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Wovor ich Angst habe

Wenn man sich mit Autismus und den Medien beschäftigt, kann es mitunter passieren, dass man ganz furchtbaren Bluthochdruck bekommt. Viele Autisten werden nicht müde gegen all diese Fehldarstellungen, misskonstruierten Zusammenhänge und sachlichen Fehler anzuschreiben. Da werden Blogbeiträge geschrieben, Redaktionen angemailt und auch sonst auf den erdenklichsten Wegen versucht, gegen die Windmühlen der Redaktionen anzukämpfen.

Oft wird man dafür nur belächelt. Immer öfter muss man sich dafür rechtfertigen, warum man sich denn die ganze Mühe macht. Sollen die doch alle ihren Mist schreiben. Tut ja niemanden weh. Aktuell hat der Fokus wieder einmal einen Artikel geschrieben, der ja niemandem weh tut. Exakt zu begründen warum man sich darüber aufregt ist schwierig. Sicherlich geht es zum Teil auch einfach um das Prinzip, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn es mag stimmen, dass so ein einzelner Artikel niemandem groß weh tut.

Aber dummerweise ist es nie nur ein einziger Artikel. Es sind viele Artikel, immer wieder. Die immer wieder das gleiche falsche Bild von Autismus vermitteln. Das Bild von geistig behinderten gefährlichen Kriminellen und Amokläufern. Der Schaden jedes einzelnen dieser Artikel mag minimal sein, aber der Schaden den all diese Artikel gemeinsam anrichten ist immens. Durch diese konstante falsche Berichterstellung werden eben die Bilder in die Köpfe transplantiert. Je mehr Artikel, desto mehr festigen sich diese Bilder. Getreu dem Sprichwort des steten Tropfens, der den Stein höhlt.

Genau davor habe ich Angst. Denn das ist schon lange keine Hypothese mehr, sondern bereits jetzt Realität. Jeder der das sehen will, braucht dafür nur die Kommentare unter dem aktuellen Artikel des Focus zu lesen. @pollys_pocket war so nett die besten zusammenzutragen, einfach auf das gewünschte Bild klicken um es zu vergrößern:1

Wer sich die Kommentare nicht anschauen möchte, in der Kurzfassung ist, dass man geistig Behinderten halt keine Verschlusssachen anvertrauen sollte. Gepaart mit etwas Kritik daran dass Autismus ja ohnehin nur so eine Modediagnose ist, die dazu dient das Eltern Boni für ihre Kinder rausschlagen wollen. Dazu wird Autismus fröhlich mit krankhaftem Größenwahn, Selbstüberschätzung und einer Kontrollmanie gleichgesetzt, die letzten Endes zum Untergang der westlichen Welt führen wird.

All das verdeutlicht mir nur eines, der Schaden den diese Artikel anrichten ist kein Hirngespinst, oder eine bloße Angst vor denen die paar Autisten, die sich bloß aufregen wollen Paranoia haben. Das Bild dass all diese „falschen, aber im Grunde harmlosen“ Artikel von Autismus malen ist bereits in den Köpfen der Menschen angekommen. Menschen von denen ich befürchten muss, dass ich in meinem Alltag auf sie stoße, die mich allein aufgrund meiner Diagnose für eine Bedrohung und geistig behindert halten. Diese Vorstellung macht mir eine verdammte Angst. Aber das sollten mir die Klickzahlen der Online-Redaktionen dann doch wert sein.

 

Einen Beleg für die Behauptung der Spion sei Asperger-Autist hat der Focus übrigens in dem Artikel nicht angeführt.

Der Kopfhörer bleibt drinnen.

Es gibt einige, meist persönlich geprägtere, Texte, die überlege ich schon lange zu schreiben. Bei der Überlegung bleibt es dann aber lange Zeit nur, weil diese Texte ein großes Potenzial haben, missverstanden zu werden, worauf sich dann Leute furchtbar auf den Schlips getreten fühlen, was ich in der Regel vermeiden will. Nun schreibe ich diesen Text trotzdem, einfach nur weil ich keinen Nerv mehr darauf habe, von anderen Menschen erklärt zu bekommen, dass ich mich jetzt anständig verhalten solle.

Der Stein des Anstoßes sind meine Kopfhörer. Seitdem sich tragbare Musikabspielgeräte durchgesetzt haben, nehmen die dazugehörigen Abendlandsuntergangsszenarien nicht ab. Millionen Menschen mit Hörschäden, niemand redet mehr miteinander, wir werden alle zu Zombies. Was davon übrig bleibt, zeigt die Zeit gerade. Aber es gibt noch eine weitere Sache, die im Rahmen von öffentlich kopfhörertragenden Menschen immer wieder ins Feld geführt wird. Nämlich, dass diese Dinger einfach nicht rausgenommen werden. Auch nicht in Gesprächen, was von allen Beteiligten (zurecht) als ziemlich unhöflich empfunden wird und zu allgemeinen Verstimmungen führt. Auch ich mache meine Kopfhörer raus wenn ich mich mit anderen Menschen unterhalte.

Meistens.

Gegen den Krach gibt es auch eine Waffe. Anderen Krach. Aber besseren Krach.

Das Problem ist, dass es im Alltag Situationen gibt, in der die Menge und Anzahl der Hintergrundgeräusche ein Level erreicht, dass ich es nur durch Konzentration allein nicht mehr schaffe auszublenden. An dieser Stelle habe ich in etwa drei Alternativen. Die erste wäre, mir das Trommelfell durchzustechen, was aber eine ziemliche Sauerei ist und ich deshalb vermeiden wollen würde. Ansonsten bleibt, den Lärm künstlich auszufiltern. Das ginge entweder durch Gehörschutz oder durch Übertönen.
Man muss sagen, ich mag meinen Gehörschutz sehr, – an sehr vielen Wohnheimtagen ist er das einzige, was zwischen mir und einem Schreikrampf steht – aber es gibt Situationen, in denen er einfach unpraktisch ist, da man ihn nicht mit einer einhändigen schnellen Handbewegung in die Ohren rein und auch wieder raus bekommt, geschweige denn unaufällig. Außerdem kann ich nicht regulieren, wie stark er die Außengeräusche dämpft, es gibt nur Krach oder Stille.

Also bleibt als Alternative, den Lärm zu übertönen, wie in diesem treffenden „Ben X“-Zitat beschrieben. Das Problem kommt dann, wenn die Interaktion mit Menschen dort stattfindet, wo grade zu viel Hintergrundgeräusche vorhanden sind, wie oftmals im Einzelhandel. Seien es übervolle Supermarktkassen, Bäckereien mit piepsenden dröhnenden Öfen im Hintergrund oder Weihnachtsmarktstände. (Wobei bei denen der Lärm echt nicht das einzige Problem ist.) So kommt es also dazu, dass ich in solchen Situationen jedes Mal vorher meinen Überforderungszustand gegen die Unhöflichkeit abwägen muss, die ich dem Einzelhandelsverkaufswesen antue.

Bleibt der Kopfhörer also drinnen, gibt es viele Menschen, die da einfach nicht drauf eingehen, eventuell weil Sie es nicht bemerken, oder weil es ihnen egal ist, oder sie ärgern sich, aber sagen nichts. Dazu muss man sagen, dass solche Situationen in der Regel relativ vorhersehbar sind, dass ich mit etwas Grundlagenfähigkeit im Lippenlesen und Aufmerksamkeit durch einen kompletten Bestell- und Kassiervorgang komme, ohne dass ich auch nur ein Wort von dem hörte, was man mir sagte und das sogar inklusive dem Umstand, dass ich einen angenehmen Tag beim Gehen wünsche. Sollte es doch zu etwas Unerwartetem kommen, muss ich dann halt doch den Handgriff machen und die Kopfhörer rausnehmen.

Es gibt aber auch Menschen, die fühlen sich durch meine Kopfhörer so herabgewürdigt, dass sie das nicht so stehen lassen können und, statt ihre Arbeit zu tun, mir erklären, wie ich mich anständig zu verhalten habe, und auch erst Ruhe geben, wenn ich die Kopfhörer aus den Ohren genommen habe. Eine Kassiererin in einem örtlichen, von Baulärm geplagten Supermarkt ging dabei sogar soweit, mich nicht abkassieren zu wollen, solange ich die Kopfhörer nicht rausnehme. (Ähnliches passierte auch schon mit Sonnenbrillen in Banken.)

Natürlich kann ich verstehen, dass es diese Menschen als unhöflich verstehen. Ich könnte auch verstehen, wenn sie mir das sagen würden. Gespräche wie „Es ist ziemlich unhöflich, die Stöpsel nicht rauszunehmen, wenn Sie mit mir reden.“ – „Ja, tut mir auch Leid, geht aber gerade leider nicht anders.“ sind in der Vergangenheit durchaus vorgekommen, und danach waren beide Seiten zumindest irgendwie halbwegs befriedigt. Was halt einfach nicht geht, ist, dass diese Menschen dann erziehend tätig werden, denn dies steht nach wie vor nur meinen Eltern oder Strafgerichten zu, aber sonst niemandem, zumindest sofern dieser mich nicht adoptiert.

Natürlich wissen sie nicht, dass ich in der Situation nicht viel Wahl habe, und die Situationen sind in den seltensten Fällen so gestaltet, dass ich es ihnen so erklären könnte, dass sie es auch wirklich verstehen. Natürlich ist es das naheliegende, davon auszugehen, dass mir die Höflichkeit in dieser Situation einfach nur egal ist. Die Realität sieht aber halt bei gar nicht so wenigen Menschen anders aus. Und ich glaube auch nicht, dass den Menschen hinterm Tresen damit geholfen wäre, dass ich zu überfordert wäre, um vernünftig zu bezahlen, wenn sie im Gegenzug das Gefühl hätten, meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wie soll ich wissen wie es klingt, bevor ich höre was ich sage?

Vor 2 Jahren schrieb ich darüber, wie ich Kommunikation interpretiere und darüber, wie Missverständnisse dabei auftreten. Bei dem, was ich dort zu Missverständnissen schrieb, beschränkte ich mich darauf, wie ich das interpretiere, was andere mir sagen und das zu viel Interpretation auch wieder Probleme verursachen kann. Dabei habe ich mich mit einem ganz wesentlichen Aspekt nicht beschäftigt, denn die Frage ist, wie funktioniert das eigentlich anders herum?

Genauso, wie jede Nachricht, die mein Gegenüber mir kommuniziert unterschiedliche Ebenen der Bedeutung haben kann, hat jede Nachricht die ich meinem Gegenüber kommuniziere ebenso unterschiedliche Bedeutungsebenen. Und das vollkommen unabhängig davon, ob ich das nun möchte, oder nicht.

Man kann nicht nicht kommunizieren!“

Die meisten Menschen erwarten diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen in den Aussagen ihres Gegenübers, ohne es zu merken. Das ist auch gar nicht verwerflich, denn im Normalfall sind diese Bedeutungsebenen ja auch da, was das Gegenüber intuitiv weiß. Problematisch wird es dann, wenn das Gegenüber diese Ebenen nicht intuitiv erkennt.

Im Extremfall bedeutet dies, dass die Aussage in ihrer Bedeutung komplett umgekehrt wird. Auch wenn das Beispiel im Allgemeinen etwas überstrapaziert ist, ist den meisten Menschen klar, dass „Natürlich bin ich nicht sauer auf dich.“ mitunter auch das komplette Gegenteil bedeuten kann. Umgekehrt kann es dieses Problem genauso geben. Wenn man sagen will, dass man nicht sauer ist und diesen Satz verwendet, würden viele Menschen verstehen man sei sauer.

Die Frage ist, wie man damit nun umgehen kann?
Für den Alltag bedeutet das, dass ich nicht nur überlegen muss, welche weiteren Bedeutungen, über die wörtliche hinaus, die Aussage des anderen hat, sondern dass ich das was ich selbst sagen möchte, genauso daraufhin untersuchen muss, wie es auf mein Gegenüber wirkt. Würde ich das bei jedem Satz aufs neue machen, hätte jeder Satz, den ich äußere, eine Gesprächspause von 2 Minuten vorweg, was für einen flüssigen Gesprächsfluss unter Umständen ein Hemmnis sein könnte.

Das zu vermeiden gelingt meist nur mit Erfahrung.
Um das Beispiel erneut zu bemühen, weiß ich um den Subtext der Formulierung und meide sie daher. Das funktioniert auch in weniger offensichtlichen Fällen.

Die Voraussetzung dazu ist allerdings, dass ich darüber nachdenke, das es dort ein Problem gibt und das die Aussage anders verstanden wurde als ich sie gemeint habe. Wenn die Aussage so verstanden wurde, kann es dann halt unter Umständen so sein, dass es bereits zu spät ist und die Person mitunter schon nicht mehr mit mir redet. Wenn ich Glück im Unglück habe, hat sie mir vorher noch ins Gesicht gebrüllt, was ich ihr angetan habe und ich kann eventuell noch etwas retten, oder zumindest einfach verhindern, dass ich diesen Fehler noch einmal mache.

Das ist allerdings nicht unbedingt die Wunschkonstellation, denn es bedeutet, dass man eine Person, die man mag, verletzt, oder im Extrem sogar verloren hat. Wenn man Glück hat, kennt man die Person gut genug, um zu wissen, dass es nicht so gemeint war. Aber selbst dann ist es nicht einfach, denn egal, was man sich rein logisch überlegt, im ersten Moment wird man so gut wie immer trotzdem gekränkt sein.

Doch auch wenn es schwerfällt, ist es mitunter die Lösung, die auf lange Sicht am besten funktioniert, in solchen Situationen zu sagen, dass eine Aussage grade verletzend, beleidigend, unfair oder sonst irgendwie unpassend war. Dann hat der Andere die Chance zu erklären wie es gemeint war und sich gegebenenfalls zu entschuldigen. Der Lerneffekt daraus ist mitunter sogar noch besser als wenn man sauer auf die Person ist, denn so kann Sie noch nachfragen, was das Problem war, statt im Nachhinein interpretieren zu müssen.
Und langfristig dürfte dieser Weg für beide Seiten deutlich einfacher sein, wenn beide sich nicht mit Menschen streiten, den Sie eigentlich mögen, auch wenn es in der Situation selbst definitiv nicht einfach ist.

Gastbeitrag: Eine Diagnose ist kein Schimpfwort

Der folgende Text ist ein Gastbeitrag von Sophia. Sie ist Asperger-Autistin und 18 Jahre alt. Wenn Sie nicht grade Gastbeiträge für mich schreibt, studiert sie.


Zur Zeit ist es eine meiner Hauptbeschäftigungen, andere Menschen – vor allem auf Twitter – darauf hinzuweisen, dass die Verwendung des Begriffs „Autismus“ als Beleidigung die Betroffenen verunglimpft. Leider reichen die 140 Zeichen meistens nicht aus, um zu erklären, warum genau ich und viele andere Autisten uns dadurch beleidigt fühlen, daher tue ich das nun an dieser Stelle. Aber um meinen und den Ärger vieler anderer Betroffener zu verstehen, muss man erst mal wissen: Was ist eigentlich Autismus?

Vereinfacht gesagt ist Autismus eine andere Art der Wahrnehmung, bei der die Betroffenen Probleme damit haben, nonverbale Signale wie Mimik, Gestik oder Tonfall richtig zu interpretieren. Normalerweise funktioniert das ganz automatisch, ohne dass man darüber nachdenken muss. Anders bei Autisten: All diese Dinge müssen mühsam erlernt werden. Da aber ein großer Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation nonverbal erfolgt, kommt es häufig zu Missverständnissen. So erhält der Satz „Das hast du aber toll gemacht“ je nach Betonung und Gesichtsausdruck eine ganz andere Bedeutung. Betroffene haben durch diese Kommunikationsprobleme häufig Schwierigkeiten, sich in Gruppen zu integrieren und Kontakte zu knüpfen, viele gelten als „Sonderlinge“.

Was ist nun das Problem, wenn der Begriff „Autismus“ als Synonym für arrogantes oder selbstbezogenes Verhalten verwendet wird? Wie bereits beschrieben, haben Betroffene häufig  soziale Schwierigkeiten. Das heißt aber nicht, dass sie kein Interesse daran hätten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten – sie wissen halt nur nicht, wie das funktioniert. Viele Autisten investieren jedoch große Mühen darin, sich so normal wie möglich zu verhalten und nicht anzuecken. Autisten leben eben nicht in ihrer eigenen Welt und anders als vielfach angenommen sind sie durchaus zu Empathie fähig.

Daher ist es falsch, Autismus mit Arroganz und asozialem Verhalten gleichzusetzen. Wer also – und das muss ja nicht einmal böswillig gemeint sein – Autismus als Synonym für eben jene Eigenschaften verwendet, erzeugt ein falsches und negatives Bild davon, was Autismus ist und trägt zu einer Stigmatisierung der Betroffenen bei. Bitte lassen Sie es also. Danke.

 

Rühr mich nicht an!

Der nachfolgende Text ist ein Gastbeitrag, der sich mit den subjektiven Eindrücken und Erfahrungen von Sexualität im Kontext von Autismus befasst. Diese Erfahrungen sind keineswegs prototypisch für alle Autisten, sondern zeigen lediglich eine Möglichkeit auf. Der Text enthält Erwähnungen von BDSM.

Die Autorin (Name dem Redakteur bekannt) ist selbst Autistin und in ihren 20ern.

Ich möchte diesen Text lesen

Man kann alles schaffen, wenn …

Der nachfolgende Text bezieht sich auf Autisten, er ist jedoch ohne weiteres auf weitere psychische Störungen oder Erkrankungen übertragbar.


Wenn man nur genug will, kann man alles schaffen. Wenn man sich nur genug Mühe gibt. Das ist in etwa die Meinung eines gefühlten Drittels aller Kindersendungen und scheinbar auch das Lernziel von einem Haufen Eltern, mit denen ich leider zu tun habe.

Dann schlage ich doch das nächste Mal vor, dass sie, wenn das nächste Mal ein Rollstuhlfahrer vor ihnen am Fahrstuhl steht, hingehen und ihn einfach mal ermutigen, dass er doch auch die Treppe nehmen kann. Oder zumindest die Rolltreppe, aber ein bisschen Entgegenkommen sollte man ja schon erwarten können. Man kann ja nicht die kompletten Erwartungen zurück schrauben.

Würden Sie nicht tun? Würde auch niemand anders tun mit der Intelligenz oberhalb eines Terrassenfarns? Dann stellt sich mir an dieser Stelle die Frage, WARUM ZUM HENKER ERLEBE ICH IM MOMENT MINDESTENS EINMAL DIE WOCHE, DASS IRGENDEIN FARNERSATZ MEINT, AUTISTEN ZU ERZÄHLEN, SIE KÖNNTEN JA AUCH GANZ NORMAL SEIN, WENN SIE SICH NUR NICHT SO ANSTELLTEN?

Dieses Motiv taucht in den unterschiedlichsten Varianten auf und ist auch nicht nur auf Autismus beschränkt. Es scheint einige viele Menschen zu geben, die offenbar nicht dazu in der Lage sind zu erfassen, dass nur, weil sie etwas nicht sehen können, es nicht zwangsläufig nicht da ist. Das mit dem Sauerstoff funktioniert ja auch seit einigen Jahrtausenden, ohne dass den irgendwer sieht. Auf diese Weise werden Nachteilsausgleiche verweigert, denn alle müssen sich ja anstrengen, oder Druck aufgebaut, sich auch endlich mal Mühe zu geben, damit man normal ist.

Der Druck, der damit aufgebaut wird, ist verheerend. Menschen wird damit eingeredet, dass sie ja im Grunde vollkommen normal sind, weil alle Körperteile ja an der richtigen Stelle sind und sie sich nur mal zusammenreißen können.

… Wenn man einem Menschen das lang genug erzählt, glaubt der das irgendwann.

… Wenn Menschen das nur genug glauben, setzen sie sich solange selbst unter Druck normal zu sein, dass sie den Druck, der ohnehin schon auf sie ausgeübt wird, nochmal multiplizieren. Das Ergebnis sind mitunter Menschen mit einem Selbstwertgefühl, das an Hass grenzt, Menschen, die mit dem konstanten Gefühl leben, versagt zu haben.

Aber vor allem sind es Menschen, die dadurch weit hinter dem zurückbleiben was sie können. Druck auf Menschen ausüben hilft ihnen nicht dabei, mit Sachen umgehen zu lernen. Menschen einzureden, sie seien ganz normal und nur faul, hilft ihnen nicht, ihre Bedürfnisse zu erkennen und sie zu berücksichtigen. Ich treffe immer mehr solcher Menschen, die zusätzlich zu ihren Problemen, die sie in den Griff hätten kriegen können, nun noch Depressionen dazu bekommen haben. Natürlich sollte man sich nicht auf der Diagnose ausruhen, aber Druck ausüben, um die gleiche Leistung zu erhalten, wie bei Nicht-Autisten, wird nicht helfen.

Einen Rollstuhlfahrer würden Sie vor der Treppe auch nicht anfeuern, sondern eher Fragen, ob Sie helfen können. Der einzige Unterschied ist, dass Sie die meisten Autisten erst lange reizen müssen, um es bei ihnen zu bemerken. Also seien Sie kein Farn.

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Grenzwertbetrachtung

Ich könnte an dieser Stelle mit meiner Bildung angeben und mir hochtrabende Zitate über das Überschreiten des Rubikon zusammengooglen. Ich kann aber auch einfach so einen Text über die eigenen Grenzen zu schreiben.

Jeder Mensch hat Grenzen, aber nicht jeder Mensch ist sich dieser Grenzen auch bewusst. Bis ich mir meiner Grenzen wirklich bewusst wurde, verging nach meiner Diagnose noch einige Zeit. Und noch länger, bis ich in der Lage war, meine Grenzen auch zu berücksichtigen. Das bekamen in meiner Jugend vermutlich am meisten meine Eltern zu spüren, wenn ich über den Tag so viel Energie in Schule und Ehrenamt aufgewendet hatte, das nicht mehr genug Konzentration dafür übrig war, mit ihnen einigermaßen klarzukommen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass vermutlich die Schule allein ausgereicht hätte, um mich auszulasten. Das wurde auch nur bedingt besser, nachdem ich zu lernen begann, mehr Rücksicht auf meine eigenen Bedürfnisse zu nehmen. Zwar hatte ich in der Schule die Möglichkeit, mir eine ruhige Ecke zu suchen, aber die Schule an sich stellt genügend Anforderungen, denen man nicht entgehen kann. Zumindest nicht, wenn man in irgendeiner Weise an  einigermaßen erträglichen Noten interessiert ist. So oft, wie ich mit Eltern schon diskutierte, warum ihre Kinder ausflippen wenn sie nach Hause kommen, obwohl es in der Schule doch ging, scheint die Schule allein schon in der Lage zu sein, die Grenzen von vielen Autisten zu überschreiten.

Nun lernte ich irgendwann, dass ich Grenzen habe und es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, auf diese dann auch mal Rücksicht zu nehmen. Noch dazu lernte ich irgendwann auch “Nein” zu sagen und nicht immer jedem ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu helfen. Ich lernte meine Kräfte so aufzuteilen, dass ich damit über den Tag komme und der Streit wurde weniger. An dieser Stelle könnte ich den Blogpost schließen, aber irgendwie bin ich nicht in der Stimmung für künstliche Happy Ends. Das Problem ist, dass diese Grenzen keine harten Mauern mit Stacheldraht davor sind. Vielmehr sind es mehrere Grenzen, die unterschiedlich  schwer zu überwinden sind. Aber keine dieser Grenzübertritte bleibt folgenlos.

Überwindung fängt schon an, wenn ich die Wohlfühlgrenze überschreite. Das kann  mitunter durch  ganz unterschiedliche Situationen geschehen, wie zum Beispiel das Einkaufen in einem überfüllten Supermarkt. Unter idealen Bedingungen, mit Sonnenbrille, guten Kopfhörern und einem geringen Anteil an Interaktionsbedürftigen Kunden oder Angestellten, brauche ich danach knapp 2h Ruhe um wieder einigermaßen auf das gleiche Level an Leistungsfähigkeit zurück zu kommen, welches ich vor dem Supermarktbesuch hatte. Unter schlechteren Bedingungen kann es mitunter  passieren, dass ich den Rest des Tages nicht mehr viel Konstruktives schaffe und man an solchen Tagen auch nicht viel Sozialkompetenz erwarten sollte.

Größere Grenzübertritte bezahle ich in der Regel mit höheren Regenerationszeiten und Zeiten, in denen die soziale Interaktion nicht auf dem Level funktioniert, dass ich mir über die Jahre erarbeitet habe. Mitunter kann es passieren, dass ich schon in der Situation selbst nicht mehr vollständig angepasst und vor  allem angemessen interagiere. So passieren mir zum Beispiel bei Gruppenarbeiten, die sich über mehrere Tage hinziehen, mit steigender Zeit häufiger Mal Patzer, die mir unter normalen Bedingungen nicht passiert wären.

Das Überschreiten der persönlichen Grenzen funktioniert so lange, wie ich zwischen diesen Situationen ausreichende Erholungsphasen zugestanden bekomme. Kritisch ist es, wenn Termine so nah beieinander liegen, dass dazwischen keine Zeit bleibt, um wieder runter zu  kommen. Passiert das zu oft, sinkt meine Konzentration und damit meine  Sozialkompetenz kontinuierlich. Die Zeit, die ich brauche um mich wieder zu  erholen, potenziert sich von fehlender Erholung zu fehlender Erholung immer mehr, bis ich irgendwann außerhalb der Situationen, in denen ich irgendwie funktionieren muss, nur noch ohne nennenswerte Aktivität vor mich hin existiere. In so einer Situation helfen auch komplett freie Tage nur insoweit, als dass sie verhindern, dass es noch schlimmer um meine Kraftreserven steht und ich somit  noch ein bisschen länger durchhalte.

Aktuell befinde ich mich am Ende einer solchen Phase, die durch mein Studium bedingt war und mehrere Monate anhielt. Es brauchte einige freie Wochen und einige Tage am Strand, damit ich überhaupt wieder in der Lage war, diesen Text zu tippen und ich habe die Befürchtung, bis ich wieder so belastbar bin  wie vor dieser Phase, wird es mehr Zeit brauchen, als die vor mir liegenden Semesterferien bieten. Und während ich das hier schreibe, erklärt irgendwer ungefragt Autisten, dass sie sich ja nur mal zusammenreißen und über ihren Schatten springen müssen.

Wollen Sie den Kontakt wirklich beenden?

Warum wollen Sie unseren Service nicht mehr nutzen?

Man trifft diese Frage mittlerweile überall, wo man einen Account löscht oder ein Abo kündigt. Dort kann man dann einige Angaben machen, ob man zu viel Spam bekommen hat, ob man allgemein unzufrieden war oder ob der Dienst drei URLs weiter vielleicht einfach schönere Augen hat. Auf diese Weise weiß der Anbieter dann, woran es lag, dass er einen Nutzer weniger hat und kann diese Information theoretisch sogar nutzen.

Ich hätte so einen Fragebogen gerne für Menschen.

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