Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

– Friedrich Nietzsche

Über Autismustherapien kann man im Grunde nur Falsches schreiben. Es gibt unglaublich viele verschiedene, die sehr unterschiedlich fundiert sind und auf jede Therapie, die hilft, kommen mindestens zwei, die mehr schaden als dass sie irgendwem nutzen. Dazu kommt, dass je nach Mensch und seinen individuellen Problemen auch ganz unterschiedliche Therapieansätze greifen können. Nicht immer muss Autismus auch mit Therapiebedarf einhergehen. In welche Richtung das dann gehen kann, habe ich in einem Blogpost zum Thema Therapie schon dargelegt.

Unabhängig von der Frage, wie man seine Probleme therapiert, stellt sich aber auch die Frage, was überhaupt therapiert werden soll. In dem zuvor verlinkten Blogpost zu Therapien schrieb ich auch über die Therapieformen, bei denen mittels Werkzeugen der Konditionierung Blickkontakt, Händeschütteln oder ähnliches antrainiert werden soll. Tatsächlich ist Blickkontakt bei vielen Angeboten, die es so gibt, eines der Hauptziele, an denen es zu arbeiten gilt. Dort werden Regeln aufgestellt, in welchen Situationen man wie lange und auf welche Weise in die Augen des Gegenübers schauen muss. Auf den ersten Blick ist das verständlich. Bei halbwegs kommunikativen Autisten ist der fehlende Blickkontakt eines der auffälligsten Merkmale. Wenn dieser erlernt wurde, fühlen sich die Menschen in der Umgebung wohler und der Autist fällt weniger auf.

Bevor man sich mit der Frage beschäftigt, wie man Autisten am besten darauf trainiert, Blickkontakt aufzunehmen und zu halten, sollte man sich eine ganze andere Frage stellen:
Warum schauen Autisten ihrem Gegenüber eigentlich nicht in die Augen?

Ich kann an dieser Stelle natürlich nicht für andere Autisten sprechen, aber mich überfordert der Blick in die Augen meines Gesprächspartners sehr schnell. Die Augenpartie ist eine Körperregion, die im Kontext von Gesprächen Unmengen an Informationen vermittelt, welche aber für mein Empfinden vergleichsweise schwer und nur mit viel Konzentration zu interpretieren sind. Dazu kommt, dass ich die Informationen ja nicht nur wahrnehmen, auf die wesentlichen Dinge filtern und den Rest ignorieren müsste, sondern auch noch eine angemessene Reaktion von mir auf diese Erkenntnisse finden muss. Zusätzlich dazu müsste ich dann noch Konzentration für die inhaltliche Ebene des Gesprächs aufwenden, denn was nutzt es zu wissen, wie mein gegenüber Dinge sagt, wenn ich keine Ahnung habe, was es eigentlich grade sagt. Unabhängig vom Blickkontakt ist Kommunikation für mich kein Gesamtkonzept, sondern ich nehme Subtexte, Sachinhalte, sowie Gestik und Mimik als einzelne Dinge wahr, deren Interpretation ich jedes mal zu einem (im Idealfall) stimmigen Gesamtbild zusammenfüge.

Ich wäre also sehr wohl in der Lage, einer anderen Person in die Augen zu schauen. Allerdings würde mir die Konzentration für den Rest des Gespräches fehlen, so dass meine Beteiligung langfristig auf das Niveau eines geschmolzenen Gummibärchens sinken würde, weil ich kaum in der Lage wäre, das alles in Echtzeit zu tun.

Eine wesentliche Frage, ist die nach dem Nutzen des Blickkontakts. Mir wurde nie antrainiert, jemandem in die Augen zu schauen. Sehr wohl erlangte ich irgendwann die Erkenntnis, dass man Menschen zumindest ins Gesicht schauen sollte, wenn man ein Gespräch mit ihnen führt, um Aufmerksamkeit auszudrücken. Das geht aber auch sehr gut, ohne einander dabei in die Augen zu schauen. In Situationen, in denen es wirklich auf einen guten Eindruck ankommt, blicke ich dabei auf den Nasenrücken, der ist nah genug an den Augen, so dass niemand den Unterschied bemerkt, mir bleibt aber die Informationsdichte der Augen erspart.
Im Alltag schaue ich zwar ins Gesicht meines Gegenübers, konzentriere mich dabei aber auf den Mund. An der Mundpartie lassen sich ebenfalls viele nonverbale Bestandteile eines Gesprächs festmachen, es sind zwar wesentlich weniger als an den Augen, aber es reicht immer noch aus, um Humor oder Sarkasmus ausreichend zu erkennen. Manchmal fällt das den Menschen auf, insbesondere den Hobbypsychologen, die an fehlendem Augenkontakt Unehrlichkeit festmachen wollen. Aber das negative Feedback, das ich so pro Jahr erhalte, ist vernachlässigbar gering. Insbesondere dann, wenn die Alternative wäre, bereits nach einem halben Tag komplett überfordert zu sein.
Da ich nicht der einzige Autist bin, den Augenkontakt überfordert, drängt sich der Verdacht auf, dass Autisten aus gutem Grund auf Augenkontakt verzichten.

Die wesentliche Frage ist:
Wenn man Autisten Blickkontakt antrainiert, nutzt es dem Autisten irgendetwas, oder nimmt es ihm nicht ein Hilfsmittel, sich in Gesprächen trotz Reizfilterschwäche auf das Wesentliche zu konzentrieren und wäre ihnen nicht viel mehr damit geholfen, Werkzeuge zu erarbeiten, dass unauffälliger zu machen?

 

10 thoughts on “Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.”

  1. Leo Faltin

    Danke für diesen Beitrag, dem offenbar eine Menge sorgfältiger (Selbst-) Beobachtung vorangegangen ist!

    Ob die beschriebene Technik Autisten nützt, können wohl nur diese selbst beurteilen. An sich ist das eine durchaus bekannte Methode, dem Problem des in-die-Augen-Starrens auszuweichen, ohne dass es das Gegenüber bemerkt – wie beschrieben. Dieses Problem haben nämlich auch viele nicht-Autisten, mich mitinbegriffen. Mich verblüfft immer wieder die Fähigkeit mancher Menschen, insbesonders vieler Interview-abgehärteter Politiker und Journalisten, über fast minutenlange Passagen den Blick in die Augen des Gegenübers aufrecht zu erhalten, oft sogar ohne entlastende Lidschläge. Ich schaffe das nie.

    Aber – offenbar stört es auch niemanden! Obwohl ich selbst auch immer das Gefühl habe, den Menschen zu wenig in die Augen zu sehen (‚das gehört sich einfach‘, hat man mir immer beigebracht), hat mich noch niemand auch nur darauf aufmerksam gemacht, geschweige denn sich beklagt. Und das sollte Hoffnung geben. Vielleicht wird das ganze Problem einfach überbewertet? Vielleicht genügt es, nur oft genug immer wieder kurz zum Gegenüber zurückzukehren (wie ich es offenbar mache)? Ich schaue immer nur zu Beginn eines ans Gegenüber gerichteten Statements hin, den Rest der Zeit, und vor allem, während ich nachdenke (und ich denke eindeutig länger nach als ich dann rede) schaue ich immer wo anders hin.

    Also – mein Tipp wäre: vielleicht ist es besser, dem Thema einfach weniger Bedeutung beizumessen. Schaut wohin Ihr wollt!

    1. Benjamin Falk Post Author

      @Leo Faltin: Schaut wohin ihr wollt klappt halt nur bedingt, da das gegenüber oft das Gefühl hat man hört ihm garnicht wo, wenn man es nicht anschaut.

  2. lawgunsandfreedom

    Kommt mir sehr bekannt vor. Meine Eltern haben mir das „Schau den Leuten ins Gesicht/die Augen“ mit viel Geduld beigebracht. Ich kann aber aus der Körpersprache mehr und genauer lesen als aus den Augen.

    Ich finde Augenkontakt sehr anstrengend/irritierend und vermeide ihn, wo ich kann. Ich weiß, daß es von anderen Leuten als unhöflich/verbergend/unehrlich empfunden wird, wenn man sie nicht anschaut. Aber mir fällt es schwer und ich kann mich nicht so gut konzentrieren, wenn ich mit jemandem kommuniziere und dabei in die Augen sehe/sehen muß.

    Inzwischen blicke ich an den Augen/Gesichtern knapp vorbei, oder konzentriere meine Wahrnehmung auf etwas, was mich nicht so stark irritiert. In über 40 Jahren Übung habe ich mir das zwar antrainiert, aber es erfordert immer noch eine bewusste Anstrengung. Positiv ist das vielleicht für mein Gegenüber. Für mich allerdings weniger.

  3. Morimont

    Ich bin von der ständigen Aufforderung, ja Blickkontakt im Gespräch herzustellen, und den ungläubigen Reaktionen darauf, dass das eben nicht so einfach ist, genervt.
    Und zwar so genervt, dass ich mir irgendwann gesagt habe: egal. Die Konzentrationsleistung, die beim Versuch draufgeht, Blickkontakt zu halten oder zu simulieren, ist mir zu hoch.
    Die Entscheidung, den Blickkontakt im Zweifel einfach nicht aufzunehmen bzw. zu halten, weil ich es eben nicht kann, empfinde ich zunächst mal befreiend.
    Irritationen des NT-Gegenübers nehme ich da lieber in Kauf. Inklusion ist nun einmal keine Einbahnstraße. Die Möglichkeiten der verbalen Kommunikation sollten für eine gute Verständigung prinzipiell erstmal ausreichen. Wenn das Gegenüber zu einer Kommunikation OHNE Blickkontakt nicht in der Lage ist, dann kann es das auch äußern, am besten auch, was genau das Problem ist, damit ich es verstehe.
    Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die setzen erst an dieser Stelle ein.
    „Therapien“ in diesem Punkt sehe ich kritisch, weil sie auf eine einseitige Anpassungsleistung (im besten Fall Integration, aber eben keine Inklusion) hinauslaufen.

  4. Leo Faltin

    Ganz meine Meinung – mit der Ausnahme, dass ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst von Therapie reden würde. Es wird einfacher, wenn man von Verhalten redet, von Aktion, oder von Reaktion. Und wichtig ist eigentlich nur, was dem/der Einzelnen nützt. Um das geht’s. Das muss ja auch nicht für alle Betroffenen gleich sein.

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  6. Atari-Frosch

    Dein Artikel hat mich sehr überrascht! Mein Grund, Augenkontakt eher zu meiden, ist nämlich ein anderer. Ich bekomme gar keine Informationen daraus – von der Augenfarbe mal abgesehen. Stattdessen versuche ich dann aber unbewußt, doch noch irgendwie etwas erkennen zu können. Das Ergebnis ist allerdings dasselbe: Ich kann mich auf das eigentliche Gespräch nicht mehr konzentrieren.

    Meine Taktik ist im Prinzip dieselbe: Nasenwurzel oder Mundpartie beobachten. Ich kann zwar nicht explizit Lippen lesen, aber gerade bei Gesprächspartnern, die mir noch nicht so vertraut sind, nehme ich die Lippenbewegungen zeitweise als Unterstützung beim Verstehen her. Denn ich muß mich an jeden einzelnen wieder neu gewöhnen: Sprechweise, eventuell Dialekt, sprachliche Besonderheiten (zum Beispiel eine „heisere“ Stimme) oder manchmal sogar die Frequenz können für mich ein Hindernis sein, das Gesprochene spontan auswerten zu können. Das hat schon einige Leute irritiert und sie dachten, ich hätte was an den Ohren.

    Bei neuen Gesprächspartnern mache ich mittlerweile anfangs darauf aufmerksam, daß ich das einfach nicht kann und es nicht mit Unaufmerksamkeit gleichzusetzen ist. Ich erkläre dann kurz, daß ich im Gegenteil die Konzentration, die ich dabei verlieren würde, benötige, um aufmerksam sein zu können. Bislang ist das eigentlich immer akzeptiert worden; zumindest hat sich noch keiner beschwert. 🙂

  7. Küstennebel

    Danke für diesen Beitrag.

    Da ich ADHS betroffen bin, aber die Therapie nicht fruchtet, jedoch der „Symptom-Dschungel“ für mich immer durchsichtiger wurde, kam ich auf erhebliche Anteile ASS und wies der Zufall will, streitet das „Fachpersonal“ diese Hinweise alle ab. Jede Symptomüberschneidung mit ASS wird abgewiesen als unzutreffend.

    Dabei habe ich genau dieselben Probleme mit dem Augenkontakt wie Sie ihn hier beschreiben. Körperkontakt war auch immer ein Problem, wobei Hände geben eher noch nicht so extrem. Erst jetzt mit über 40J fing „Körperkontaktaufnahmen“ von selbst irgendwie ganz unbewußt an und hat mich selbst überrascht. Das muss man sich mal vorstellen, das man von heute auf morgen plötzlich anfängt einige Menschen in Gesprächen zu berühren … O_o

    Jedenfalls zeigt mir Ihr Post einmal mehr das ich mit meinem Eigenverdacht offensichtlich näher an der Wahrheit liege als diese „Uni-Geleerten“.

    Wenn Sie interesse hätten, beantworten Sie mir eine Frage:
    Was genau überfordert Sie an der Augenkontaktaufnahme?

    Der Informationsgehalt an sich oder der emotionale Ausdruck / Informationsgehalt?
    Kann man das überhaupt trennen?

    Besten Dank für Ihre Einsichten

  8. Lisa

    Interessant; vieles was hier beschrieben worden ist kann ich gut nachvollziehen, weil ich es von mir selbst kenne.

    Autismus habe ich aber nicht; ich bin lediglich sehr introvertiert. Dass mit dem Blickkontakt habe ich mir notgedrungen antrainiert, aber so wie es hier manche beschriebn haben trickse ich dabei. Ergänzend zu dem Tipp nicht direkt in die Augen zu schauen, sondern zu einer anderen Stelle im Gesicht, mache ich es auch so, dass ich regelmäßig ins Gesicht schaue aber dann auch wieder weg. Wegschauen vor allem für den Moment, in dem ich selbst spreche. Dann brauche ich nämlich die meiste Konzentration. Und so wie ihr es beschrieben habt, kann ich mich erheblich besser konzentrieren, wenn ich in den Raum schaue statt ins Gesicht des anderen.

    Informationen über den anderen nehme ich vor allem über dessen Inhalt des Gesagten + Stimme/Tonfall wahr und über die Körpersprache, zuletzt über die Gesichtsmimik – und ganz am Ende über die Augen (falls ich flüchtig hinschaue).

    Was ich mir erst antrainieren musste ist, selbst Gesichtsmimik zu zeigen/zu schauspielern. … Ich habe zwar auch eine authentische automatische Gesichtsmimik, aber die ist selten aktiv und oft nicht so ausdrucksstark wie die bewusst geschauspielerte Mimik. Wenn ich mich innerlich freue, sieht man mir das z.B. nach Außen hin selten an.

    Dafür nehme ich aber teilweise Stimmungen und Emotionen/Gefühle bei anderen sehr deutlich wahr. Gleiches gilt auch für Inkongruenz bei der nonverbalen Sprache im Vergleich zum Inhalt des Gesagten. Das geschieht aus einer Mischung aus Intuition und aufmerksamer Beobachtung + analyse des anderen. Mal ist es mehr intuitiv, mal mehr rational abgeleitet aus der Beobachtung.

    Ich würde mich nicht daran stören, wenn mir jemand nicht ins gesicht schaut. Aber falls ihr anderen gar nicht ins Gesicht schaut in einem Gespräch, würde ich dazu raten, dass ihr es kurz erklärt, dass ihr euch sonst nicht konzentrieren könnt und das Nichtanschauen nicht unhöflich gemeint ist.

    Viele Grüße
    Lisa

  9. maserati

    ich hatte vor einigen jahren durch wohnungswechsel auch einen wechsel meines „praktischen arztes“ vollzogen. (bin wiener, und kassenpatient).
    ich fand eine ärztin in meiner wohnungsnähe aus dem telefonbuch, die attribute „sportmedizin“ und „gesamtmedizin“ hatten mich neugierig gemacht.
    beim erstgespräch hat es mich sehr irritiert, daß sie mir nie in die augen, wohl aber sehr konzentriert auf die stirn, (genau über meine nasenwurzel) „angestarrt“ hat.
    sie hat mir danach aufgrund meiner trommelschlägelfinger und meiner uhrglasnägel ein problem mit dem lungen-herz-blutaustausch diagnostiziert, und ich hab nach ultraschalluntersuchung und herzkathether am ergonometer erfahren, daß ich ein offenes foramen ovale hab. (bin 52 j. alt, den herzfehler hab ich seit geburt, aber nie was davon bemerkt…)
    ich bin froh, daß ich weiß worauf ich im rest meines lebens aufpassen muss. … und ich bin ebenso froh, daß es ärzt/innen gibt, die mit geschultem blick auf den körper des patienten bereits diagnosen erstellen können.
    ich bin kein fan von „wunderheilern“ oder wie man sonst noch „spirituell angehauchte“ diagnostiker bezeichnet – aber wenn mir eine anerkannte praktische ärztin aufgrund eines blicks in mein „drittes auge“ (das sind jetzt meine worte, völlig unbegründet) eine (und danach auch noch mehrere) diagnosen mit absoluter treffsicherheit (ich check das natürlich alles in der uni-klinik) stellt, bin ich natürlich etwas beeindruckt.
    ich blicke ihr bei jedem kontakt gerne offensiv in die augen, aber sie blickt mir dabei meistens nur auf die stirn…

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