Eine wesentliche Eigenschaft von Gruppen ist, dass sich mit der Zeit ein eigenes Vokabular bildet, das von Außenstehenden nicht ohne weiteres verstanden werden kann. Ein klassisches Beispiel hierfür sind wissenschaftliche Fachbegriffe, die häufig nicht einmal mehr von Wissenschaftlern aus anderen Fachgebieten verstanden werden.
Im Bereich des Autismus ist dies beispielsweise die Abkürzung NT. Dabei steht NT für Neurotypisch und dient dazu, Menschen zu kategorisieren, die keine neurologische Besonderheit, wie zum Beispiel Autismus, AD(H)S oder Depressionen aufweisen.
Historisch ist dieser Begriff aus einer Parodie der Autism-Rights-Bewegung entstanden, die versucht eine Selbstvertretung von Autisten für Autisten zu sein und sich für bessere Bedingungen in allen Bereichen des Lebens einsetzt. Er diente den Autisten als Kategorie, in der Nicht-Autisten zusammengefasst werden konnten. Dabei wurde der Begriff der Neurotypischen Störung geprägt und mit Kriterien, ähnlich der Kriterien für eine Autismus-Diagnose, versehen. Aus dieser Parodie erwuchs im Laufe der Zeit ein feststehender Begriff, der von vielen Autisten benutzt wurde, um Nicht-Autisten zu bezeichnen. Dabei geriet der Ursprung in Vergessenheit und die Verwendung wandelte sich zu einer ernstzunehmenden Bezeichnung. Insbesondere, da sie eine Alternative zu dem ziemlich problematischen und doch häufig verwendeten „normale Menschen“ bot.
Dieser Aspekt war es vermutlich, der dafür sorgte, dass diese Bezeichnung auch in anderen Bevölkerungsgruppen zunehmend Verbreitung fand. Insbesondere unter Menschen mit AD(H)S etablierte sich dieser Begriff schnell, aber auch Gruppen mit anderen psychischen Auffälligkeiten gebrauchten ihn zunehmend zur Abgrenzung. Durch seine Verwendung außerhalb des Autismus-Kontexts manifestierte sich notwendigerweise auch ein Bedeutungswandel dieses Begriffs. Neurotypisch war und ist nun nicht mehr eine Bezeichnung für Nicht-Autisten, sondern für Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit waren.
Das Problem mit diesem Bedeutungswechsel hatten nun die Autisten, da ihnen erneut ein Begriff (und eine prägnante Abkürzung) fehlte, mit dem sie Personen ohne Autismus zusammenfassend benennen konnten. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich im Verlauf der letzten Jahre zunehmend die Abkürzung NA, für Nicht-Autist. Dabei umfasst die Personengruppe der NA sowohl NT’s, als auch andere Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die jedoch keine Autisten sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT. Eine Person mit ADHS gehört zum Beispiel zur Gruppe der Nicht-Autisten, nicht jedoch zur Gruppe der Neurotypischen.
tl;dr:
Neurotypisch (NT) bezeichnet alle Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit sind.
Nicht-Autist (NA) bezeichnet alle Menschen die frei von Autismus sind.
Jeder NT ist zeitgleich auch ein NA, nicht jeder NA ist jedoch auch zwingend ein NT.
Als selbst Neurotypischer ist mir die Einengung des Begriffes auf „alle Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit sind“ nicht besonders sympahtisch. Eine solche Einengung macht es fast unmöglich, so eine Benennung überhaupt zu verwenden. In der Regel liegen ja keine umfassenden Ausschlussdiagnosen vor. Ich benutze das Wort „neurotypisch“, ungeachtet seines satirischen Ursprunges*, recht gern als Selbstbezeichung von meinesgleichen.
„Nicht-Autist“ wäre in der Definition zwar klarer, aber ich halte es für unschön, Menschen auf Dauer (also nicht situationsbezogen) mit einem Begriff zu bezeichnen, der angibt, was sie *nicht* sind.
Lieber würde ich von einem „neurotypischen Spektrum“ sprechen, dass, wie beim Autismus-Spektrum auch, sowohl depressive wie nicht depressive, neurotische wie nicht neurotische, traumatisierte wie nicht traumatisierte, intorvertierte, extrovertierte u. v. a m. Menschen enthalten kann.
Mein Gegenvorschlag wäre also:
neurotypisch: 1. (i. e. S.) nicht dem Autismus-Spektrum angehörend; 2. (i. w. S.) nicht autistisch und ohne AD(H)S.
______________
*Ich lache auch ganz gern über mich selbst! 😉
@Ismeal:
Zunächst einmal:
Ich mache hier keinen Definitionsvorschlag. Das ist auch alles nicht, dass ich mir ausgedacht habe, sondern das ist einfach nur eine Beschreibung von dem was sich über den Zeitraum einiger Jahre so entwickelt hat. Wenn diese Begriffe nicht das treffen was du ausdrücken willst, wirst du andere verwenden müssen. Das ist der Status Quo und nichts wo man einen Gegenvorschlag machen könnte. Zumindest keinen dem man nennenswerte Chancen auf Beachtung oder gar Anwendung findet. Sprache entsteht und wird in der Regel nicht bewusst geschaffen.
Zu deiner Definition:
Es ist nett das deine Wunschdefinition auch die ADHSler berücksichtigt, aber Autisten sind eben nicht die einzigen die nicht dem entsprechen was man umgangsprachlich als „normale Menschen“ bezeichnet, sondern da gibt es noch Dinge wie Depressionen oder Borderline und die verwenden den Begriff auch noch womit wir wieder bei der ursprünglich von mir dargestellten Definition wären.
Hey Hawk!
Gerade darüber nachgedacht, dass es sehr wenige NTe geben dürfte. Es gibt meines Eindruckes nach, zumindest im Erwachsenenalter, kaum Menschen, denen nicht ein psychologisches / psychosoziales Charakteristikum von unallgemeiner Natur zu eigen sein dürfte. Ich kann das jetzt nicht treffend und präzise zu Ende argumentieren. Es wäre ja zumindest die Frage nach der ‚Unallgemeinheit‘ oder ‚was eben für alle NA typisch sein darf‘ zu beantworten.
Wenn ich dich richtig verstehe, stellst du ohnehin nur die Begriffe klar, ohne dass du nach Wertungen suchst. Also schildere ich dazu nur meine Gedanken, die allerdings von Verstehen wollen und Nutzen geprägt sind. Kannste durchlesen, musste nicht.
Ich suche nicht um ‚der Gemeinsamkeiten aller‘ Willen nach den verbindenden Elementen zwischen den Welten mit/ohne ADS, ADHS, Autismus und Ähnliche und verbundenen Wahrnehmungen. Das wäre zu einfach und fast zu niedlich. Ich benenne mich in Diskussionen gerne als NT, da ich als Vater eines Autisten, der selber nunmal keiner ist, auf die Bezeichnung NA nicht gekommen wäre.
Mir ist also gerade klar geworden, dass ich in dieser Terminologie als NA (statt als NT) einzuordnen bin. Das ist eine zutreffende Klassifizierung. Und mein erster spontaner Eindruck ist der, dass er für mich genauso nutzlos ist wie die allermeisten undifferenzierten Diagnosen zum Thema der Gruppe der ‚A‘ oder ‚NNA‘ und der ‚NNT‘.
Andersrum sind diese Abkürzungen natürlich von großem Nutzen, da sie helfen, in Tweets, kurzen Blogs oder anderen reduzierten Formen des Informationsflusses, zumindest grob einzuteilen, ‚wer mit was‘ gemeint, beteiligt oder angesprochen ist.
Trotzdessen muss ich für mich reklamieren, dass ich als NA mit mehr als 10 Jahren bewusster Bereitschaft mich für die Themengruppen ADS, ADHS, A und AsPi und die Personen unterstützend einzusetzen, mehr als 2 Buchstaben verdient habe.
Ich rege also an:
10NA (10 Jahre Nicht-Autist mit Kontakten zum Umfeld A)
NNTNA (Nicht-Neuro-Typischer-Nicht-Autist)
TNUNT(Tota-Neuro-Untypischer-Neuro-Typ)
So.
Und wer den letzten langen Absatz ernst genommen hat, ist ein:
IINTOIUS
‚Insgesamt Irgendwie Neuro Typ Ohne Ironie und Sarkasmus‘
Liebe Grüße,
Splitterraum!
@Splitterraum:
Tatsächlich hatte ich diesen Gedankengang auch beim schreiben. Mir schwebte da die Redewendung von „Normale Menschen sind wie Yetis – niemand hat je einen gesehen, aber das Gerücht, es gäbe sie, hält sich hartnäckig“ im Kopf umher. Wenn man einen Menschen nur lang genug betrachtet wird er irgendwann aus dieser Gruppe ausgeschlossen, aber die Verwendung dieser Begriffe ist ja nicht zur Bezeichnung eines einzelnen Menschen gedacht (zumindest sollten sie nicht dafür verwendet werden) sondern um Menschengruppen vereinfacht zusammenzufassen, oder sich ihnen schnell zuzuordnen. In einem Gespräch ist ein halbstündiger Monolog über die eigene neurologische Verordnung nicht das, was irgendeiner der Beteiligten möchte und in der Regel reichen da diese groben Oberkategorien vollkommen aus.
Hallo Hawk,
vielen Dank für die Klarstellung. Es wird in Diskussionsveranstaltungen zunehmend schwierig, die jeweils gemeinte Personengruppe mit einer Abkürzung zu versehen – weil häufig genau die Einschränkungen genannt werden, wie oben aufgelistet.
Ein anderer, immer wiederkehrender Satz lautet „Kennt Du einen Autisten, kennst Du genau einen Autisten“. Das bleibt natürlich weiterhin korrekt, gilt aber genauso für NAs, insbesondere, wenn sie keine NTs sind. Damit also eigentlich für: Alle Menschen.
@Ismael:
Depressive, AD(H)S’ler sind aber nicht neurotypisch, das würde die von Dir ausgedachte Definition ad absurdum führen. „Neutotypisch“ ist ein feststehender Begriff, der nicht nach Gefallen angepasst werden kann. Von Einengung kann man bei einer Definition, die allein die neurologische Gegebenheit beschreibt, ebenfalls nicht sprechen. Es gibt kein Befindlichkeits-Votum, bei dem jeder seinen Vorschlag abgeben kann und am Ende tanzen wir Hand in Hand über Blumenwiesen. Es geht dabei nicht darum, wer jetzt netter, egozentrischer, verquerer ist. Wir sprechen über unsere neurologischen Grundvoraussetzungen und die lassen sich klar definieren.
Hallo Outerspace Girl,
ich lese aus Benjamins Beitrag heraus, dass das Verständnis des Begriffes „neurotypisch“ einer Dynamik unterworfen ist, also dass die Bedeutung (noch) nicht eindeutig feststeht. So lange noch keine wissenschaftliche Definition in der Fachliteratur veröffentlicht und anerkannt wurde (oder gibt es die schon?), ist also noch vieles offen.
Mir geht es dabei nicht um eine Beliebigkeit in der Sprache („Befindlichkeits-Votum“), sondern darum, den Terminus überhaupt noch gebrauchen zu können (Sichwort „Yetis“: Immer, wenn man einen fangen will, sind alle verschwunden).
Zitat Benjamin: „…die Verwendung dieser Begriffe ist ja nicht zur Bezeichnung eines einzelnen Menschen gedacht (zumindest sollten sie nicht dafür verwendet werden) sondern um Menschengruppen vereinfacht zusammenzufassen, oder sich ihnen schnell zuzuordnen.“
Dem stimme ich zu, aber diese Vereinfachung im sprachlichen Umgang beinhaltet auch eine gewisse Vergröberung in der Definition, die man in Kauf nehmen müsste. Oder?
Zitat von Ismael: „Als selbst Neurotypischer ist mir die Einengung des Begriffes auf „alle Menschen, die frei von jeder psychischen Auffälligkeit sind“ nicht besonders sympaHTisch (sic!).“
Ich frage zurück: „Haben Sie schon einmal den Gedanken gehabt, dass Autisten aus ihrer Sicht den Begriff „Autist“ ebenfalls als nicht besonders sympathisch betrachten könnten?“ Aber damit haben Sie gleich mal ein Gefühl erhalten, wie sich solche Menschen fühlen. Was Autisten tun, ist lediglich eine Spiegelung der Gesellschaft und ihr Umgang mit „Sonderfällen“ durch sprachliche Ausgrenzung. Damit verbunden ist auch ein gewisses angenehmes Sicherheitsgefühl, abhängig davon, ob man zur Norm gehört oder eben nicht. Und dieses wird durch die Einführung des vorgestellten Begriffes beim neurotypischen Vertreter in Frage gestellt und bei Autisten erhöht. Ich finde das nur fair.
Autisten unterscheiden zwischen sich und NTs; Introvertierte grenzen sich von „den anderen“ = den Extravertierten ab; Schizoide vs. Nicht-SPler. Menschen, die sich als sehr gut fühlend bezeichnen von tatsächlich oder nur vermeintlich gefühlskalten Mitmenschen und so weiter … Gruppenabgrenzung scheint ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis zu sein. Insofern sind auch all diese Gruppen wieder sehr normal und „neuro-typisch“.