Extremismus

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Schließen Sie für einen kurzen Moment Ihre Augen und stellen Sie sich ein autistisches Kind vor.

 

 

Vermutlich hatten Sie gerade ein alleine auf dem Boden sitzendes, schweigendes Kind vor Augen, das in ein Spielzeug vertieft da sitzt.

Wenn nicht hatten Sie vermutlich Berührungspunkte mit Autismus, die über die Flyer von Elternorganisationen und Fernsehdokus mit Coldplay-Musikuntermalung hinaus gehen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Vermutlich müssen Sie diesen Text nicht weiter lesen, dürfen es aber gerne, oder Sie backen mir ein paar Kekse.
Wenn Sie zu den Menschen gehören, die ein ähnliches oder gleiches Bild wie beschrieben vor Augen hatten, könnte es vermutlich nicht schaden weiterzulesen. Natürlich dürfen Sie mir trotzdem Kekse backen.

Direkt vorweg, ich will hier gar nicht erst anfangen, mich zu den Ursachen dieses weiter verbreiteten Bildes auszulassen. Damit ließen sich vermutlich ganze Bücher füllen. Es geht mir lediglich darum, zu schildern wie Autismus aussehen kann.

Wie bereits an anderen Stellen erwähnt, ist Autismus ein Spektrum, dies bezieht sich nicht nur auf die Probleme, die Menschen mit Autismus haben, sondern auch darauf, wie die Wirkung, die autistische Menschen nach außen hin haben, ist.
Am einen Ende dieses Spektrums steht der introvertierte, nicht-, bis wenig-redende Autist, der am liebsten seinen Kram für sich macht. Dieses Bild kennen wir. Betrachtet man nun einmal das andere Ende dieses Spektrums, so findet man dort ein Bild, was man gemeinhin nicht mit Autismus assoziieren würde.
Wir würden einen autistischen Menschen sehen, der sehr viel redet und sehr viel von sich mitteilt, Gespräche an sich reißt und das Bedürfnis hat, immer im Mittelpunkt der Situation zu sein.

Zwischen diesen beiden Extremen ist so gut wie jede Form der Ausprägung denkbar und das sogar in ein und der selben Person. In meinem letzten Beitrag sprach ich darüber, wie sich zunehmender Stress auf mich auswirkt. Eine weitere mögliche Auswirkung ist, dass sich die Außenwirkung verschiebt, in beide Richtungen. Ich kenne in meinem Umfeld Autisten, die unter Alltagsbedingungen unauffällig wirken, aber unter Stress wahlweise ausgeprägt kommunikativ und mitteilungsbedürftig werden, oder aber einsilbig.

Das Problem in der Kommunikation muss für Autisten nicht zwingend sein, überhaupt etwas zu sagen, sondern es kann unter Umständen auch sein, das richtige Maß zu finden, wenn einem hierfür das intuitive Gespür fehlt. Sagt man zu viel, sieht man sich irgendwann mit einem „lass mich doch auch mal zu Wort kommen“ konfrontiert. Sagt man zu wenig, wird man irgendwann gefragt, ob alles ok sei. Das gleiche Problem tritt auch dabei auf, zu entscheiden, welche Informationen grade angemessen sind und mit welchen man zu viel über sich preisgibt. Auf der Erstsemester-Party interessiert es üblicherweise die wenigsten bis ins Kleinste detailliert, was du die letzten 20 Jahre deines Lebens gemacht hast, wohl dürfte es für die anderen aber interessant sein, wo du herkommst und was du studierst.

Dieser Effekt, dass sich Autisten manchmal genau gegensätzlich zur Erwartung verhalten, findet sich nicht nur in der Kommunikation oder in der Außenwirkung, sondern sie kann sich in den unterschiedlichsten Bereichen finden lassen. Ein anderes, leider weit verbreitetes Beispiel liegt zum Beispiel in der Interpretation von Aussagen. Irgendwann merkt man möglicherweise, dass Aussagen oft einen Subtext haben, beginnt sich damit auseinanderzusetzen, und beginnt überall zwingend anzunehmen, dass jeder Satz einen ausgeprägten Subtext inklusive Beziehungsebene und, schlimmer noch, persönlichen Vorwurf haben muss.

Die große Schwierigkeit liegt darin, in Situationen, in denen andere Intuitiv handeln, und damit (meist) richtig liegen, zusätzlich zu all den anderen Dingen auf die man achtet, eine Balance zu finden. Je mehr Dinge dort sind, auf die man achten muss, desto weniger schafft man, die Balance zu halten und rutscht in die Extreme ab.

3 thoughts on “Extremismus”

  1. Literat

    Besagt der Umstand, dass ich mich in den letzten 2 Absätzen nahezu 1:1 wiederfinde, bereits, autistische Verhaltenszüge zu zeigen? Ist das das Entscheidende – sich unintuitiv zu verhalten?

    1. h4wkey3 Post Author

      Dazu kann ich dir nicht viel sagen, was ich sagen kann ist, dass es das entscheidende bei Autismus nicht gibt. Es gibt kein K.O.-Kriterium, was dich automatisch zum Autisten macht. So gut wie jedes Problem von Autisten tritt auch anderswo auf. Auch bei Menschen, die ohne jede Störung leben, sofern es sie gibt. Es ist eine Sache, die bei Autisten vorkommt und wo man weiterforschen kann, was es noch für Dinge gibt, und ob diese auf einen zutreffen.

  2. Puepue

    Weil ich viel mit Asperger-Autisten zu tun habe, habe ich nicht nur das konzentrierte Kind auf dem Boden im Kopf. Ich habe selbst viel mit Asperger-Autisten zu tun (irgendwie komme ich mit denen meist besser klar als mit NTs) und weiß, dass es diese Phasen gibt. Dass das viel-Reden auch so häufig mit Asperger zusammen hängt, wusste ich aber selbst noch nicht!

    @Literat: Ich finde das auch immer wieder gruselig.. Sobald ein Autist über Probleme im Alltag schreibt, findet man sich oft wieder.. Das ist schon ein bisschen verunsichernd :-/

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