Gastbeitrag zur Aktion Mensch

Gastbeitrag von MrsGreenberry zur Aktion Mensch


Wer sich, wie ich, mit der Interessensvertretung behinderter Menschen in Deutschland beschäftigt, ist Kummer und Leid gewöhnt. Die bekannteste Organisation in diesem Bereich ist die Aktion Mensch – das sind die mit den Losen, sodass man beim nächsten Weihnachtsgeschenk für Onkel Rudi das Gefühl hat, etwas richtig Gutes zu tun und den armen Behinderten zu helfen. Wie bei den meisten Vereinen, die sich die Interessensvertretung behinderter Menschen auf die Fahnen geschrieben haben, ist auch die Aktion Mensch fest in der Hand nichtbehinderter Menschen. Dass das zu anderen Ergebnissen als eine echte Selbstvertretung führt, liegt auf der Hand. Dennoch schafft es auch diese Organisation, mich immer wieder aufs Neue negativ zu überraschen, etwa gestern Nachmittag, als mir dieser Tweet in die Timeline gespült wurde:

Zugegebenermaßen ist gar nicht so klar, auf wen sich hier die „falsche Einstellung“ bezieht. Die GesellschaftTM? Behinderte Menschen? Beide?

Wenn die GesellschaftTM gemeint ist, handelt es sich auf jeden Fall um eine gefährliche Vereinfachung. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass behinderte Menschen nicht nur durch ihre Behinderung an sich, sondern auch durch individuelle und strukturelle Diskriminierung (Stichwort etwa Bundesteilhabegesetz) ebenfalls behindert werden. Aber eben nicht ausschließlich. An dieser Stelle kann ich zunächst einmal nur für mich selbst sprechen, aber auch in einer perfekten Gesellschaft würde mich mein Autismus immer noch einschränken. Weit weniger als er es jetzt tut, aber alle Einschränkungen lassen sich schlichtweg nicht durch angepasste Rahmenbedingungen kompensieren. Sommerliche Temperaturen und strahlender Sonnenschein zum Beispiel würden mich wohl immer noch in einer gewissen Regelmäßigkeit in eine Reizüberflutung befördern. Zu behaupten, sämtliche Beeinträchtigungen behinderter Menschen entstünden ausschließlich in Wechselwirkung mit der Gesellschaft, ist meiner Meinung nach ein Wunschdenken, das die Realität (mindestens vieler) behinderter Menschen leugnet.

Wenn mit der „falschen Einstellung“ hingegen (auch) behinderte Menschen gemeint sind – uiuiuiuiui. Ich hoffe doch ganz stark, dass die Aktion Mensch Rollstuhlfahrer*innen nicht erzählt, ihre Behinderung sei nur auf die falsche Einstellung zurückzuführen und wenn sie sich nur wirklich anstrengen würden, könnten sie auch die Treppe nehmen, anstatt immer dreist nach einem Aufzug zu verlangen. Glaube ich aber auch nicht wirklich, denn eine solche Logik betrifft ja in aller Regel nicht Menschen, denen man ihre Behinderung auf den ersten Blick ansieht. Selbst Mitarbeiter*innen von Aktion Mensch ist dann wohl irgendwie klar, dass das so nicht funktioniert. Sehr wohl aber betrifft so eine „Nur deine Einstellung behindert dich!“ Logik – auch bekannt als neoliberales „Du kannst alles schaffen, wenn du nur wirklich willst!“ – Menschen, denen man ihre Behinderung nicht auf den ersten Blick ansieht, und zwar auch von Seiten der Aktion Mensch. Auch an dieser Stelle kann ich wieder nur aus meiner Perspektive als Autistin berichten, es würde mich aber nicht wundern, wenn sich Aktion Mensch auch in Bezug auf andere sogenannte unsichtbare Behinderungen gar nicht mal so knorke verhält. Auf jeden Fall gilt: Aktion Mensch fördert finanziell Projekte, in denen autistische Kinder mit ABA (Applied Behavior Analysis) „gefördert“ werden, einer „Therapie“, in denen sie mithilfe von operanter Konditionierung Verhaltensweisen an – und abtrainiert bekommen, und das zum Teil 30 – 40 Stunden pro Woche. Dabei macht sich niemand Gedanken darüber, warum autistische Kinder manche Verhaltensweisen zeigen oder welchen Stress es auslöst, Verhaltensweisen ersatzlos zu „löschen“ (ja, so nennt sich das bei ABA). Das Thema ist ziemlich komplex und würde in seiner Gesamtheit hier den Rahmen sprengen. Autist*innen weltweit protestieren seit Jahren gegen diese Art der „Behandlung“, die auf genau der „Wenn du dich nur anstrengst, bist du auch nicht autistisch/behindert“ Logik fußt, was Aktion Mensch allerdings herzlich egal ist. Aleksander Knauerhase stand bezüglich des Themas ABA im Austausch mit der Aktion Mensch, die gesamte Chronik des Grauens findet sich auf seinem Blog.

Ich bin mir sicher, Aktion Mensch würde sich, würde man etwa einen Protestbrief gegen diesen Tweet verfassen – auf kritische Replies zu antworten, hat die Aktion Mensch anscheinend nicht nötig – wortreich rechtfertigen. Vermutlich würde sie argumentieren, so habe man das ja alles nicht gemeint, das sei wohl ein Missverständnis und es tue ihnen leid, dass man sich in seinen Gefühlen verletzt gefühlt habe. Ich für meinen Teil bin mir ziemlich sicher, dass das kein Missverständnis war, sondern wieder einmal gezeigt hat, wo die Aktion Mensch ideologisch zu verorten ist und warum die Interessensvertretung von Menschen mit Behinderung durch Menschen ohne Behinderung auch im Jahr 2016 noch immer, vorsichtig ausgedrückt, kein Erfolgsmodell ist.

3 thoughts on “Gastbeitrag zur Aktion Mensch”

  1. Atari-Frosch

    Ich wäre mir nicht so sicher, ob es nur an der Nichtbehinderung der führenden Köpfe von Aktion Mensch (oder anderer Vereine etc.) liegt. Aktion Mensch wurde offenbar gegründet als Geldsammelverein, und das (größtenteils, also vom ZDF mal abgesehen) von solchen Organisationen, die „Angebote“ (Therapien, Maßnahmen etc.) machen wollen. Das heißt, schon die Stoßrichtung war jetzt nicht primär, Behinderten zu helfen, sondern denen, die behaupten, helfen zu können/zu wollen, Geld zuschieben zu können. Am Ende stehen sowohl Aktion Mensch als auch die Mitglieder des Vereins als gute Menschen da, weil sie ja alle „was für Behinderte“ getan haben.

    Ganz trocken dargestellt ist der Grundansatz also: Wir gründen einen Verein, der Geld sammelt und uns dann mit diesen Spendengeldern das bezahlt, was wir für richtig halten. Der Verein wird, da das ja „unser“ Verein ist, nicht mehr unabhängig überprüfen (lassen), ob das alles richtig und gut so ist. Denn die Zweifel müßten sich dann gegen die eigenen (wenigen) Vereinsmitglieder richten, aber: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus (RW). Sie werden sich also innerhalb des Vereins nicht gegenseitig angreifen.

    Einen Spendensammelverein als solchen halte ich nicht per se für schlecht. Nicht einmal dann, wenn er von lauter Nichtbetroffenen geführt wird; denn sie haben ja möglicherweise einfach mehr Kapazitäten. Schlecht ist, wenn er von denen betrieben wird, die gleichzeitig (zumindest teilweise) die finanzierten Maßnahmen durchführen, und es keine unabhängige Instanz gibt, die die Maßnahmen überhaupt einmal ernsthaft prüft oder wenigstens hinterher evaluiert.

    Das ist in meinen Augen das viel größere Problem als die Frage, ob die Entscheider selbst betroffen sind oder nicht. Zur Überprüfung der einzelnen Projekte kann man ja immer noch jeweils Betroffene befragen – und wenn man unabhängig ist, kann man diesen dann sogar zuhören und ggf. ihre Bedenken umsetzen, und dann eben auch mal was ablehnen. Aktion Mensch kann das nicht. Deshalb hören sie uns auch nicht zu.

  2. Muriel

    Sehr schön, sehr richtig, danke.
    Ich werde nur als Vertreter der Neoliberalen (Natürlich nicht irgendwie offiziell, dass organisiert sich bei uns alles von selbst.) gerne die These in Zweifel ziehen, das Konzept “Du kannst alles schaffen“ hätten wir erfunden. Ich finde, das gibt’s eigentlich so ziemlich überall, recht unabhängig von der politischen Ausrichtung. Mich stört es aber jedenfalls auch schon immer.

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