt besser, nachdem ich zu lernen begann, mehr Rücksicht auf meine eigenen Bedürfnisse zu nehmen. Zwar hatte ich in der Schule die Möglichkeit, mir eine ruhige Ecke zu suchen, aber die Schule an sich stellt genügend Anforderungen, denen man nicht entgehen kann. Zumindest nicht, wenn man in irgendeiner Weise an  einigermaßen erträglichen Noten interessiert ist. So oft, wie ich mit Eltern schon diskutierte, warum ihre Kinder ausflippen wenn sie nach Hause kommen, obwohl es in der Schule doch ging, scheint die Schule allein schon in der Lage zu sein, die Grenzen von vielen Autisten zu überschreiten.

Nun lernte ich irgendwann, dass ich Grenzen habe und es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, auf diese dann auch mal Rücksicht zu nehmen. Noch dazu lernte ich irgendwann auch “Nein” zu sagen und nicht immer jedem ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu helfen. Ich lernte meine Kräfte so aufzuteilen, dass ich damit über den Tag komme und der Streit wurde weniger. An dieser Stelle könnte ich den Blogpost schließen, aber irgendwie bin ich nicht in der Stimmung für künstliche Happy Ends. Das Problem ist, dass diese Grenzen keine harten Mauern mit Stacheldraht davor sind. Vielmehr sind es mehrere Grenzen, die unterschiedlich  schwer zu überwinden sind. Aber keine dieser Grenzübertritte bleibt folgenlos.

Überwindung fängt schon an, wenn ich die Wohlfühlgrenze überschreite. Das kann  mitunter durch  ganz unterschiedliche Situationen geschehen, wie zum Beispiel das Einkaufen in einem überfüllten Supermarkt. Unter idealen Bedingungen, mit Sonnenbrille, guten Kopfhörern und einem geringen Anteil an Interaktionsbedürftigen Kunden oder Angestellten, brauche ich danach knapp 2h Ruhe um wieder einigermaßen auf das gleiche Level an Leistungsfähigkeit zurück zu kommen, welches ich vor dem Supermarktbesuch hatte. Unter schlechteren Bedingungen kann es mitunter  passieren, dass ich den Rest des Tages nicht mehr viel Konstruktives schaffe und man an solchen Tagen auch nicht viel Sozialkompetenz erwarten sollte.

Größere Grenzübertritte bezahle ich in der Regel mit höheren Regenerationszeiten und Zeiten, in denen die soziale Interaktion nicht auf dem Level funktioniert, dass ich mir über die Jahre erarbeitet habe. Mitunter kann es passieren, dass ich schon in der Situation selbst nicht mehr vollständig angepasst und vor  allem angemessen interagiere. So passieren mir zum Beispiel bei Gruppenarbeiten, die sich über mehrere Tage hinziehen, mit steigender Zeit häufiger Mal Patzer, die mir unter normalen Bedingungen nicht passiert wären.

Das Überschreiten der persönlichen Grenzen funktioniert so lange, wie ich zwischen diesen Situationen ausreichende Erholungsphasen zugestanden bekomme. Kritisch ist es, wenn Termine so nah beieinander liegen, dass dazwischen keine Zeit bleibt, um wieder runter zu  kommen. Passiert das zu oft, sinkt meine Konzentration und damit meine  Sozialkompetenz kontinuierlich. Die Zeit, die ich brauche um mich wieder zu  erholen, potenziert sich von fehlender Erholung zu fehlender Erholung immer mehr, bis ich irgendwann außerhalb der Situationen, in denen ich irgendwie funktionieren muss, nur noch ohne nennenswerte Aktivität vor mich hin existiere. In so einer Situation helfen auch komplett freie Tage nur insoweit, als dass sie verhindern, dass es noch schlimmer um meine Kraftreserven steht und ich somit  noch ein bisschen länger durchhalte.

Aktuell befinde ich mich am Ende einer solchen Phase, die durch mein Studium bedingt war und mehrere Monate anhielt. Es brauchte einige freie Wochen und einige Tage am Strand, damit ich überhaupt wieder in der Lage war, diesen Text zu tippen und ich habe die Befürchtung, bis ich wieder so belastbar bin  wie vor dieser Phase, wird es mehr Zeit brauchen, als die vor mir liegenden Semesterferien bieten. Und während ich das hier schreibe, erklärt irgendwer ungefragt Autisten, dass sie sich ja nur mal zusammenreißen und über ihren Schatten springen müssen.

5 thoughts on “Grenzwertbetrachtung”

  1. Hesting

    Ich verstehe das Ende des 4. Absatzes bzw. den Übergang zum 5. Absatz nicht ganz. Du schreibst, Du bist nach einem Besuch im Supermarkt unter Idealbedingungen 2 Stunden nicht zu gebrauchen und bei Nicht-Idealbedingungen länger. Wie bekommst Du das im Alltag geregelt? Meines Erachtens ist doch eine Ruhephase von, sagen wir mal, 6 Stunden gar nicht möglich.

    Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe auch hart an meinen Grenzen studiert und würde auch immer wieder darauf hinweisen, dass das unumgänglich ist, bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls.

    1. h4wkey3 Post Author

      @Hesting Naja, das einkaufen kriege ich meist so geregelt, dass ich das in der Regel Abends mache, wenn der Tag so oder so schon knapp vorm Ende ist, so dass ich auch nichts anderes an diesem Tag mehr machen muss. Man trifft mich in der Regel kurz vor Ladenschluss in Supermärkten. Außerdem ist es dann, außer am Wochenende, eh leerer. Aber vor allem geh ich ja nicht jeden Tag einkaufen, sondern habe da einen gewissen Hang zur Vorratshaltung.

      Den zweiten Absatz deines Kommentares verstehe ich grade ehrlich gesagt nicht. Wieso unhöflich, und was ist unumgänglich?

  2. mo jour

    vielen dank für diesen text.
    ich bin so aufgewachsen, dass es verboten war, grenzen zu haben; ich hatte auch kein recht auf einen eigenen unwillen. das wurde von meinem umfeld als ablehnung und persönlicher affront verstanden: „wir haben uns doch alle so lieb. nun stell dich nicht so an …“
    noch heute, jenseits der 50, bin ich damit beschäftigt, eigene grenzen überhaupt erst wahrzunehmen, zu artikulieren und für ihre einhaltung zu sorgen, ohne sofort ein schlechtes gewissen zu haben.
    immer öfter erlaube ich mir, (mir selbst und auch anderen) zu artikulieren, dass ich dieses oder jenes nicht schaffen kann.

    ich lerne grenzen.
    und ich lerne pausen.
    tag für tag.

    es bleibt ein balanceakt auf dem minenfeld der persönlichen ansprüche und befindlichkeiten, dessen gelingen von meiner jeweiligen tagesform abhängig ist.

    alles gute!

  3. Lisa

    Diese Erfahrung mache ich gerade. Seit 2 Wochen habe ich KOntakt zu einer alten Schulfreundin und wir haben uns in der Zeit 3mal getroffen und es ist wirklich schön, ich bin so glücklich, dass wir wieder Kontakt haben, aber nach einem gemeinsamen Tag mit Abendessen im Restaurant und Kneipe im Anschluss merke ich, dass ich in den Tagen danach kaum soziale Kompetenz zeigen kann. Ich habe das Haus tagelang nicht verlassen und Kontakt nach außen auf ein Minimum eingeschränkt.
    Ich frage mich nur, wie ich das auf Dauer aushalten soll, wenn ich die Freundschaft aufrecht erhalten möchte. 🙁

Comments are closed.