Überlebenspaket

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(Quelle: mit freundlicher Genehmigung von Fuchskind.de)

 

Für die Wahl meiner Jacken gibt es nach “passen” und “nicht hässlich” ein drittes Ausschlusskriterium: Stauraum.

Das war eigentlich schon immer so, ich hatte immer ein festes Repertoire an Dingen, die ich dabei hatte, was sich, außer einem hinzuadoptiertem Smartphone, nie geändert hat. Irgendwann fand ich dann diesen Cartoon und fand mich darin so sehr wieder, dass ich anfing darüber nachzudenken und mich mit anderen Autisten unterhielt. Es stellte sich heraus, dass ich gar nicht mal so allein damit war und das viele Autisten so ihre Gegenstände haben, mit denen sie so durch den Alltag kommen und die sie immer dabei haben. Was ich nun hier machen möchte ist eine kleine Sammlung von den Dingen, die ich von mir oder von Unterhaltungen mit anderen Autisten so kenne und wie sie helfen. Sie erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit und auch nicht alles was hier steht wird auch allen helfen. Vermutlich haben sogar einige der hier geschilderten Dinge das Potenzial andere wahnsinnig zu machen.  Wer also am Ende der Meinung ist, ich hätte hier etwas vergessen, was ihm wunderbar hilft und was eventuell sogar noch anderen helfen kann, darf dies gerne in den Kommentaren nachtragen.

Gehörschutz

Die Wahl des richtigen Gehörschutzes ist vermutlich eine Wissenschaft für sich. Ich konnte mit den klassischen Wachstopfen nie etwas anfangen und fand das Gefühl im Ohr eher unangenehm. Irgendwann fand ich dann Ohropax soft. Schaumstoff-Kegel, wie man sie von Bauarbeiten kennt, die sehr angenehm zu tragen waren, leider haben sie den Nachteil, dass sie hart werden, wenn sie eine Weile liegen und dementsprechend wird das bei regelmäßiger Nutzung etwas teurer. Mittlerweile bin ich zu Gehörschutz aus dem Arbeitsschutz übergegangen, was den Vorteil mit sich bringt, dass es ihn in Großpackungen zu studentenfreundlichen Preisen gibt. Mein persönlicher Favorit sind da bisher die Bilsom 303 die es bei Amazon direkt in der handlichen 200 Paar Semesterpackung gibt.

Gehörschutz bringt zwei größere Nachteile mit. Zum einen gibt es Situationen, in denen Gehörschutz, mich zumindest, mehr stört als er nutzt, da ich dann ab einem gewissen Punkt so sehr von meinem eigenen Atmen genervt bin, dass ersticken eine lohnende Alternative scheint, dazu kommt noch, dass es Situationen gibt, in denen ich mitbekommen muss was um mich passiert, um mich sicher zu fühlen. Zum anderen sind da noch die Situationen, in denen man ganz objektiv mitbekommen muss was um einen herum passiert, um sicher zu sein, wie zum Beispiel im Straßenverkehr.

Sonnenbrille

Als Brillenträger brauchte es lange, bis ich mal dazu kam, mir eine Sonnenbrille in Sehstärke zu gönnen. Interessanterweise habe ich sie grade im Winter so gut wie immer dabei. Ein gedämpftes Umgebungslicht verringert die Konzentration, die ich brauche, um durch den Alltag zu kommen, sprich ich halte mit Sonnenbrille länger durch. Ein weiterer Pluspunkt der Sonnenbrille ist, dass meine Mitmenschen nicht sehen können, wo ich grade hinschaue. Das heißt, ich muss weniger darauf achten, in ihre Richtung zu gucken, wenn ich mich mit ihnen unterhalte, damit sie das Gefühl haben, ich höre ihnen zu.
Das führt allerdings auch dazu, dass es Menschen gibt, die es im Gespräch unerträglich finden, wenn das Gegenüber eine Sonnenbrille trägt, und auch sehr drastisch genervt reagieren können, wenn man sie nicht abnimmt.

MP3-Player

Musik hat, für mich, die Fähigkeit, in stressigen oder unangenehmen Situationen einen Anker zu schaffen. Vorausgesetzt es ist Musik die ich kenne. Oft ist es so, dass meine Standard-Playlist nur leise im Hintergrund laufen muss, um der Situation etwas den Stress zu nehmen, einfach weil etwas da ist, was ich kenne, bei dem mich nichts Überraschendes erwartet. Besonders praktisch ist es, wenn das Gerät unterschiedliche Wiedergabelisten unterstützt, die auf die Situation abgestimmt sind. Ich habe da zum Beispiel unterschiedliche Wiedergabelisten, je nachdem ob ich nichts mache für das ich mich konzentrieren muss, wie zum Beispiel S-Bahn fahren, oder wenn ich mich in Situationen mit anderen Menschen um mich herum auf eine konkrete Aufgabe konzentrieren muss, wie zum Beispiel Recherche in der Uni-Bibliothek.
Eine andere Frage, über die man in diesem Kontext noch nachdenken sollte, ist die Wahl der Kopfhörer. In-Ear-Kopfhörer schotten zwar sehr gut von der Umwelt ab, schaffen aber in manchen Situationen ein unangenehmes Gefühl im Ohr. Während einfache Kopfhörerstöpsel lockerer sitzen, aber weniger gut vor den Umgebungsgeräuschen abschirmen. Eine Mischung aus beidem bieten klassische Bügelkopfhörer, die je nach Modell bequem sitzen und trotzdem sehr gut vor der Umgebung abschirmen.

Bücher

Viele Autisten, die ich kenne, sind nicht ohne irgendein Buch anzutreffen. Bei mir war dies eine ganze Weile auch so. Man hat etwas dabei, auf das man sich konzentrieren kann, die Augen sind auf etwas Beruhigendes fixiert. Auf diese Weise kann man abschalten. Allerdings haben Büchern den Nachteil, dass sie nichts überdecken, wie zum Beispiel Musik, sondern man sich selbst darauf konzentrieren muss. An der Stelle, an der das nicht mehr geht, hilft auch ein Buch nicht mehr viel.

Smartphone (All Hail to Twitter)

Das Smartphone hat es schnell nach seiner Anschaffung geschafft das Buch abzulösen. Es bietet dieselben Vorteile eines Buches, zumindest solange der Akku hält, und dazu noch einige mehr. Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass es Spiele gibt, die mich wesentlich besser ablenken können, als es ein Buch könnte. Einen weiteren Bonus bekommt das Smartphone bei mir durch die Kombination mit Twitter. Das Stöbern in den Gedanken und Ideen anderer Menschen kann den Kopf ähnlich beschäftigen wie ein Buch, es braucht aber meist weniger Konzentration, mehrere kurze Gedanken/Tweets hintereinander zu lesen, als sich auf einen Gedanken eines Buches, der gegebenenfalls über Seiten geht, zu konzentrieren. Außerdem können eigene Tweets manchmal ein nützliches Ventil sein, das verhindert, dass die unmittelbare Umwelt den Stress zu spüren bekommt.

Kaugummi & Stofftiere/Sandsäcke

Ab einem gewissen Punkt der innerlichen Anspannung kann diese Anspannung auch äußerlich werden. Es gibt Situationen, in denen der Großteil meiner Muskeln komplett angespannt ist, obwohl ich selbst grade nur dasitze, oder stehe. Dabei, das zu verhindern, kann das gezielte Anspannen von Muskeln helfen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten, je nach Vorliebe. Ich persönlich kaue dazu Kaugummi, an stressigen Tagen liegt mein Konsum da auch schon mal deutlich über einer Packung. Eine Alternative, von der ich schon häufiger hörte, ist es, in der Tasche ein kleines Stofftier, einen Knautschball oder einen Sandsack dabei zu haben und diesen zur Entspannung zusammenzudrücken.

13 thoughts on “Überlebenspaket”

  1. Ina

    hmm Ich habe selbst Asperger, mir hat sowas nie geholfen. „Tief durchatmen, weitermachen“ allerdings schom. Ich bin auch alles andere als sentimental oder scheu.

  2. Leondriel

    Sonnenbrille… dass ich da noch nicht selber drauf gekommen bin… danke für den Tip! 🙂

    Mein Standard-Equipment ist etwas kleiner da ich MP3-Player, Ohrstöpsel und Sandsack mit dem Smartphone abdecke (Musik muss laut sein, und mit einem Flip-Cover kann man wunderbar rumspielen)
    Dass ich bei jeder Gelegenheit aber das Handy zücke und täglich ein anderes Spiel drauf hab hat mir schnell den Spitznamen „Elender Zocker“ eingebracht… aber damit lässts sich gut leben 😉

  3. Ginome

    Mein Kleingeld ist niemals lose – immer im Portemonnaie.
    Skizzenblock habe ich nicht dabei – ihc bin kein Zeichner, aber dafür immer meinen Nintendo DS.
    Und ein Stofftier, als Schlüsselanhänger getarnt. Kaugummi hasse ich, dafür habe ich Fruchttictac dabei xD
    Handy und MP3-Player habe ich kombiniert, da Smartphone.
    Der Rest ist erschreckenderweise identisch xD
    Falls die Frage jetzt aufkommt: Ich bin autistisch.

  4. shia

    Auch als Borderlinerin kann ich das alles mehr als nachvollziehen. Bei uns heisst das dann Notfallkoffer.
    Der beinhaltet: Riechampullen, Knautschball, saure Brause, PEZ.. und ein paar Neuroleptika :/
    Dazu gehört der obligatorische all-in-one Rucksack, gefüllt mit Smartphone, Netbook, PSP, Notizblock, Buch, diversen Haarbändigern und dem Brillenetui. Ich werde zwar immer beliebäugelt, wohin ich damit verreisen will.. wayne.
    Tja, wir sind wohl gar nicht so verschieden 🙂 Den Trick mit dem Gehörschutz muss ich aber mal ausprobieren!

    1. h4wkey3 Post Author

      Viele der einzelnen Symptome, die das Autismus-Spektrum so mit sich bringt tauchen auch bei anderen Diagnosen auf. Dies ist wohl auch einer der Gründe dafür dass viele Menschen einen recht großen Katalog an Diagnosen haben, bevor es zur Autismus-Diagnose kam. Es passiert häufig dass Menschen mit anderen Störungen sich in Schilderungen einzelner Symptome wiederfinden.
      Dies birgt nur oft die Gefahr, dass Menschen dann pauschal eine große Ähnlichkeit annehmen, obwohl es nur vereinzelte Überschneidungen gibt. Oftmals haben gleiche oder ähnliche Verhaltensweisen auch unterschiedliche Ursachen.
      Auch hier gilt, dass das hier beschriebene Verhalten nur ein Symptom von vielen ist, dass auch nicht alle Autisten zeigen, wie man auch am Kommentar von Ina sieht.

  5. Herzchaosmama

    Sonnennbrille, Ohropax, Halstuch, ein Handschmeichler aus Holz und Taschentücher zum kneten habe ich immer dabei. Ich habe ebenso festgestellt, dass Tweets lesen (beispielsweise in der Bahn) einfacher ist als ein Buch zu lesen. So gehört es zu meiner morgendlichen 40minütigen Fahrt dazu die TL der Nacht nachzulesen.
    Musik ist schwieriger, manchmal hilft es, manchmal ist es ein weiterer Reiz, der dann nicht aushaltbar ist.

  6. Thygrrr

    Gehörschutztipp: Elacin oder Egger ER, z.b. http://www.egger-gehoerschutz.com … man merkt manchmal nicht, dass man ihn trägt (so klar ist der Klang, und das bei starker dämpfung), und gespräche werden besonders klar wiedergegeben weil das Spektrum an dieser Stelle etwas schwächer gedämpft wird.

  7. Cyrus McDugan

    Ich kenne das Problem auch. Gerade die Hörschutzstopfen sind nachteilig, weil ich einen lauten Tinnitus habe. Meine Lösung war ein Umbau der In-Ear Kopfhörer zu Ear Monitors. Dazu ging ich zu einem Hörgeräteakustiker, der Abdrücke meiner Ohren nahm und diese zusammen mit dem Ohrhörer ins ‚Labor‘ schickte. Das Ergebnis waren maßgeschneiderte Ohrhörer. Das Fremdkörpergefühl gibt es dabei nicht, und man muss die Musik auch nicht so laut aufdrehen, um seine Umwelt ausblenden zu können. Der Spaß kostet allerdings: ich musste für Ohrhörer von Sennheiser und den Umbau zusammen 240 EUR bezahlen.

  8. Splitterraum

    H4wkey gelingt es immer wieder, vermittelnden Text sehr verständlich und angenehm lesbar zu schreiben. Wenn Fuchskind hier dazu zeichnet, ist dies ein tolles Highlight! Daher ist dieser Beitrag aus meiner Sicht außerordentlich gut gelungen. 

    Ich lerne durch Beiträge wie diesen Wichtiges über Autismus / Asperger auf eine leichtere Art als sonst. So oft geht es in Texten (und auch das ist wichtig und gut) um die vielen schmerzlichen Niederlagen und Einschränkungen, die Autismus für die Betroffenen mit sich bringt.

    Hier aber werden fokussiert und ohne Drama gleich zwei nützliche Ziele erreicht. Zum Ersten das Verständnis über notwendige Alltagshilfen und deren Beurteilung auch durch die Kommentierenden, und zum Zweiten die Anregung zum weiteren Austausch zwischen allen Lesern und Kommentierenden – egal ob NT oder AUT.

    Das ist gut, sogar sehr gut. 
    Weil es Spaß macht.

    Splitterraum

  9. enthropia

    schöner artikel, in meiner handtasche siehts ähnlich aus. dazu kommt noch spielzeug der saison (seifenblasen, häkelzeug) statt einem knautschball und ein terminkalender aus papier. der vorteil davon ist, dass man auch mal ne seite rausreissen kann. beim gehörschutz bin ich übrigens nach einigem rumprobieren bei musicsafe gelandet. da kommt trotz stöpsel noch luft ins ohr, was für mich eine längere tragedauer wesentlich erleichtert, die dämpfung ist ziemlich linear und bei den kleinen filtern kann man sich tatsächlich sogar auf einem konzert noch unterhalten.
    auch noch drin: diverse schmerzmittel, labello, taschentücher und ein klitzekleines klappmesser mit schere und pinzette.

  10. brln

    Ein Freund, der eine Freundin zu Besuch aus den USA hatte, zeigt auf meine Handtasche und meinte zu ihr: „This is brln. She always has everything with her.“

    Ohrstöpsel habe ich nicht dabei, da ich das Gefühl nicht in meinen Ohren mag. Dafür ist natürlich zu 95% mein mp3-Gerät dabei. Ebenfalls mit mir herum trage ich Desinfektionsmittel, was ich zwar selten benutze, aber in den entscheidenden Momenten immer sehr glücklich war, es bei mir zu wissen. Nasenspray, Notizbuch, Handy, Handcreme und Brillenputztuch sind ebenfalls immer mit dabei. Und ganz wichtig: Mein Photoapparat um die Absurditäten des Alltages besser dokumentieren zu können.

  11. Yewa

    Mein Gehörschutz ist entweder mein mp3-Player/Smartphone oder Otoplastiken – individuell angepaßter Gehörschutz. Mit letzterem ist zwar noch alles vorhanden, aber nicht mehr präsent.
    Ein Buch ist immer dabei, außerdem ein selbst gebastelter Knautschball. Pfefferminz/Kaugummi, wenn ich mich selbst nicht schmecken nach. Asthmaspray, verschiedene Lippenstifte, Vaseline (als Lippenpflege), Handcreme, Wundschutzcreme…

    Ich bin bipolar II.
    Die Ähnlichkeit ist da.

    Wir sind nicht „verrückt“. Die, die normal genannt werden, sind daneben. (Meine innerste Überzeugung)

  12. wusel

    Ich trage nie Hosen ohne Taschen, wenn ich unterwegs bin. Da drin ist dann die „kleine Ausstattung“, also Portemonnaie, Autopapiere (bei Bedarf), Telefon, Schlüssel, Kopfhörer (Stöpsel).

    Wenn es kalt genug ist, dass ich eine Jacke tragen kann, nehme ich die „große Ausstattung“ mit. Die beinhaltet dann zusätzlich noch ein Buch (oder eBook), Essbares, kleines Werkzeug, Taschenlampe, ggf. GPS, Supermarktbrille* und weitere Kleinteile.

    Die Gesamtausstattung habe ich bei mir, wenn ich den Rucksack mitnehme, da ist dann noch Rechner, Netzteil, Papierkalender, weiteres Lesematerial, Zahnbürste (zum reinigen von mechanischen Kleinteilen oder Elektronik), die kleine Werkzeugtasche, diverse Adapter (für Rechner und Telefon), Powerbank für´s Telefon und eBook, Handfunkgerät, Kugelschreiber, Heftpflaster, ein Getränk und Kleinteile drin.

    Die Inhalte wechseln auch nur sehr selten, werden höchstens gegen aktuellere Versionen ausgetauscht. Das Ergebnis ist, dass ich für fast alle Eventualitäten gewappnet bin. Ich kann notfalls (so Material vorhanden ist) Glasscheiben an Smartphones oder Tablets austauschen, viele Geräte zerlegen und reparieren, Dokumentation für fast alle elektrischen und elektronischen Geräte in meinem erweiterten Bekanntenkreis bereitstellen und mich gegen fast alle äußeren Einflüsse abschotten. Ja, ich weiß. Man sagt mir nach, ich wäre ein Freak. 😉

    *Supermarktbrille: Eine Sonnenbrille, die nicht 85% Tönung aufweist, wie normale Sonnenbrillen, sondern nur 50%. Das hat den Vorteil, dass ich noch was sehe, aber das grelle Licht und die Farben ausreichend gedämpft werden. Notfalls nehme ich aber auch die Sonnenbrille aus dem Auto.

    Wenn ich zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, hab ich praktisch immer den Rucksack dabei. Da passen dann auch noch Einkäufe oder andere wichtige Dinge rein.

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