Zu Inselbegabungen

Um Autismus ranken sich viele Mythen. So viele, dass ich manchmal den Eindruck habe, ich könnte genauso gut über das Bernsteinzimmer bloggen. Einige Mythen halten sich da hartnäckiger als andere. Einige Mythen kennt so gut wie jeder. Einer der wohl am weitesten verbreiteten als auch harnäckigsten Mythen ist wohl, dass Autisten inselbegabt und Genies seien. Ich antwortete mal auf die Frage, was denn meine Inselbegabung sei: "Ich schaffe es, bei solchen Fragen nicht auszurasten." Ich denke, ich brauche die Verwirrung, für die ich mit dieser Antwort sorgte, nicht näher auszuführen.

Dass dieser Mythos sich so hartnäckig hält, ist im Grunde nicht verwunderlich. Querdenkender hatte in einem anderen Blogpost mal herumgerechnet wie viele Savants es denn so im Verhältnis zu Autisten gibt. Lediglich 0.00021%* aller Autisten sind, bei der sehr vorsichtiger Rechnung von Querdenkender, Savants.

NIchtsdestotrotz ist das Erste, das man hört, wenn wieder irgendwer mit viel Aufwand über eine Stadt geflogen wurde, die er dann malen muss, er ist Autist. Je nach Qualität der Produktion werden dann noch ein paar Filmausschnitte aus Rain Man gezeigt. Dann folgen ein paar allgemeine Infos von Genies, die nicht in der Lage sind, eigenständig zu leben, aber das Telefonbuch von Unteroberwupperfürth von 1976 auswendig aufsagen können, weil sie es letzten Mittwoch mal eben unter der Dusche lasen.
Ich mache es Menschen nicht zum Vorwurf, dass sie da beim Wort Autismus direkt an diese coolen Berühmtheiten denken. Bloß hat das hier Beschriebene nicht zwingend etwas mit Autismus zu tun. Es gibt nur wenige Menschen mit dieser Form des Savant-Syndroms. Autisten gibt es ein paar mehr. Rein rechnerisch befinden sich wahrscheinlich in meiner Geburtsstadt mehr Autisten als Savants auf der Welt leben.
Die Menschen, die diesem Irrglauben aufgesessen sind, treffe ich in letzter Zeit zunehmend weniger.

Das Asperger-Syndrom hat so seine eigene Art, für die Frage zu sorgen, welche Inselbegabung man denn habe. Es gibt sogenannte Spezialinteressen. Diese sind typisch für Asperger. Doch Vorsicht, nur weil etwas typisch ist, heißt das noch lange nicht, dass man kein Autist ist, wenn man es nicht hat. Man bekommt das Spezialinteresse keineswegs mit der Diagnose zugewiesen. Sollten Sie also jemals auf die Idee kommen, jemandem zu erklären, er sei kein Autist, wenn er kein Spezialinteresse habe, und als Spezialinteresse gehe auch nur sowas wie Mathe oder was mit Computern, so treten Sie sich bitte selbst vors Schienbein. (Oder fragen sie mich, ich helfe Ihnen da wirklich gerne.)

Es ist wichtig, zwischen Inselbegabung und Spezialinteresse zu unterscheiden. Allein der Unterschied zwischen Begabung und Interesse ist da sehr zielführend. Begabungen sind gegeben, Interessen können sich entwickeln, auf diese Interessen können wir Einfluss nehmen. Aber nur weil jemand Interesse am Klavierspielen hat, heißt das noch lange nicht, dass dieser jemand auch die Begabung hat. Genau wie umgekehrt jemand noch so begabt am Klavier sein kann, aber einfach kein Interesse daran hat.
Dazu kommt, dass bei Savants oftmals noch eine geistige Beeinträchtigung vorliegt und diese außergewöhnlichen Leistungen nur in diesem eng eingeschränkten Bereich vorliegen.
Bei Spezialinteressen ist das ein wenig anders, hier ist die Beschränkung rein durch das Interesse vorgegeben. Autisten können sich mit ihrem Spezialinteresse ohne weiteres stundenlang intensiv beschäftigen, und das über Tage, Wochen und Monate. Dadurch kommt oftmals ein beeindruckender und immenser Wissensschatz zusammen, den sich viele Nicht-Autisten nur schwer in vergleichbarer Weise aneignen könnten.

Vielleicht ist es durchaus verständlich, dass Menschen die gerade ungefragt einen dreistündigen Vortrag über die Fortpflanzungsart der nepalesischen TseTse-Fliege gehört haben, das sei eine Inselbegabung. Doch mit größerer Wahrscheinlichkeit ist es einfach nur das Ergebnis langer, ausdauernder und intensiver Beschäftigung mit diesem Thema.

Ich habe übrigens kein Spezialinteresse, auch wenn ich als Kind eines hatte. Aber es ist genau so möglich, dass ich in der nächsten Woche etwas über ein abgefahrenes Protokoll zur Fernsteuerung von Kaffeemaschinen lese und mich auf Anhieb darin verliebe. Spezialinteressen müssen nicht immer was Fixes sein. Sie können über die Jahre verschwinden, wechseln oder neu entstehen.

*Rechenfehler vorbehalten

10 thoughts on “Zu Inselbegabungen”

  1. taettanuss

    Jaaa…
    Dass das falsche Thema arg im Umlauf ist, ist auch mir durchaus bekannt.
    Um das Pferd mal von hinten aufzuzäumen:
    Höchstens 40% aller Inselbegabten sind Autisten
    und höchstens vier bis sechs Prozent der werten Menschheit sind Inselbegabten…
    Das ist so die Statistik, die ich kenne…

  2. Kiefner Sabine

    Und es sind immer wieder die Medien, die diesen Mythos in ihren Beiträgen zum Thema Autismus vermitteln bzw. hartnäckig daran festhalten und auf diese Weise in der Öffentlichkeit ein falsches Bild von AutistInnen verbreiten, welches sich nur schwer korrigieren lässt.

  3. Pingback: Zur Sendung Domian 24.11.2011 | dasfotobus

  4. Pingback: Kein Rain Man › Leidmedien.de - Über Menschen mit Behinderung berichten.

  5. Johannes Drischel

    Inhaltlich stimme ich voll zu. Autist zu sein bedeutet vor allem, dass „Alltag“ in der allgemein üblichen Dosierung oftmal mit großer Anstrengung absolviert wird. Anpassungsleistung, die nicht verautomatisiert geschieht, ist eben bewußt erzeugte Leistung.
    Daher sind Autisten auch vermehrt von Burnout, von Migräne (ein NT-Wort für Overload) und Verbitterung und unterschwelliger Aggression und Zynismus bedroht. Letzteres kommt auch in Ihrem Beitrag zum Vorschein. Es entsteht eine harte Sprache und es werden Gewaltmetaphern verwendet. (vors Schienbein treten)
    Autisten haben oftmals je länger je deutlicher ein „Schmerz“-problem. Kontakt tut weh.
    Mit diesen Kontaktschmerzen klar zu kommen ist ein viel wichtigeres Thema, als die leidige Diskussion über mögliche, seltene, oft skurrile, u.U. nicht verlässlich abrufbare „Begabungen“. Und selbst, wenn diese Begabung vorhanden ist, und selbst wenn diese Begabung dazu führt, hohe Stundensätze bei Kunden abrechnen zu können, bleibt doch dieser Überforderungsschmerz und die drohende gesellschaftsbedingte Übertaktung der Lebensrhythmen. – Andererseits denke ich aber auch, dass die dunkle Seite das Autismus auch nicht ungefiltert in die Presse gebracht werden sollte. Die NTs kochen auch nur mit Wasser, schreiben das jedoch nicht auf jede Speisekarte. Hätte Peter Schmitt unbedingt über den Sex mit seiner Frau schreiben sollen? Was macht nun seine schulpflichtige Tochter, wenn sie danach gefragt wird? Ich finde, man sollte über Autismus sprechen. Man sollte NTs gestatten, auf die Innenseite des Autismus zu schauen. Aber man sollte den nötigen Schutz der Beteiligten nicht vergessen. – Ein paar Legenden schaden nichts. SAP wird noch früh genug bemerkten, dass Ihre Softwaretester überwiegend ein Migräneproblem haben und dann die Verleiher nicht so viel an Ihren Autisten verdienen, wie sie sich ausgerechnet hatten. Aber am Ende wird es ein paar Autisten mehr im Berufsleben geben, als zuvor und das ist eine positive Entwicklung. Es wird sich irgendwo zwischen Daniel Tammet und Schulamokläufen einpendeln. Und es ist begrüßenswert, dass zur Zeit beide Extreme und vieles von dem dazwischen in die Medien und in die vielen qualitativ hochwertigen Blogs kommt. Weiter so! und viele Grüße.

  6. Stephan Fleischhauer

    Inselbegabung bedeutet noch nicht Savant-Syndrom. Das unterscheidest du leider nicht. Es gibt zwar wenige Savants, aber Inselbegabungen (z.B. Mathe-Begabung oder auch müheloses Fahrpläne-Auswendiglernen) kommen durchaus häufiger vor, auch wenn sie keine notwendige Bedingung für Austismus sind.

    Worin liegt das Problem, wenn dieser Städtezeichner als Autist bezeichnet wird? Ist das falsch? Würdest du Autismus hier ausschließen?

    1. Benjamin Falk Post Author

      @Stephan Fleischhauer: Im Grunde geht es mir um genau das, was du sagst mit „auch wenn sie keine notwendige Bedingung für Autismus sind.“
      Das Problem ist nicht, ob dieser Mann nun Autist ist, das könnte niemand auf Grundlage eines Fernsehbeitrags zu oder absprechen. Wenn im Beitrag gesagt wird, dass er Autist ist wird das wohl schon stimmen. Das Problem ist, dass die offensichtlich auf das Savant-Syndrom zurückzuführenden Eigenschaften hier mit Autismus erklärt werden und das alles in einen Topf geworfen wird obwohl das zwei unterschiedliche Dinge sind, die eben genau wie du sagst zwar häufiger gemeinsam vorkommen, aber eben nicht zwingend eins sind.

  7. Sonja Menhard

    Hallo
    Ich hab Mal eine Frage: du schreibst, ein Autist muss kein spezialinteresse haben. Soweit ich informiert bin gilt, das aber nur wenn dafür ein andrer Punkt gegeben ist, nämlich eine sprachverzögerung als Kleinkind. Dann ist das atypischer Autismus. Ein Asperger hatte nie eine sprachverzögerung. Stimmt das so? Weil ich hab sehr früh super sprechen können und hatte als Kind ein spezialinteresse und eigentlich immer ausgeprägte Interessen. Aber ich halte sie nicht für in Dauer und Ausprägung krass genug. Jeder hat doch Steckenpferde. Bei mir wechseln die auch… Da ich drei Kinder habe kann ich den Interessen eh nicht extrem nachgehen … Ich hielt mich bisher für schizoid aber bin echt nicht sicher. Es ist alles so ähnlich. … Vielleicht kann jemand mich ein bisschen aufklären?!! GLG
    Sonja

    1. Benjamin Falk Post Author

      Hallo Sonja,
      ich versuche mal ein bisschen auszuführen:
      Zunächst mal sind Asperger-Syndrom/Asperger-Autismus, Frühkindlicher Autismus und Atypischer Autismus alles Formen von Autismus. (Zum Autismus-Spektrum schreibe ich hier) Es ist richtig, dass sich Frühkindlicher Autismus und Asperger im wesentlichen durch den Zeitpunkt der ersten Symptome, beziehungsweise des Spracherwerbs unterscheiden. Diese Unterscheidung wird in Zukunft für neu gestellte Diagnosen allerdings ohnehin aufgehoben.
      Die Frage ob und in welchem Umfang Spezialinteressen vorliegen oder nicht ist für die Unterteilung zwischen den unterschiedlichen Arten von Autismus nicht relevant. Weder atypische Autisten, frühkindliche Autisten, noch Asperger-Autisten müssen zwingend ein Spezialinteresse haben um die Diagnose gestellt zu bekommen.

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