Meriadoc – Autismus ist keine große Sache, glaub ich.

Autismus ist keine große Sache, glaub ich.
Ich weiß es aber nicht genau, weil ich nicht weiß, wie es sich anfühlt, nicht autistisch zu sein.
Ich lebe als Autist, und Leben, das ist eine große Sache.

Ganz selten stoße ich auf ein Sprichwort, das ich noch nicht kenne. Im Lesen von Gesichtsausdrücken bin ich total gut. Weil solche Dinge für mich nicht zum Hintergrundrauschen werden, sondern meiner bewussten Aufmerksamkeit bedürfen, bin ich manchmal schneller und präziser im Auswerten sozialer Interaktion als meine Freunde. Sie schätzen an mir, dass ich oft auf Aspekte hinweise, die sie selbst übersehen hätten. In Beziehungen die mir wichtig sind, gehe ich besonders sorgfältig mit emotionalen Inhalten um.
Mein Langzeitgedächtnis ist sehr gut. Ich kann auf ein großes Repertoire von erprobten Standardsituationen zurückgreifen, und so die meisten zwischenmenschlichen Begegnungen angemessen absolvieren.
Allerdings bin ich perfektionistisch und leicht zu verunsichern. Fehlt mir ein vertrautes Handlungsmuster, oder das gewählte scheint schlecht zu funktionieren, werde ich hektisch und angespannt, was mich zu einem anstrengenden Zeitgenossen werden lassen kann. Eine Irritation die andere schnell wieder abschütteln, verfolgt mich noch lange. Ich wirke dann sicher nachtragend oder ablehnend. In einer solchen Lage gelingt es mir nur schwer, zu einem ruhigen und konstruktiven Verhalten zurück zu finden, und die Situation zu meiner Zufriedenheit zu bestehen.

Eines der häufigen Vorurteile über Autismus, eine verbreitete Fehlinformation, ist zu meinem Erstaunen, Autisten hätten keine Emotionen.

Also: Ich habe welche!

Lästig ist mir daran, dass ich nie „ein bisschen“ traurig, fröhlich oder wütend bin. Mich kann ein Anlass, der anderen geringfügig erscheint, im Positiven wie im Negativen völlig aus der Bahn werfen.
Solche überflutenden emotionalen Ereignisse sind mir ganz schön peinlich. Es kostet mich dann viel Energie, mich zu regulieren.
In einigen Dingen des täglichen Lebens habe ich durch gezieltes Training heute überhaupt keine Einschränkungen mehr. Bei anderen Aufgabenstellungen erziele ich brauchbare Ergebnisse, wenn ich mich anstrenge, aber es ist immer etwas, als hätte ich mir fies in den rechten Daumen geschnitten, und würde mich jetzt mit der linken Hand um Schönschrift bemühen.

Es gibt auch Unternehmungen die mir einfach nicht gelingen.
Wichtiger als beständig Scheitern und Bestehen gegeneinander auszuwerten, ist es für mich geworden, dass ich mich gut einschätzen kann und weiß, was gut funktioniert, oder mir eher schwer fällt.
So kann ich mich meinen Fähigkeiten entsprechend in meinem Leben einrichten.
Autismus hat also einen Einfluss auf einen Teil meiner individuellen Stärken und Schwächen.
Was Autismus für mich ist? Selbstverständlich! Mir fehlt ein Vergleich. Aber wenn es möglich wäre, für einige Wochen als Abenteuerurlaub neurotypisch zu sein, wäre ich dabei. Nicht um zu tauschen! Aber aus Neugier, weil ich einfach gerne Neues erlebe und erfahre.

Manchmal läuft was schief, und ich weiß es lag am Autismus. Aber dann kann ich auch wieder Geschwindigkeit aufnehmen oder sogar überholen, durch einen autistischen Joker. Durch mein gutes Gedächtnis zum Beispiel. Am besten gefällt mir, dass ich durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Autismus viel mehr über Menschen und ihr Verhalten in Gruppen gelernt habe, als ich es sonst hätte. Ich interessiere mich sehr dafür. Die Funktionsweise des Gehirns, dessen Auswirkung auf das Individuum und das Wirken des Individuums in einer Gruppe ist quasi mein Spezialinteresse geworden.


Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Mein Autismus“.

Alle Beiträge dieser Reihe kannst du hier nachlesen. Nähere Informationen zu dieser Reihe und dazu wie du dich beteiligen kannst findest du in diesem Artikel.

One thought on “Meriadoc – Autismus ist keine große Sache, glaub ich.”

  1. A.L.

    Autistischer Joker – schöner Ausdruck. Muss ich mir merken.

    Toller Artikel. Danke schön.

Comments are closed.