Tag Archives: Asperger-Syndrom

Ein paar Worte zu Modediagnosen

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In den letzten Jahren war eine wachsende Anzahl an Diagnosen innerhalb des autistischen Spektrums zu beobachten. Diesen Fakt kann man auf verschiedene Arten betrachten.

Eine Möglichkeit ist, in hoffnungslose Panik zu verfallen und eine Autismus-Epidemie heraufzubeschwören und das Ganze zur nationalen Krise im Gesundheitssystem zu stilisieren. Diese Betrachtungsweise empfiehlt sich besonders, wenn man in den USA beheimatet ist und dringend Geld sammeln muss, um Autismus bekämpfen zu können.

Eine etwas weniger panische Möglichkeit, die überall aus dem Nichts hervorspringenden Autisten zu erklären, ist es, das Ganze zu einer Modediagnose zu machen. Das sind ja ohnehin alles keine richtigen Autisten sondern nur diese weichgespülten. Da man das ja auch immer im Fernsehen sieht, ist Autismus ja gerade besonders cool. Jeder will doch Autist sein.

Vor kurzem über einem Jahr durfte ich hier einen Leserbrief veröffentlichen, der den von den Medien propagierten Mythos der Modediagnose demontierte. In den letzten Monaten stieß ich im Austausch mit anderen Autisten zunehmend häufiger in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf diesen Begriff.

So scheint es zum Beispiel so, dass irgendwo in Deutschland Diagnostiker sitzen, die Patienten erst einmal mit dem pauschalen Verdacht begrüßen, sie wollen nur Autisten sein, weil das grade “In” sei.
Ich erlebe Autisten, die zu ihrer Diagnose sagen, dass sie gestellt wurde, bevor Autismus modern war.
Gestern hörte ich zum zweiten Mal davon, dass die Reaktion des Umfelds auf die Diagnose ein “Ach, das wollen doch jetzt alle sein.” war.

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„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“ (Suchtreffer Teil 3)

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Hinweis: Die Auswahl der Suchen, die ich hier behandeln werde, ist rein subjektiv, nicht zwingend repräsentativ und in keinem Fall vollständig! Die Reihenfolge der hier behandelten Ergebnisse lässt übrigens keinerlei Rückschluss auf die Häufigkeit der Suchtreffer zu.

„Ihr seid doch alle Individuen.“
„Ja, wir sind alle Individuen.“
„Und ihr seid alle völlig verschieden.“
„Ja, wir sind alle völlig verschieden.“
„Ich nicht!“

Das Leben des Brian (1979), Monty Python
(Video im englischen Original)

Einer der Punkte, an denen ich mich in Diskussionen über Autismus immer wieder stoße, ist die Frage, wie man bei Autisten denn Sache X erreichen kann. Es gibt mehrere Sachen, die mich daran stören, erst einmal hat diese Fragestellung ganz oft so einen leichten Anklang von der Frage nach einer Bedienungs- und Manipulationsanleitung. Ich persönlich beantworte diese Frage für mich selbst meist mit einem “Einfach mal nachfragen”.

Das Hauptproblem bei dieser Frage ist aber, dass es eine Gemeinsamkeit schafft wo keine ist. Ein Mensch lässt sich nicht auf seinen Autismus reduzieren.
Wenn man mich fragen würde, wie man bei Menschen Sache X erreichen kann, würde ich wohl eine ganze Reihe von Ideen haben, wie ich bei einzelnen Menschen da Erfolg erziele. (Also jetzt mal abgesehen von Nachfragen …) Aber ich hätte keine einzige Idee, wie das allgemeingültig funktionieren würde. Bei Autisten ist das nicht anders. Sicherlich haben Autisten gewisse Gemeinsamkeiten, aber es gibt eben keine allgemeingültig autistischen Charaktereigenschaften.

“autisten öffnen”

Symbolfoto DosenöffnerSymbolbild

(Ich gehe im nun Folgenden davon aus, dass “Autisten öffnen” im Sinne von “an Autisten herankommen” gemeint ist, für chirurgische Eingriffe bin ich der falsche Ansprechpartner.)
Menschen zu erreichen ist, auch ohne Autismus, eine Sache, die nicht so ganz einfach ist. Wenn man nun einen Autisten vor sich hat, der eher introvertiert ist, macht es die ganze Sache sicherlich nicht einfacher.
Im Grunde unterscheidet sich die Herangehensweise gar nicht so sehr bei Autisten und Nicht-Autisten. Wenn man Menschen erreichen will, wird man das nicht, indem man versucht sie gegen ihren Willen irgendwo herauszureißen.
Die erste Frage sollte ohnehin sein, was will ich von der Person, warum will ich, dass sie sich öffnet, und ist das eigentlich so gut für sie, wenn sie sich jetzt öffnet, oder zwinge ich ihr etwas auf.
Wenn ich einen Menschen erreichen will, betrachte ich wofür sich dieser Mensch interessiert und versuche hierüber eine Verbindung aufzubauen. Es ist für Menschen immer einfacher, sich auf andere einzulassen, wenn das über die eigenen Interessen funktioniert.

„kann ein autist alleine leben“

Ja, Autismus allein ist nicht zwingend ein Grund, kein eigenständiges Leben zu führen. Viele Autisten erhalten ihre Diagnose erst in einem verhältnismäßig fortgeschrittenen Alter. Die allermeisten von ihnen lebten vorher nicht betreut.
Praktisch hängt die Frage nach dem allein Leben hauptsächlich davon ab, wo man sich im Spektrum befindet und wo die Probleme da ganz konkret liegen. So haben Autisten, die nicht in der Lage sind sich selbstständig zu artikulieren, sicherlich mehr Probleme und Herausforderungen, die sie beim alleine Leben meistern müssen, als Autisten mit unauffälligeren Ausprägungen. Wobei auch diese kein Garant sind, dass das mit dem alleine Wohnen problemlos ablaufen wird.
Genauso, wie die Probleme hier sehr stark variieren können, gibt es auch viele Abstufungen der Hilfen, zwischen alleine und betreut wohnen, wie zum Beispiel ambulant betreutes Wohnen oder Haushaltshilfen. Das sollte sich aber nach den wirklichen Problemen im Alltag richten, allein eine Autismus-Diagnose ist noch kein Grund, sich um betreutes Wohnen zu bemühen.

“sprechen autisten über politik?”

Ich bin ein bisschen irritiert darüber, dass es doch einige Menschen gibt, die diese Frage so sehr beschäftigt, dass sie sie googlen. Der böse Teil meiner Selbst würde dazu sagen, dass so oft wie ich “politischer Autismus” in der letzten Zeit als Vorwurf höre, sie nicht nur drüber reden, sondern sie auch machen. Aber das ist ein anderes Thema, dem ich mich hier jetzt nicht unbedingt widmen werde. Das taten schon Andere.

Es gibt eigentlich nichts, über das Autisten nicht sprechen. Auch wenn scheinbar der Eindruck entsteht, dass die Interessen von Autisten sich auf Computer und das Zählen von Zahnstochern beschränken, ist das in der Praxis nicht so. Unerwarteterweise sind die Interessen von Autisten so breit gestreut wie beim Rest der Menschheit auch. Auch wenn es durchaus eine Häufung im Bereich Computer gibt, ist diese meiner Beobachtung nach längst nicht so groß, als dass sich dort irgendwelche allgemeinen Aussagen über die Interessen von Autisten ableiten ließen.

Das Problem, dass versucht wird, Menschen über den Kamm Autismus zu scheren und Gemeinsamkeiten über eine Diagnose hinaus zu schaffen, wo eigentlich keine sind, trifft man immer wieder, aber Autismus ist eben nur Teil von dem, was einen Menschen ausmacht.

Was ist Asperger denn nun…

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Ich verbringe viel Zeit damit, zu erklären, was Asperger nicht ist. Kein Autismus light, keine Vorstufe zu Autismus, und mit Spargel hat es auch nichts zu tun.

Bevor ich darauf eingehe was Asperger ist, möchte ich darauf hinweisen, dass sich dies ausschließlich um meine persönliche Meinung handelt, ich habe nicht den Anspruch eine wissenschaftlich hieb- und stichfeste Definition zu schreiben, sondern beziehe mich auf meine eigenen Erfahrungen sowohl mit mir selbst, als auch mit anderen Asperger-Autisten.

Das Asperger-Syndrom hat im noch aktuellen ICD-10 den Schlüssel F84.5. Damit gehört es zur Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Es “ist durch dieselbe Form qualitativer Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen, wie für den Autismus typisch, charakterisiert, zusammen mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten.” Soviel zur Theorie. Jeder, der aus diesem Satz nach dem ersten Lesen ein treffendes Bild über Asperger-Autisten ableiten kann, darf sich bei mir jetzt eine Tüte Gummibärchen abholen. Für alle anderen bleibt die Frage: Was heißt das in der Praxis?

Es ist üblich, eine Störung/Behinderung an ihren Defiziten zu beschreiben. Das ausschließlich zu tun macht bei Autismus wenig Sinn, vor allem, da nicht alles was gemeinhin als gestört gilt auch zwingend nur negative Seiten hat. Trotzdem möchte ich hier mit den Defiziten beginnen.
Im Grunde lassen sich die Probleme von Asperger-Autisten, nach meiner Beobachtung, in zwei grobe Kategorien einteilen. Probleme mit Umgebungsreizen und Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Hier gibt es aber keine exakte Grenze, sondern eine ziemlich große Schnittmenge zwischen diesen Bereichen.

Zuerst etwas zur Wahrnehmung. Der Mensch nimmt viele Dinge wahr, mehr als er verarbeiten kann. Aus diesem Grund sortiert das Gehirn der meisten Menschen vor. Es trennt wichtige Informationen von unwichtigen und so gelangt nur das, was diesen Selektionsprozess überstanden hat, wirklich in die bewusste Wahrnehmung.
Das funktioniert bei Asperger-Autisten nicht ganz so wie es soll. Die Informationen aus der Umgebung werden wenig oder gar nicht vorsortiert. Das Sortieren der Informationen und das Lenken der Aufmerksamkeit auf die relevanten Teile, zum Beispiel das gerade laufende Gespräch, oder der gerade vortragende Professor, muss bewusst stattfinden. Ich, und das hörte/las ich schon von vielen Asperger-Autisten, habe einen sehr ausgeprägten Detailblick, das heißt ich nehme das Meiste nicht als Gesamtbild wahr, sondern sehe die einzelnen Details nacheinander. So besteht zum Beispiel ein Sonnenuntergang am Meer für mich aus dem Jogger, der mit dem Hund den Strand entlang läuft, dem abgebrochenen Wellenbrecher, der herumfliegenden Plastiktüte, der anderen Farbe, die das Meer an der untergehenden Sonne hat, etc.…

Das bewusste Konzentrieren auf die wesentlichen Aspekte einer Situation kostet Energie, die Menschen, die nicht bewusst Filtern müssen, für andere Dinge verwenden können. Der Punkt, an dem nicht mehr genug Kapazitäten zur Verfügung stehen, um die unwesentlichen Details auszufiltern, ist der Punkt, an dem Asperger-Autisten das Problem der Überforderung haben. Wie sich das anfühlen kann beschreibt Querdenkender an anderer Stelle.

Das ganze klingt erst einmal ziemlich negativ, und das Ganze positiv zu betrachten scheint nicht so einfach. (Wirklich schwer das positiv zu betrachten fällt es aber erst, nach der 8. Stunde Vorlesung zu den Klängen von einer Strandparty, einer Baustelle und Laubbläsern…) Trotzdem kann ich, für mich gesprochen, durchaus auch die positiven Seiten einer anderen Wahrnehmung sehen. Dadurch, dass mehr Details meine bewusste Wahrnehmung erreichen, bekomme ich Dinge mit die vielen Anderen entgehen. Was zum Beispiel beim Suchen nach Fehlern und Defekten ziemlich praktisch ist.

Die andere grobe Kategorie ist der Umgang mit anderen Menschen. Die Besonderheiten hier sind sicherlich auch mitbedingt durch die andere Wahrnehmung. Manche Menschen gehen sogar soweit, alles auf die Wahrnehmung zurückzuführen.
Kommunikation zwischen Menschen ist ein komplexer Vorgang, auch wenn sich die meisten darüber nicht bewusst sind. Viele Informationen in der Kommunikation werden nicht allein von Sprache übermittelt. Nonverbale Kommunikation macht hier einen großen Anteil aus.  Mithilfe von Mimik, Gestik, Tonlage, Körperhaltung und auch Blicken wird der rein sachlichen/informativen Bedeutung der Sprache zusätzliche Bedeutung verliehen. Diese kann entweder die sprachlich übermittelte Information unterstützen, oder sie auch komplett umdrehen. So bedeutet ein “Nein, Schatz ich bin nicht sauer auf dich” im entsprechenden Tonfall meist alles, aber auf keinen Fall, dass der Partner nicht sauer ist.
Die meisten Menschen interpretieren diese nonverbale Kommunikation unbewusst, sie “wissen” einfach wie etwas gemeint ist. Anders bei Asperger. Ich war mir lange Zeit nicht darüber bewusst, dass man Dinge manchmal anders sagt als man sie meint, oder man ohne es zu sagen weitere Informationen mitliefert. Bis ich anfing, mich, damals zwangsweise im Deutschunterricht, mit Schulz von Thun und seinen Seiten einer Nachricht auseinanderzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die nonverbale Kommunikation nicht wahrgenommen, und dadurch auch nie darüber nachgedacht, sie zu interpretieren. Nachdem ich wusste, dass sie da ist konnte ich lernen sie zu interpretieren, aber auch das ist, wie das Filtern von Informationen, ein bewusster Vorgang, der Energie erfordert.
Dazu kommt, dass ich, wenn ich mich auf die gesamte Mimik und Gestik konzentrieren würde, nichts mehr vom Gespräch erfassen könnte, daher konzentriere ich mich auf einen Teil der nonverbalen Kommunikation, in meinem Fall Tonlage und Mundbewegungen. Andere Asperger, sofern sie darauf zu achten gelernt haben, beziehungsweise die Möglichkeit dazu hatten, konzentrieren sich auf andere Aspekte.

Ein anderer Aspekt des menschlichen Miteinanders sind Rituale, die nur schwer nachzuvollziehen sind, wenn man sie nicht unbewusst durch Sozialisation erlernte. Das kann manchmal schon bei Kleinigkeiten wie die Verwendung von Bitte und Danke anfangen. Bei mir selbst merke ich, dass solche Dinge schnell mal verloren gehen, wenn grade genug andere Dinge da sind, auf die ich mich konzentrieren muss. So rätseln die Leute, mit denen ich am Karfreitag essen war, wahrscheinlich immer noch wie ich eigentlich heiße, da ich beim koordinieren von Begrüßung und Gesprächen irgendwie vergaß, dass es sich beim kennenlernen von Leuten anbietet, den eigenen Namen zu nennen. Das hat nichts mit schlechter oder fehlender Erziehung zu tun.

Auch hier stellt sich wieder die Frage, wo zur Hölle soll da etwas Positives dran sein. Es ist so, dass viele Menschen in meinem Bekanntenkreis zu mir kommen, wenn sie gerade emotionales oder zwischenmenschliches Chaos haben. Nicht weil ich so gut darin bin, Mitgefühl zu zeigen, sondern eher, weil ich mich mit der Kommunikation und den Gefühlsreaktionen bewusst auseinander gesetzt habe und einen objektiveren Blick “von außen” darauf haben kann. Manchmal sehe ich so Lösungen, die Andere nicht gesehen haben. Wenn Freunde von mir auf der Suche nach Trost sind, bin ich dafür meist sehr weit hinten auf der Liste.

Fazit: Man kann über die Definition aus dem ICD sagen was man will, aber kürzer als mein Text ist sie definitiv. Denjenigen, die sich bis hierher durch den Text gearbeitet heben, möchte ich gratulieren. Dem Rest, der einfach nach unten scrollt und hofft, hier einen kurzen prägnanten Satz zu finden, was Autismus ist, kann ich nur raten das Mausrad wieder nach oben zu bewegen. Einen solchen Satz kann es nicht geben. Autismus ist ein Spektrum und Asperger ein Teil innerhalb dieses Spektrums, es ist bei niemandem gleich ausgeprägt. Nicht jeder hat die oben genannten Probleme in der gleichen Ausprägung und oft genug kommen noch weitere Probleme dazu. Daher kann ein solcher Text, der sich nicht auf reine Definitionen beschränkt, nur subjektiv geschrieben sein.