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Von anderen Overloads

Es gibt Tage, an denen prasselt die gesamte Umwelt so lange erbarmungslos auf die eigene Wahrnehmung ein, bis sämtliche Kompensationsmechanismen und Tricks an irgendeinem Punkt versagen und man keine andere Wahl mehr hat, als sich schleunigst eine ruhige Ecke zu suchen und dem Overload1 seinen Lauf zu lassen.

So oder so ähnlich ist die klassische Entstehung eines Overloads. Doch dann gibt es noch die wesentlich seltenere Variante, die quasi unbemerkt kommt und deren Entstehungsgeschichte Tage oder sogar Wochen vorher beginnt.So zum Beispiel Klausurenphasen eines Studiums und ihre Vorbereitung. In diesen Phasen gibt es kein einprasseln von Reizen oder keine direkte einzelne Situation, die die Reizfilterung ausschaltet und einen dringenden Rückzug erfordert. Es gibt nur Tage mit sehr viel konzentrierter Arbeit und Treffen von Lerngruppen, an deren Ende viel zu wenig Freizeit steht. Nicht angenehm, aber auch nichts, was einen Overload auslöst.
Problematisch wird es dadurch, dass so eine Klausurenphase dazu neigt, dass eine ganze Reihe dieser Tage aufeinander folgt, ohne dass es dazwischen Tage gibt, an denen man Schlaf aufholen könnte oder Dinge tun kann, die weniger Konzentration erfordern. Man macht einfach weiter und hat auch gar nicht die Zeit darüber nachzudenken, wie es einem gerade eigentlich geht.

Das funktioniert nicht ewig. Jeder dieser Tage, an denen man mehr Energie aufwendet als man gewinnt, geht auf Kosten von Reserven. Je nach der persönlichen Belastungsgrenze sind diese Reserven an irgendeinem Zeitpunkt aufgebraucht. Dass dieser Zeitpunkt erreicht ist, merke ich nur schleichend. Beispielsweise daran, dass ich egal wie sehr ich es versuche nicht schaffe, den Sinn von Texten die ich grade lese aufzunehmen. Oder daran, dass mich selbst Kleinigkeiten, die mich sonst nicht einmal ansatzweise stressen würden, wahnsinnig auf die Palme bringen. Oft braucht es sehr viele dieser Kleinigkeiten bis ich erkenne, dass ich grade scheinbar grundlos in einen Overload rutsche, und dann irgendetwas dagegen unternehmen kann, damit es nicht noch schlimmer wird.

Häufig passiert dies an Tagen, an denen gerade weniger los ist. Wenn ich Glück habe, sind das die Tage, an denen die Stressphase ohnehin endet und ich habe einige Tage Zeit, die Energiereserven wieder aufzufüllen. Habe ich weniger Glück, bleibt an dieser Stelle nur schnellstmöglich eine Ruhepause einzulegen, um die Energie soweit auffüllen zu können, dass ich irgendwie bis zum Ende der Phase weitermachen kann.

Das Phänomen, dass Autisten Dinge tun, die sie eigentlich nicht schaffen sollten, ist dabei kein seltenes. Gerade Autisten die „funktionaler“ erscheinen und denen man ihren Autismus nicht unbedingt anmerkt, sind in der Lage in Situationen, die an ihre Grenzen gehen, weiterzumachen. Dabei verschwinden der Stress und die Überforderung jedoch nicht. Sie werden nur aufgeschoben, bis an irgendeinem Zeitpunkt, an dem kein Auslöser erkennbar ist, der Overload, oder im Extremfall der Meltdown, eintritt.

Rühr mich nicht an!

Der nachfolgende Text ist ein Gastbeitrag, der sich mit den subjektiven Eindrücken und Erfahrungen von Sexualität im Kontext von Autismus befasst. Diese Erfahrungen sind keineswegs prototypisch für alle Autisten, sondern zeigen lediglich eine Möglichkeit auf. Der Text enthält Erwähnungen von BDSM.

Die Autorin (Name dem Redakteur bekannt) ist selbst Autistin und in ihren 20ern.

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Therapie

Viele Autisten haben ein Problem mit Therapien. Wenn ich die Aussagen von den Autisten, die sich öffentlich äußern, verallgemeinere, könnte man sagen dass es die Mehrheit ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber wie Rainer in einem Gespräch mit mir (rf005) anmerkte, dürfte der Hauptgrund dafür negative Erfahrungen mit  Psychologen sein, die so weit gehen, dass man in einigen Fällen schon von Traumatisierung sprechen kann.
Ich brauche kaum zu erklären, dass ich  vollstes Verständnis dafür  habe, wenn Menschen mit diesen Erfahrungen Therapien für sich grundsätzlich ablehnen, sofern sie daraus keine grundsätzliche Haltung konstruieren, dass alle Therapie immer böse ist.

Genau diese Haltung wird aber im Moment wieder zunehmend salonfähig. Auch bei Autisten die keine negativen Erfahrungen im Kontext mit Therapien machten. Dies wird im Regelfall damit begründet, dass man die Autisten ja nur akzeptieren müsste, statt zu versuchen, den Autismus wegzutherapieren.

Menschen die “Therapie ist …” kauften, kauften auch “Alle Autisten sind  …”

Ich kann diese Argumentation selten ohne Zusammenbeißen der Zähne ertragen, sehr zur Freude des Autohändlers meines Zahnarztes. Das Problem, das ich mit dieser Argumentation habe, ist nicht, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Das Problem ist, dass sie per se schon eine Verallgemeinerung ins Absurde darstellt.
Natürlich gibt es Therapien, die das strikte Ziel haben, am Ende eine Armee von unauffälligen Otto-Normal-Bürgern zu schaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt am Ende davon ein Mensch raus, der einige Therapie bräuchte, um die Therapie zu verarbeiten, und selbst wenn es am Ende funktioniert, dass der Mensch nach außen hin normal wirkt, dürfte das, was von ihm übrig ist, nicht mehr viel mit dem zu tun haben, was zu Beginn da war. Ich bin der Letzte,  der leugnet, dass es da draußen eine Heerschar von Leuten gibt, die sich daran gemacht haben, Autisten reihenweise zum Blickkontakt, Lächeln und Hand geben zu zwingen, indem sie der Konditionierung einen coolen neuen Namen gegeben haben.
Das ist das Bild, das vorherrscht, wenn man versucht, über Therapie zu diskutieren. Allerdings ohne jede Differenzierung, dass es hierbei lediglich eine Teilmenge des weiten Feldes unterschiedlicher Therapieansätze abdeckt.

Es gibt da nämlich noch andere Herangehensweisen, die ich ganz gerne als  problemorientierte Herangehensweisen bezeichne. Diese Ansätze gehen nicht davon aus, dass Autismus per se etwas ist, das therapiert werden müsste. Genau so wenig stürzen sie sich auf die Symptome. Die Fragestellung hierbei ist eher: An welcher Stelle hat der Mensch eigentlich Probleme, die durch den Autismus bedingt sind und kann man da etwas dran machen?
Wie das konkret aussieht, kommt dann natürlich auf die Probleme an, die im Alltag vorhanden sind. So kann ein soziales oder ein Kommunikationstraining in Einzelfällen zum Beispiel durchaus Sinn machen. Sie werden aber kaum helfen, wenn jemand Probleme damit hat, seinen Tagesablauf zu organisieren.
Überhaupt haben alle Therapien, insbesondere im Autismus-Bereich, die Gemeinsamkeit, dass keine von ihnen der alleinige Weg zur Erlösung ist. Kein seriöser Ansatz ist in der Lage, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die Autismus so mitbringen kann.

Die Diskussion, ob eine Therapie Sinn ergibt, und wenn ja welche Therapie, wird fast immer mit ideologischem Beigeschmack geführt. Es gibt die Menschen, die Therapie pauschal als das Einfallstor allen Bösen betrachten, es gibt die Therapeuten die meinen, sie haben DEN Weg gefunden, alles gut zu machen, genau so wie es Leute gibt, die glauben, man könnte und müsste Autismus grundsätzlich therapieren.
Die Lösung liegt wie so oft in der Mitte:

Therapie kann sinnvoll sein, sie muss es aber nicht. Und wenn eine Therapie sinnvoll ist, sollte sie auf den Bereich zugeschnitten sein, in dem das Problem besteht, und nicht auf Basis eines alleinigen Heilsversprechen gewählt werden.

Disclaimer: Ich wurde selbst mehrere Jahre in einer Praxis therapiert, die sich auf Autismus spezialisiert hat und wäre ohne diese Unterstützung aktuell vermutlich nicht in der Lage meine Bachelorarbeit zu schreiben, daher ist eine gewisse Befangenheit nicht vollständig auszuschließen.

Ein paar Worte zu Modediagnosen

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In den letzten Jahren war eine wachsende Anzahl an Diagnosen innerhalb des autistischen Spektrums zu beobachten. Diesen Fakt kann man auf verschiedene Arten betrachten.

Eine Möglichkeit ist, in hoffnungslose Panik zu verfallen und eine Autismus-Epidemie heraufzubeschwören und das Ganze zur nationalen Krise im Gesundheitssystem zu stilisieren. Diese Betrachtungsweise empfiehlt sich besonders, wenn man in den USA beheimatet ist und dringend Geld sammeln muss, um Autismus bekämpfen zu können.

Eine etwas weniger panische Möglichkeit, die überall aus dem Nichts hervorspringenden Autisten zu erklären, ist es, das Ganze zu einer Modediagnose zu machen. Das sind ja ohnehin alles keine richtigen Autisten sondern nur diese weichgespülten. Da man das ja auch immer im Fernsehen sieht, ist Autismus ja gerade besonders cool. Jeder will doch Autist sein.

Vor kurzem über einem Jahr durfte ich hier einen Leserbrief veröffentlichen, der den von den Medien propagierten Mythos der Modediagnose demontierte. In den letzten Monaten stieß ich im Austausch mit anderen Autisten zunehmend häufiger in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf diesen Begriff.

So scheint es zum Beispiel so, dass irgendwo in Deutschland Diagnostiker sitzen, die Patienten erst einmal mit dem pauschalen Verdacht begrüßen, sie wollen nur Autisten sein, weil das grade “In” sei.
Ich erlebe Autisten, die zu ihrer Diagnose sagen, dass sie gestellt wurde, bevor Autismus modern war.
Gestern hörte ich zum zweiten Mal davon, dass die Reaktion des Umfelds auf die Diagnose ein “Ach, das wollen doch jetzt alle sein.” war.

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„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“ (Suchtreffer Teil 3)

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Hinweis: Die Auswahl der Suchen, die ich hier behandeln werde, ist rein subjektiv, nicht zwingend repräsentativ und in keinem Fall vollständig! Die Reihenfolge der hier behandelten Ergebnisse lässt übrigens keinerlei Rückschluss auf die Häufigkeit der Suchtreffer zu.

„Ihr seid doch alle Individuen.“
„Ja, wir sind alle Individuen.“
„Und ihr seid alle völlig verschieden.“
„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“
„Ich nicht!“

Das Leben des Brian (1979), Monty Python
(Video im englischen Original)

Einer der Punkte, an denen ich mich in Diskussionen über Autismus immer wieder stoße, ist die Frage, wie man bei Autisten denn Sache X erreichen kann. Es gibt mehrere Sachen, die mich daran stören, erst einmal hat diese Fragestellung ganz oft so einen leichten Anklang von der Frage nach einer Bedienungs- und Manipulationsanleitung. Ich persönlich beantworte diese Frage für mich selbst meist mit einem “Einfach mal nachfragen”.

Das Hauptproblem bei dieser Frage ist aber, dass es eine Gemeinsamkeit schafft wo keine ist. Ein Mensch lässt sich nicht auf seinen Autismus reduzieren.
Wenn man mich fragen würde, wie man bei Menschen Sache X erreichen kann, würde ich wohl eine ganze Reihe von Ideen haben, wie ich bei einzelnen Menschen da Erfolg erziele. (Also jetzt mal abgesehen von Nachfragen …) Aber ich hätte keine einzige Idee, wie das allgemeingültig funktionieren würde. Bei Autisten ist das nicht anders. Sicherlich haben Autisten gewisse Gemeinsamkeiten, aber es gibt eben keine allgemeingültig autistischen Charaktereigenschaften.

“autisten öffnen”

Symbolfoto DosenöffnerSymbolbild

(Ich gehe im nun Folgenden davon aus, dass “Autisten öffnen” im Sinne von “an Autisten herankommen” gemeint ist, für chirurgische Eingriffe bin ich der falsche Ansprechpartner.)
Menschen zu erreichen ist, auch ohne Autismus, eine Sache, die nicht so ganz einfach ist. Wenn man nun einen Autisten vor sich hat, der eher introvertiert ist, macht es die ganze Sache sicherlich nicht einfacher.
Im Grunde unterscheidet sich die Herangehensweise gar nicht so sehr bei Autisten und Nicht-Autisten. Wenn man Menschen erreichen will, wird man das nicht, indem man versucht sie gegen ihren Willen irgendwo herauszureißen.
Die erste Frage sollte ohnehin sein, was will ich von der Person, warum will ich, dass sie sich öffnet, und ist das eigentlich so gut für sie, wenn sie sich jetzt öffnet, oder zwinge ich ihr etwas auf.
Wenn ich einen Menschen erreichen will, betrachte ich wofür sich dieser Mensch interessiert und versuche hierüber eine Verbindung aufzubauen. Es ist für Menschen immer einfacher, sich auf andere einzulassen, wenn das über die eigenen Interessen funktioniert.

„kann ein autist alleine leben“

Ja, Autismus allein ist nicht zwingend ein Grund, kein eigenständiges Leben zu führen. Viele Autisten erhalten ihre Diagnose erst in einem verhältnismäßig fortgeschrittenen Alter. Die allermeisten von ihnen lebten vorher nicht betreut.
Praktisch hängt die Frage nach dem allein Leben hauptsächlich davon ab, wo man sich im Spektrum befindet und wo die Probleme da ganz konkret liegen. So haben Autisten, die nicht in der Lage sind sich selbstständig zu artikulieren, sicherlich mehr Probleme und Herausforderungen, die sie beim alleine Leben meistern müssen, als Autisten mit unauffälligeren Ausprägungen. Wobei auch diese kein Garant sind, dass das mit dem alleine Wohnen problemlos ablaufen wird.
Genauso, wie die Probleme hier sehr stark variieren können, gibt es auch viele Abstufungen der Hilfen, zwischen alleine und betreut wohnen, wie zum Beispiel ambulant betreutes Wohnen oder Haushaltshilfen. Das sollte sich aber nach den wirklichen Problemen im Alltag richten, allein eine Autismus-Diagnose ist noch kein Grund, sich um betreutes Wohnen zu bemühen.

“sprechen autisten über politik?”

Ich bin ein bisschen irritiert darüber, dass es doch einige Menschen gibt, die diese Frage so sehr beschäftigt, dass sie sie googlen. Der böse Teil meiner Selbst würde dazu sagen, dass so oft wie ich “politischer Autismus” in der letzten Zeit als Vorwurf höre, sie nicht nur drüber reden, sondern sie auch machen. Aber das ist ein anderes Thema, dem ich mich hier jetzt nicht unbedingt widmen werde. Das taten schon Andere.

Es gibt eigentlich nichts, über das Autisten nicht sprechen. Auch wenn scheinbar der Eindruck entsteht, dass die Interessen von Autisten sich auf Computer und das Zählen von Zahnstochern beschränken, ist das in der Praxis nicht so. Unerwarteterweise sind die Interessen von Autisten so breit gestreut wie beim Rest der Menschheit auch. Auch wenn es durchaus eine Häufung im Bereich Computer gibt, ist diese meiner Beobachtung nach längst nicht so groß, als dass sich dort irgendwelche allgemeinen Aussagen über die Interessen von Autisten ableiten ließen.

Das Problem, dass versucht wird, Menschen über den Kamm Autismus zu scheren und Gemeinsamkeiten über eine Diagnose hinaus zu schaffen, wo eigentlich keine sind, trifft man immer wieder, aber Autismus ist eben nur Teil von dem, was einen Menschen ausmacht.

Was ist Asperger denn nun…

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Ich verbringe viel Zeit damit, zu erklären, was Asperger nicht ist. Kein Autismus light, keine Vorstufe zu Autismus, und mit Spargel hat es auch nichts zu tun.

Bevor ich darauf eingehe was Asperger ist, möchte ich darauf hinweisen, dass sich dies ausschließlich um meine persönliche Meinung handelt, ich habe nicht den Anspruch eine wissenschaftlich hieb- und stichfeste Definition zu schreiben, sondern beziehe mich auf meine eigenen Erfahrungen sowohl mit mir selbst, als auch mit anderen Asperger-Autisten.

Das Asperger-Syndrom hat im noch aktuellen ICD-10 den Schlüssel F84.5. Damit gehört es zur Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Es “ist durch dieselbe Form qualitativer Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen, wie für den Autismus typisch, charakterisiert, zusammen mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten.” Soviel zur Theorie. Jeder, der aus diesem Satz nach dem ersten Lesen ein treffendes Bild über Asperger-Autisten ableiten kann, darf sich bei mir jetzt eine Tüte Gummibärchen abholen. Für alle anderen bleibt die Frage: Was heißt das in der Praxis?

Es ist üblich, eine Störung/Behinderung an ihren Defiziten zu beschreiben. Das ausschließlich zu tun macht bei Autismus wenig Sinn, vor allem, da nicht alles was gemeinhin als gestört gilt auch zwingend nur negative Seiten hat. Trotzdem möchte ich hier mit den Defiziten beginnen.
Im Grunde lassen sich die Probleme von Asperger-Autisten, nach meiner Beobachtung, in zwei grobe Kategorien einteilen. Probleme mit Umgebungsreizen und Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Hier gibt es aber keine exakte Grenze, sondern eine ziemlich große Schnittmenge zwischen diesen Bereichen.

Zuerst etwas zur Wahrnehmung. Der Mensch nimmt viele Dinge wahr, mehr als er verarbeiten kann. Aus diesem Grund sortiert das Gehirn der meisten Menschen vor. Es trennt wichtige Informationen von unwichtigen und so gelangt nur das, was diesen Selektionsprozess überstanden hat, wirklich in die bewusste Wahrnehmung.
Das funktioniert bei Asperger-Autisten nicht ganz so wie es soll. Die Informationen aus der Umgebung werden wenig oder gar nicht vorsortiert. Das Sortieren der Informationen und das Lenken der Aufmerksamkeit auf die relevanten Teile, zum Beispiel das gerade laufende Gespräch, oder der gerade vortragende Professor, muss bewusst stattfinden. Ich, und das hörte/las ich schon von vielen Asperger-Autisten, habe einen sehr ausgeprägten Detailblick, das heißt ich nehme das Meiste nicht als Gesamtbild wahr, sondern sehe die einzelnen Details nacheinander. So besteht zum Beispiel ein Sonnenuntergang am Meer für mich aus dem Jogger, der mit dem Hund den Strand entlang läuft, dem abgebrochenen Wellenbrecher, der herumfliegenden Plastiktüte, der anderen Farbe, die das Meer an der untergehenden Sonne hat, etc.…

Das bewusste Konzentrieren auf die wesentlichen Aspekte einer Situation kostet Energie, die Menschen, die nicht bewusst Filtern müssen, für andere Dinge verwenden können. Der Punkt, an dem nicht mehr genug Kapazitäten zur Verfügung stehen, um die unwesentlichen Details auszufiltern, ist der Punkt, an dem Asperger-Autisten das Problem der Überforderung haben. Wie sich das anfühlen kann beschreibt Querdenkender an anderer Stelle.

Das ganze klingt erst einmal ziemlich negativ, und das Ganze positiv zu betrachten scheint nicht so einfach. (Wirklich schwer das positiv zu betrachten fällt es aber erst, nach der 8. Stunde Vorlesung zu den Klängen von einer Strandparty, einer Baustelle und Laubbläsern…) Trotzdem kann ich, für mich gesprochen, durchaus auch die positiven Seiten einer anderen Wahrnehmung sehen. Dadurch, dass mehr Details meine bewusste Wahrnehmung erreichen, bekomme ich Dinge mit die vielen Anderen entgehen. Was zum Beispiel beim Suchen nach Fehlern und Defekten ziemlich praktisch ist.

Die andere grobe Kategorie ist der Umgang mit anderen Menschen. Die Besonderheiten hier sind sicherlich auch mitbedingt durch die andere Wahrnehmung. Manche Menschen gehen sogar soweit, alles auf die Wahrnehmung zurückzuführen.
Kommunikation zwischen Menschen ist ein komplexer Vorgang, auch wenn sich die meisten darüber nicht bewusst sind. Viele Informationen in der Kommunikation werden nicht allein von Sprache übermittelt. Nonverbale Kommunikation macht hier einen großen Anteil aus.  Mithilfe von Mimik, Gestik, Tonlage, Körperhaltung und auch Blicken wird der rein sachlichen/informativen Bedeutung der Sprache zusätzliche Bedeutung verliehen. Diese kann entweder die sprachlich übermittelte Information unterstützen, oder sie auch komplett umdrehen. So bedeutet ein “Nein, Schatz ich bin nicht sauer auf dich” im entsprechenden Tonfall meist alles, aber auf keinen Fall, dass der Partner nicht sauer ist.
Die meisten Menschen interpretieren diese nonverbale Kommunikation unbewusst, sie “wissen” einfach wie etwas gemeint ist. Anders bei Asperger. Ich war mir lange Zeit nicht darüber bewusst, dass man Dinge manchmal anders sagt als man sie meint, oder man ohne es zu sagen weitere Informationen mitliefert. Bis ich anfing, mich, damals zwangsweise im Deutschunterricht, mit Schulz von Thun und seinen Seiten einer Nachricht auseinanderzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die nonverbale Kommunikation nicht wahrgenommen, und dadurch auch nie darüber nachgedacht, sie zu interpretieren. Nachdem ich wusste, dass sie da ist konnte ich lernen sie zu interpretieren, aber auch das ist, wie das Filtern von Informationen, ein bewusster Vorgang, der Energie erfordert.
Dazu kommt, dass ich, wenn ich mich auf die gesamte Mimik und Gestik konzentrieren würde, nichts mehr vom Gespräch erfassen könnte, daher konzentriere ich mich auf einen Teil der nonverbalen Kommunikation, in meinem Fall Tonlage und Mundbewegungen. Andere Asperger, sofern sie darauf zu achten gelernt haben, beziehungsweise die Möglichkeit dazu hatten, konzentrieren sich auf andere Aspekte.

Ein anderer Aspekt des menschlichen Miteinanders sind Rituale, die nur schwer nachzuvollziehen sind, wenn man sie nicht unbewusst durch Sozialisation erlernte. Das kann manchmal schon bei Kleinigkeiten wie die Verwendung von Bitte und Danke anfangen. Bei mir selbst merke ich, dass solche Dinge schnell mal verloren gehen, wenn grade genug andere Dinge da sind, auf die ich mich konzentrieren muss. So rätseln die Leute, mit denen ich am Karfreitag essen war, wahrscheinlich immer noch wie ich eigentlich heiße, da ich beim koordinieren von Begrüßung und Gesprächen irgendwie vergaß, dass es sich beim kennenlernen von Leuten anbietet, den eigenen Namen zu nennen. Das hat nichts mit schlechter oder fehlender Erziehung zu tun.

Auch hier stellt sich wieder die Frage, wo zur Hölle soll da etwas Positives dran sein. Es ist so, dass viele Menschen in meinem Bekanntenkreis zu mir kommen, wenn sie gerade emotionales oder zwischenmenschliches Chaos haben. Nicht weil ich so gut darin bin, Mitgefühl zu zeigen, sondern eher, weil ich mich mit der Kommunikation und den Gefühlsreaktionen bewusst auseinander gesetzt habe und einen objektiveren Blick “von außen” darauf haben kann. Manchmal sehe ich so Lösungen, die Andere nicht gesehen haben. Wenn Freunde von mir auf der Suche nach Trost sind, bin ich dafür meist sehr weit hinten auf der Liste.

Fazit: Man kann über die Definition aus dem ICD sagen was man will, aber kürzer als mein Text ist sie definitiv. Denjenigen, die sich bis hierher durch den Text gearbeitet heben, möchte ich gratulieren. Dem Rest, der einfach nach unten scrollt und hofft, hier einen kurzen prägnanten Satz zu finden, was Autismus ist, kann ich nur raten das Mausrad wieder nach oben zu bewegen. Einen solchen Satz kann es nicht geben. Autismus ist ein Spektrum und Asperger ein Teil innerhalb dieses Spektrums, es ist bei niemandem gleich ausgeprägt. Nicht jeder hat die oben genannten Probleme in der gleichen Ausprägung und oft genug kommen noch weitere Probleme dazu. Daher kann ein solcher Text, der sich nicht auf reine Definitionen beschränkt, nur subjektiv geschrieben sein.

Autismus ist…

Autismus ist, wenn Dir scheißegal ist, dass Dein Leben den Bach runter geht, aber WEHE DER STIFT LIEGT NICHT GERADE NEBEN DEM BLATT! - @hoch21

Dieser Tweet ziert seit einigen Wochen die Wand über meinem Schreibtisch. Von einigen Menschen wurde ich daraufhin gefragt, warum denn, da würde doch das totale Klischee von Autismus breitgetreten. Andere fragten mich, warum denn, das hätte ja mal überhaupt nichts mit Autismus zu tun. An dieser Stelle möchte ich erklären, warum ich diesen Tweet sehr passend finde.

Wie ich an einigen Stellen schon erklärt habe, merkt man mir meinen Autismus nicht an.
“Aber Moment, müssten deine Kommilitonen nicht merken, wenn du durch den Vorlesungssaal läufst und Stifte gerade rückst?”
Natürlich würden sie das merken, deshalb mach ich das ja auch nicht. Die Liste der autistischen Verhaltensweisen, die gut erkennbar sind, ist lang. Sei es das Sortieren und Anordnen von Gegenständen, das Flattern mit den Händen oder das Wippen mit dem Oberkörper. Aber das tun Autisten nicht zwingend immer und nicht 24 Stunden am Tag. Bei mir ist es, wie bei vielen anderen Autisten die ich kenne, so, dass viele der autistischen Verhaltensweisen nur dann in den Vordergrund treten, wenn ich einen relativ hohen Stresspegel habe.
”Aber wenn du dir aussuchen kannst, wann du solche Sachen machst, warum machst du sie dann überhaupt?”
Sich selbst zurückzuhalten ist dummerweise nicht immer einfach und kostet einiges an Kraft. Nehmen wir zum Beispiel Hildegard. Es fällt ihr sichtlich schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren und nicht weiter auf die Nudel zu reagieren. Ich brauche dazu keine Nudel, manchmal reicht schon ein weißer Faden auf einem schwarzen Pulli, um diesen Effekt zu erzielen, so dass es mich unheimlich viel Konzentration kostet, dem Gespräch weiter zu folgen.

Ein anderer Punkt ist die Sache mit den Umgebungsreizen. Bekanntermaßen sind Autisten schneller als andere Menschen von zu vielen Reizen in ihrer Umgebung überfordert. Dennoch bin ich unter Umständen dazu in der Lage, mich einer Situation, die eigentlich überfordernd ist, länger auszusetzen. Aber, auch wenn ich (meistens) zum Beispiel in der Lage bin, in einer vollen Bar einen Abend zu verbringen, ohne dass man gegen Ende mit dem Finger auf mich zeigt und tuschelt, brauche ich mit Sicherheit den nächsten Tag Ruhe, um zu regenerieren. Dazu bloggte ich hier schon einmal.

Hier liegt auch das Problem, Asperger als leichte Form oder Vorstufe des Autismus zu bezeichnen. Es ist nicht zwingend leichter, es ist nur bis zu einem gewissen Punkt besser möglich, nach außen hin unaufällig zu wirken.

Vom Leben in einer eigenen Welt

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Bei Tchibo gibt es jede Woche eine neue Welt.
Wenn das stimmt, dann hätte ich mir die doch sicher schon bestellt.

Leg dich in die Badewanne – Rainald Grebe

Das Vorurteil, Autisten würden in ihrer eigenen Welt leben, hält sich in den Köpfen mancher Menschen ungefähr so hartnäckig, wie die Behauptung, die Amerikaner seien nie auf de Mond gelandet.
Es gibt eigentlich kaum einen Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel, in dem dieses Vorurteil nicht zu finden ist. Meistens sogar innerhalb der ersten fünf Sätze.

Um es kurz zu machen, viel dran ist an der Sache nicht. Wenn ich in einer eigenen Welt leben würde, so wären die Leute, die das behaupten, die ersten die aus ihr rausfliegen würden.
Ich lebe in keiner anderen Welt als der Rest der Menschheit. Auch wenn das vielleicht manchmal nicht mal das Schlechteste wäre. Was anders ist als bei den meisten Menschen, ist meine Wahrnehmung dieser Welt. Ob zum Besseren oder Schlechteren, hängt von der Situation ab in der ich bin.

Die Frage ist, wie kommt es, dass dieses Vorurteil sich so hartnäckig hält. Die Ursprünge dieser Aussage liegen bisher im Dunkeln. Es bleibt also nur zu spekulieren. Es gibt allerdings einige Erklärungen, die naheliegender sind. Ursprünglich könnte diese Behauptung noch aus einer Zeit kommen, in der Autisten in den Augen der meisten Menschen nichtsprechende, geistig behinderte Menschen waren, die in irgendwelchen Ecken saßen und leicht wippend ein und den selben Satz wiederholten.
Eine andere mögliche Erklärung wurde mir zugetragen, als ich diesen Text zum Korrekturlesen gab. Es wurde der Gedanke aufgeworfen, dass diese Metapher vielleicht auch von manchen Menschen als Sinnbild verwendet werden könnte, um damit die andere Wahrnehmung zu beschreiben, die Autisten haben und die für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist.

Wahrscheinlich gibt es noch eine Reihe anderer möglicher Erklärungen. Die Ursache für diesen hartnäckigen Ausspruch wird irgendwo in der Mitte zwischen allen davon liegen. So nachvollziehbar die Ursachen dafür auch sein mögen, dieser Ausspruch bleibt problematisch, weil das Bild, das durch ihn entsteht, wenn man es losgelöst von seinen möglichen Ursprüngen versteht, in den seltensten Fällen etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat.